Читать книгу Durch die Raumakustik muss ein Ruck gehen - Gerhard Ochsenfeld - Страница 19
ОглавлениеSabine‘s Kritik an der Ästhetik
Ich nehme es vorweg und gebe es gleich selbst zu:
Den kundigen Leser habe ich gerade gefoppt. Denn mit „Sabine“ verbindet, wer mit Raumakustik zu tun hat, Wallace Clement Sabine.
Kurz für alle, die mit Raumakustik bisher zumindest so wenig zu tun hatten, dass sie den Herrn noch nicht kennengelernt haben:
Die Chancen standen ohnehin nicht einmal gut, heute wenigstens jemanden anzutreffen, der Wallace C. Sabine persönlich gekannt haben könnte. Am 13. Juni 1868 geboren, verstarb er am 10. Januar 1919 – und deutlich – verfrüht.
Ich zitiere mal ganz ungeniert aus ‚www.britannica.com‘, dort aus der Kurzbiografie zu Wallace C. Sabine:
„Nach seinem Abschluss 1886 an der Ohio State University nahm Sabine seine wissenschaftliche Arbeit an der Harvard University auf, wo er später die Fakultät übernahm. Als brillanter Forscher liebte er die Lehre, aber machte sich nie die Mühe zu promovieren; seine Publikationen waren bescheiden an der Zahl, aber inhaltlich herausragend.
Als Harvard 1895 das Fogg Art Museum eröffnete, zeigte das Auditorium schwerwiegende akustische Mängel aufgrund des übermäßigen Nachhalls. Man zog Sabine hinzu, ein Heilmittel zu finden. Seine Entdeckung, dass das Produkt der Nachhallzeit, multipliziert mit der absoluten Absorption in einem Raum proportional zum Volumen des Raumes ist, ist bekannt als das ‚Sabine‘sche Gesetz‘ […].
Das erste Gebäude, das in Übereinstimmung mit den Grundsätzen von Sabine gestaltet wurde, war die Boston Symphony Hall, die 1900 eröffnet wurde und akustisch einen großen Erfolg bewiesen hat.“
(in eigener Übersetzung entnommen von: https://www.britannica.com/biography/Wallace-Clement-Ware-Sabine)
Es liegt mir fern, Herrn Sabine diesen Erfolg streitig zu machen. Aber Sabine selbst soll darauf hingewiesen haben, dass das von ihm entdeckte Prinzip auch Mängel aufweise. Wie weitreichend er sich solchen eigenen Zweifeln gewidmet haben mochte, vermag ich nicht zu sagen. – Nein, ich habe Sabine‘s Niederschriften nicht lückenlos gelesen. Aber auf einige Details, auf Hinweise und Zweifel, die W. C. Sabine schriftlich festgehalten hatte, gehe ich später und an anderer Stelle dennoch etwas genauer ein, die nämlich meines Erachtens sehr interessant und sehr bedeutsam sind.
Erste aussagekräftige Einblicke in Sabine‘s Leben und Wirken bietet – in guter Kürze – die „American Physical Society“: mit einem Beitrag in den „APS-News“ vom Januar 2011 (Volume 20, Number 1) – anlässlich des Todestages von Wallace C. Sabine.
Der Autor Alan Chodos bezieht sich dabei umfangreicher auf die „Collected Papers on Acoustics“, die erstmalig 1922, also drei Jahre nach Sabine‘s Tod, veröffentlicht worden waren.
Ich hoffe, dass ich nun also auch Leser von Fach- und Sachkenntnis nicht langweile:
„[…] hat Sabine einige Jahre darauf verwendet, die akustischen Verhältnisse im Hörsaal des Museums und die des Sanders Theaters zu studieren – letzteres weithin als akustisch hervorragend angesehen – um herauszufinden, was die Unterschiede in der akustischen Qualität zwischen beiden verursacht. Insbesondere versuchte er eine objektive Formel, einen Standard herauszufinden, um die Gestaltung von Aufführungs- und Vortragssälen akustisch messen und einschätzen zu können.
