Читать книгу Durch die Raumakustik muss ein Ruck gehen - Gerhard Ochsenfeld - Страница 20
ОглавлениеEin Gaukler mit der Schnarre
Beginnt das ganze Problem, weshalb Räume selten wirklich gut beruhigt werden, mit einem grundlegenden Missverständnis der Wissenschaft zu Wesen und Charakter des Schalls?
Zunächst möchte ich auf den Titel dieses Beitrags eingehen. Denn vielleicht möchte es merkwürdig anmuten, wenn ich vom „Gaukler mit der Schnarre“ schreibe. Mir erscheint dieses Bild geeignet, um zu verdeutlichen, worum es geht – bei diesem für jedermann hörbaren „Phänomen“ des Lärms, der in Räumen entsteht:
Man klatscht voll und volumig in die Hände – und der Raum antwortet mit einem satten „pr-r-r-r-rr“. In denselben Räumen, mit tapfer vollflächig bedämpften Decken – normgerecht in jeweils unterschiedlichen Ausführungen – spielen und toben, allmählich das wachsame Auge der ErzieherIn vergessend, 18 oder 24 Kinder im unbesorgten Alter von drei bis sechs Jahren… Und bald beginnt etwas bis zur Unerträglichkeit anzuschwillen, für das viele – nicht alle (!) – der Kinder noch kaum eine Aufmerksamkeit zeigen: ein hohes und intensives „(s)i-i-i-i-ii-ii“.
Was für das In-die-Hände-Klatschen noch recht klar beschrieben werden kann, ist für jene Raumantwort auf laut rufende oder quiekende Kinder – einmal mehr in den akustisch bereits behandelten Räumen – um so schwerer zu fassen. Was man hört, klingt rau, oft prasselnd, und erscheint auch (etwas) tiefer frequent als die Ursprungsquelle.
Wieder ein anderes Raumbeispiel:
Ein Ruheraum in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. Der Raum hat einen Grundriss von ca. 3,5 x 4,1 Metern. Mit schräg aufliegendem Holzdach ist der Raum an der einen Seite ca. 3,5 Meter hoch, an der anderen ca. 4,1 Meter. Durch unverkleidete Deckenbalken aus Holzleimbindern kommen noch einmal für 20 bis 30 cm an Raumhöhe hinzu: Ob geplant oder zufällig, verkörpert der Raum die Sehnsucht des Würfels nach gotischer Raumweite.
Klatscht man dort in die Hände, dann scheppert es mit einem metallischen Klang, obgleich im ganzen Raum kein Metall, mehr noch, an der Decke – sehr angenehm und wohnlich – das blanke Holz verarbeitet ist.
Die größte Hürde für guten Raumklang bleiben die Raumkanten. Dort sitzt dieser Gaukler: Mit einer bunten, dreigehörnten Narrenmütze auf dem Kopf, vielleicht ein Glöckchen an jedem Horn, vor allem aber… mit einer Schnarre in der Hand: Mit seiner Schnarre ratscht der Gaukler eben nicht nur im tieffrequenten Bereich!
Das ist eines dieser Missverständnisse, die sich um die Raumkante ranken.
Es gibt solche, die mich nicht gefragt haben, was ich mit dem Raumkanteneffekt meine. Mögen sie mich aus purer Höflichkeit nicht unterbrochen haben – schnell hingegen schien klar, worum es geht.
Ich bin jedoch – von fachlicher Seite (was mich etwas verstört hat) – auch hartnäckig gefragt worden, was ich denn mit dem Kanteneffekt meine!? Das wird jedoch