Das war keine leichte Aufgabe, da so viele unbekannte Einflüsse berücksichtigt werden mussten. Sabine und seine Assistenten testeten die Räume immer wieder unter verschiedenen Bedingungen, trugen das Material von hier nach dort und wieder zurück zwischen den beiden Hallen [eig. Anm.: sie sind tatsächlich nur einige Fußminuten voneinander entfernt] und machten gewissenhafte Messungen – nur mit einer Orgelpfeife und einer Stoppuhr. Er maß, wie lange es bei unterschiedlichen Frequenzen dauerte, bis der Ton nicht mehr hörbar war – unter den verschiedensten Bedingungen: mit und ohne Orientteppiche, Sitzkissen, abwechselnden Anzahlen von Menschen als Besucher, und so fort. So fand er etwa heraus, dass ein durchschnittlicher menschlicher Körper den Nachhall so stark reduzierte wie sechs Sitzkissen.“
(https://www.aps.org/publications/apsnews/201101/physicshistory.cfm) – [in eigener Übersetzung]
Es steht dort auch zu lesen, was ich hier nun – zum Zwecke der Hervorhebung – im Anschluss zitiere:
„Sabine hatte keinerlei besondere Sachkenntnis in Akustik – er hatte auch nicht promoviert, obgleich er ein herausragender Lehrer und Forscher war – aber er stellte sich beharrlich auch dieser Herausforderung, wie er es mit jeder anderen physikalischen Fragestellung getan hätte.
Er ging das in der Weise an, dass er sich den Schall in Räumen als diffusen Energiekörper vorstellte – statt den im 19. Jahrhundert üblichen geometrischen Ansatz zu übernehmen, der dazu führte, dass man die Ausbreitung der Schallwellen lenkte. Sabine fokussierte seine Untersuchungen auf die Schall absorbierenden Eigenschaften unterschiedlicher Materialien und Gegenstände und deren jeweiligen Einfluss auf die Nachhallzeiten.“
(ebenda) [in eigener Übersetzung]
Was mag Sabine motiviert haben, mit den Traditionen zu brechen und einen gänzlich neuen Ansatz zu verfolgen?
„Komponisten waren sich der Wichtigkeit der Akustik stets bewusst, die durch einen für die jeweilige Aufführung bestimmten Raum vorgegeben war. Zum Beispiel kommt Gregorianischer Gesang in mittelalterlichen Kirchen bestens zur Geltung; dasselbe gilt für Orgelmusik, wie etwa Bach‘s ‚Toccata und Fuge in D-Moll‘. Ganz im Gegensatz dazu komponierten Mozart und Haydn Musik, die in reich möblierten Kammern, somit auch vor kleinerer, intimerer Hörerschaft gespielt wurde. Solche Stücke verlieren ihre Klarheit, wenn sie in großen, halligen Räumen aufgeführt werden.“
(ebenda) [in eigener Übersetzung]
Sabine war also – zu allem Überfluss – auch noch konfrontiert mit einem ganz neuartigen Unterhaltungskonzept: Plötzlich wurde die kleine Kammermusik vor großem Publikum aufgeführt.
Sabine war auf ein weiteres Problem in seinen Niederschriften nicht eingegangen: Nämlich, dass er zwei Säle miteinander verglich, die nur auf den ersten Blick recht ähnlich sind – auf den zweiten Blick aber durch deutlich unterschiedliche Grundvorgaben gekennzeichnet sind.
Auch ging Sabine nicht ganz unvoreingenommen an die Erforschung der Säle heran und unterschied – zumindest tendenziell – zwischen der Nutzung eines Raumes für Musik oder für Sprache. Möglich, dass er damit früh einem Missverständnis den Boden bereitet hat, das zwar schon in den 30er Jahren erkannt wurde, sich aber letztlich noch heute als beherrschend zeigt, nicht nur in einer DIN 18041.
Bis in die Gegenwart hinein hat man sich diesem Problem – so möchte ich es einmal salopp ausdrücken – mit dem „sakralen Ansatz“ gestellt: Man empfiehlt überwiegend einfach mehr Nachhall für Musikaufführungen, als für Sprachdarbietungen… dann passt das schon. Aber hatte Sabine das auch so beabsichtigt?
Es gibt schon beim groben Hinschauen so viele Hinweise darauf, dass Sabine einfach nicht fertig geworden war. Sein vorzeitiger und nachgerade überstürzter Tod ist darunter noch der schlechteste Beleg:
„Die Belastungen all seiner Aktivitäten während des Ersten Weltkriegs forderten, wie auch immer, ihren Tribut von seiner ohnehin angeschlagenen Gesund heit, als er am 10. Januar 1919 an Komplikationen verstarb, die mit der Behandlung einer Nierenentzündung einhergingen […].“
(ebenda) [in eigener Übersetzung]
Nun entsteht mit diesem verkürzten Beitrag in den APS-News leicht der Eindruck, Sabine habe all seine Erkenntnisse nur auf zwei Säle gestützt. Dem ist nicht so. Sabine hat viel und in vielen unterschiedlichen Räumen gemessen.
Dennoch wundere ich mich, dass man heute – hundert Jahre später – noch immer so sorglos auf eine an sich noch ganz und gar unvollständige wissenschaftliche Erarbeitung eines allgemeingültigen Schemas dogmatisch zurückgreift – und es durch wenige, aber mit umso größerer Wucht verteidigt wird wie ein Heiligtum.
Ich bezweifle, dass Wallace C. Sabine das gewollte hätte. Und ich halte es für voreilig, im Rahmen all dieser Umstände aus dem Erfolg, der sich in einer bestimmten Formel ausdrückt, zu schließen, dass diese Formel Sabine‘s Weisheit letzter Schluss gewesen sei. Hatte er denn – wenn man alle Umstände angemessen würdigt – schon einen Schluss gezogen, der die Grundlage für eine Theorie bieten konnte?
Wenn es im ausklingenden 19. Jahrhundert ein so neuer Ansatz war, der Absorption überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken, dann erscheint es recht plausibel, dass Sabine sich fortan erst einmal ganz konzentriert den absorbierenden Eigenschaften von Materialien und Gegenständen widmete. Und dass er fasziniert und staunend entdeckte, was man mit Absorption machen kann – oder welche Probleme einhergehen.
Dass man rund ein Jahrzehnt später – und mathematisch hergeleitet – das Sabine‘sche Gesetz hat bestätigen können, belegt noch nicht, dass nun alle notwendigen Einflussgrößen der akustischen Praxis hinreichend berücksichtigt waren.
Es wäre unangemessen, Wallace C. Sabine anzulasten, dass aus seiner Formel für die Absorption von Schall in Räumen ein einhundert Jahre währendes Dogma wurde.
Aber das soll mir nun auch Überleitung sein von „dem“ Sabine zu „der“ Sabine:
Als ich bemerkte, dass die Website von Sabine Hossenfelder im Reiter des Browsers einfach nur mit „Sabine“ firmiert, da lag es für mich spontan nahe, eine kleine Spielerei zwischen Wallace C. und „der Hossenfelder“ anzustelllen.
Einmal mehr, da Sabine Hossenfelder mit solchen Details der praktischen Physik, wie etwa der Akustik, gar nichts am Hut hat. Hossenfelder balanciert zwischen den ganz kleinen Teilchen und dem großen Ganzen auf dem Seil der theoretischen Physik.
Dass Hossenfelder ihre Website – anstelle eines Logos – flott und wie mit Hand angekreuzt hat, beweist einen gewissen Humor.
„Was läuft falsch in der gegenwärtigen Physik?“ fragt Sabine Hossenfelder nicht nur, sondern gibt in ihren Vorträgen, etwa an der Universität Stuttgart (siehe unten), auch aufschlussreiche Antworten. Dabei erscheinen diese Einblicke in die theoretische Physik beinahe austauschbar mit solchen in die akustische Physik. Insoweit ist der Video-Beitrag der Universität Stuttgart, den Sie bei Youtube verfolgen können, vollkommen ernst zu nehmen – und doch auch meisterlich satirisch:
https://www.youtube.com/watch?v=99hVAu1k6G8.
„Gibt es eine Krise in der theoretischen Physik? Ja, inzwischen habe ich den Eindruck, dass dem so ist“, räumt Hossenfelder am 29. April 2019 ein, fährt dann aber fort:
„Ich mag es nicht besonders gerne, wenn man hier von einer Krise redet, weil ‚Krise‘ so optimistisch klingt. Das klingt so, als hätten die Physiker verstanden, dass etwas falsch gelaufen ist und jetzt umdenken. Dem ist aber nicht so. Deshalb rede ich lieber von einer Stagnation. Es tut sich einfach nichts.“
(vorgenannter Link; min. 04: 40 – 05: 04)
Und ich gebe zu: Ich fand mich sogleich in der Raumakustik wieder…
Dennoch ist vermutlich die allgemeine Situation nur in Teilen vergleichbar. Denn für die Raumakustik arbeiten ein Interessenverband und verbundene Personen mit Ausdauer und Energie daran, diese Stagnation normativ zu zementieren.
„Die allgemeine Relativitätstheorie ist mehr als 100 Jahre alt. Die Entwicklung des Standardmodells wurde in den 70er Jahren abgeschlossen. Seitdem hat sich natürlich auf der experimentellen Seite noch mehr getan. […] das Higgs-Boson war das letzte Teilchen, das wir gefunden haben. […] Wir haben auch Ende der 90er Jahre festgestellt, dass die so genannte kosmologische Konstante nicht Null ist, was lange angenommen wurde […]. Aber die Theorien, die dazugehören, die gibt es schon mehr als 40 Jahre. Die kosmologische Konstante wurde schon ursprünglich von Einstein eingeführt, die Theorie vom Higgs-Boson kommt aus den 60er Jahren […] Seit den 70er Jahren hat sich die mathematische Struktur dieser Theorien nicht geändert.
Aber es ist nicht so, dass wir sagen können: ‚Okay, wir hören auf mit den Grundlagen der Physik. Wir sind fertig […]‘ – Wir wissen, das war‘s nicht. Wir haben noch Fragen, auf die wir Antworten wollen. […] Auf der ersten Folie hatte ich die allgemeine Relativitätstheorie neben dem Standardmodell, und nicht zusammen [gezeigt]. Das liegt daran, dass diese beiden Theorien sich nicht vertragen. Die funktionieren nicht zusammen. Man sieht das Problem relativ einfach. Aber es zu lösen ist sehr schwierig.[…] Man kennt dieses Problem seit den 30er Jahren. Eine Lösung dazu haben wir immer noch nicht.“
(vorgenannter Link; min. 05: 04 – 08: 00)
Auf den ersten Blick gefällig und einsehbar kommt Hossenfelder mit folgender Feststellung daher:
„Die Physik ist eine der ältesten Naturwissenschaften. Und die einfachen Dinge wurden schon gemacht.“
(vorgenannter Link; min. 9: 12 – 09: 18)
Für die Raumakustik kann ich das so nicht ganz unterschreiben. Und auch für die theoretische Physik melde ich vorsichtig meine Zweifel an: In einer Sackgasse verrennen konnte man sich noch stets am erfolgreichsten mit komplizierten und aufwändigen Lösungsansätzen.
Von mir aus äußerst kühn stelle ich also auch für die theoretische Physik zumindest in Frage: Ist nicht vielleicht das Grundmodell – das man ‚eigentlich‘ sucht – in Wahrheit viel weniger komplex?
Aber ich folge Hossenfelder noch etwas weiter:
„Das ist auch noch so ein Grund, weshalb ich das Gefasel über die Krise nicht hilfreich finde. Woher wissen wir denn eigentlich, ob wir in der Krise sind? Wir haben ja kein Paralleluniversum, mit dem wir das vergleichen können.
Ich denke, eine bessere Frage ist: ‚Tun die Physiker denn das Beste, das sie tun könnten?‘ Und die Antwort darauf ist meiner Meinung nach: Nein – denn sie konzentrieren sich auf die falschen Probleme.“
(vorgenannter Link; min 9: 24 – 9: 50)
Das erging mir mit der Raumakustik vergleichbar:
Widersprüche schon in der Theorie, Ungereimtheiten in den Lösungsversuchen ließen mich irgendwo zwischen unzufrieden und ratlos zurück.
Und natürlich gibt es in der Wissenschaft – wie auch im gewöhnlichen Leben – ein weiteres Problem: Sattheit.
Sattheit befördert ein Verhalten, das Hossenfelder später in ihrem Vortrag so beleuchtet:
„Schönheitskriterien haben sicherlich einen bestimmten Erfahrungswert. Das Standardmodell der Teil chenphysik und auch die Allgemeine Relativitätstheorie beruhen sehr stark auf Symmetrieprinzipien. Da macht es sicherlich Sinn, dass man versucht, Schönheit – also diese Symmetrieprinzipien – auch weiter anzuwenden. Aber dieser Erfahrungswert ist nicht sehr hilfreich, wenn man neue Theorien entwickeln will, die aus komplett neuen mathematischen Strukturen bestehen – für die man diesen Erfahrungswert einfach nicht mehr anwenden kann.
Ästhetische Kriterien. Die Zusammenfassung ist: Sie basieren auf Erfahrung, aber wir wissen nicht, ob sie auch für neue Theorien gelten. Die wissenschaftliche Herangehensweise wäre deshalb, dass wir ästhetische Kriterien als Hypothesen benutzen und dann testen, ob sie funktionieren. Man hat ästhetische Kriterien benutzt. Man hat getestet, ob sie funktionieren. Aber sie funktionieren seit 40 Jahren nicht. Trotzdem benutzt man sie weiter.
Und ich denke, dass das der Grund ist, wieso wir in den Grundlagen der Physik diese Stagnation sehen.
Wir haben uns in einen Teufelskreis hineintheoretisiert. In den Grundlagen der Physik sind die einfachen Sachen gemacht worden. Das heißt, wir brauchen heutzutage immer Zeit und auch Geld, um neue Hypothesen zu testen. Wir müssen irgendwelche Satelliten im Orbit um die Erde schicken, wir müssen neue Teilchenbeschleuniger bauen, wir brauchen große Teleskope… das dauert Jahrzehnte und es kann Milliarden Euro kosten. Das heißt aber auch: Wir müssen die Hypothesen, die wir testen, sehr sorgfältig wählen.
Was passiert, wenn wir ein Experiment machen, um unmotivierte Thesen zu testen, ist, dass wir mit großer Wahrscheinlichkeit mehr negative experimentelle Resultate bekommen. Das heißt, wir bestätigen nur die Theorien, die schon bekannt sind. Wir finden keine Hinweise auf neue Phänomene.
Jetzt ist es natürlich so, dass negative Resultate auch Resultate sind. Dadurch kann man Hypothesen ausschließen. Aber wenn Sie eine neue Theorie entwickeln wollen, dann sind das keine besonders hilfreichen Resultate. Was Sie eigentlich haben möchten: Sie möchten Daten haben für irgendwelche neuen Effekte, die Sie dann mit Ihren Theorien beschreiben können.
Das passiert aber nicht. Und weil wir diesen Datenmangel haben, bleiben wir auf diesen unmotivierten Thesen sitzen. Da kriegen wir wieder negative experimentelle Resultate… und so weiter und so fort.“
(vorgenannter Link; min. 40: 22 – 42: 30)
Ein solcher Teufelskreis erzeugt auch Frustration – die wiederum massiv auf die Arbeitsmoral drückt .
Aber „wenn‘s um Geld geht“, dann geht es auch um den eigenen Stand gegenüber vorgesetzten Stellen. Man muss – gute – Ergebnisse vorweisen können. Ganz genau so, wie ein selbstständiger Unternehmer Produkte verkaufen muss. Und also, ehe man gar nichts hat, geht man lieber mit Ergebnissen hausieren, die entbehrlich sind.
Tut dies dann aber mit umso lauterem Getrommel?
Und also noch einmal zu Hossenfelder. Denn trotz aller Ernsthaftigkeit gibt sie wieder eine amüsante Parabel auf die Situation in der Raumakustik ab:
„[…] ich [nicht] die Erste bin, die darauf hinweist, dass das Schönheitskriterium nicht objektiv ist, sondern subjektiv. Natürlich ist den Physikern das auch durchaus bewusst. Die sagen das auch gerne […]
Die größte Frage von allen ist deshalb: Wenn Schönheitsargumente so schlecht funktionieren, warum benutzen Physiker sie dann dennoch? Funktioniert jetzt schon seit 40 Jahren nicht, aber man macht immer noch dasselbe.
Ich denke, ein plausibler Grund dafür ist: Sie machen es, weil alle anderen es auch machen. Es ist einfach allgemein akzeptierte Praxis […] in den Grundlagen der Physik, dass man diese Schönheitsargumente benutzt. Da zieht keiner mehr die Augenbrauen hoch.“
(vorgenannter Link; min. 52: 24 – 53: 22)
Und aus ihrer Schlussfolgerung hier – sehr plausibel – wiederum eine eher traurige Wahrheit:
„Die Verwendung von Schönheitskriterien zur Auswahl von wissenschaftlichen Hypothesen ist schlechte Methodik. Solch schlechte Methodik kann akzeptierte Norm werden, wenn viele Wissenschaftler sich gegenseitig versichern, dass sie das Richtige tun.“
(vorgenannter Link; min. 57: 24 – 57: 52)
Im Grunde ist die Wissenschaft quasi „durchseucht“ von einfachsten und ganz „menschlichen“ zwischenmenschlichen Prozessen – und verliert daran nicht nur ein bisschen, sondern grundlegend ihre Objektivität.
Insoweit ist es auch weder bahnbrechend noch revolutionär, sondern schlicht folgerichtig, wenn Hossenfelder vorschlägt, Wissenschaftler sollten berücksichtigen, „wie ihre Mitgliedschaft in einer Gruppe die Objektivität beeinträchtigen kann“.
Mindestens bemerkenswert ist, dass Hossenfelder – als eine von ihnen – das offen ausspricht und offen Kritik übt. Sie hat in der theoretischen Physik promoviert und ist nach verschiedenen wissenschaftlichen Tätigkeiten in Deutschland, den USA, Kanada und Schweden schließlich seit 2015 tätig beim FIAS in Frankfurt/Main, dem ‚Frankfurt Institute for Advanced Studies‘.
Im Kollegium der Wissenschaftler nimmt man ihre Kritik (nicht nur) positiv auf, die sie mit ihrer Buchpublikation von 2018, „Lost in Math: How Beauty Leads Physics Astray“, in gut verdaulicher Form der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. – Deutschsprachig erschien kurz darauf die Übersetzung: „Das hässliche Universum – Warum unsere Suche nach Schönheit die Physik in die Sackgasse führt“.
Insgesamt lässt die „Wissenschaftsgemeinde“ sich das von ihr gefallen – und honoriert ihre Kritik sogar. Es bleibt abzuwarten, ob ihre Kritik am Ende nicht mehr war als Kabarett – oder ob sich endlich etwas tut…
Aber was hat nun die theoretische Physik mit der Raumakustik zu tun?
Es sind, wie ich bereits angedeutet hatte, so viele Ähnlichkeiten, die mir aufgestoßen waren – und die mich veranlasst hatten, vom Thema etwas abzuschweifen und einen Schwenk hinüber zu machen.
Nun muss man diese ganzen komplexen Formeln nicht schön finden, die in der Raumakustik genutzt werden.
Die Ästhetik der mathematischen Formel schlechthin ist ohnehin eher etwas für Personen, die sich für die Mathematik in besonderem Maße begeistern – und ist ein Empfinden, dem im Alltag niemand folgen wird, wenn man die nötigen Parameter in vordefinierte Eingabefelder praxistauglicher Programme eingibt, um Räume zu berechnen.
Spätestens bei der so genannten „Visualisierung“ der Raumakustik kommt dann aber doch so etwas wie Ästhetik ins Spiel. Wenngleich in einem anderen Sinne.
Jedoch ist das Visualisieren von Raumakustik kaum etwas, das am Ende der Kette dem Kunden wirklich hilft. Eher im Gegenteil – muss der Kunde doch schlussendlich in der einen oder anderen Weise diese aufwändigen
Visualisierungen irgendwie und irgendwann (mit-) bezahlen.
Dafür, dass man ihn wenigstens gut unterhalten, ihm vielleicht auch die eine oder andere Argumentationshilfe an die Hand gegeben hat, um eine Maßnahme vorgesetzten Stellen gegenüber besser vermitteln zu können?
Aber… „Ist alles so schön bunt hier!“ (Nina Hagen, „Ich glotz TV“ – 1978)
Mehr bleibt am Ende nicht, als schöne Bilder von schematisierten Großraumbüros mit roten und gelben, blauen und grünen Wolken. Oder bunte, so genannte Wasserfalldiagramme, mit denen dem HiFi-Enthusiasten daheim oder dem Studio-Betreiber sein Mischraum in die Zukunft hinein schöngeredet wird. Der Ist-Zustand in rot und orange und schreckerregend. Nach der – in Aussicht gestellten – Maßnahme überwiegend blaue und Grüntöne. Das beruhigt.
Ob es am Ende geholfen hat, für den inneren Frieden abertausende Euro auszugeben, das muss schließlich einfach der praktische Alltag zeigen.
Messergebnisse und Visualisierungen können es nicht zeigen, sondern nur Hinweise geben – oder Belege liefern für eine dann offensichtlich gute Leistung.
Kurzum: Visualisierungen von Raumakustik sind Marketing-Instrumente – aber keine Instrumente, um gute Raumakustik zu erlangen.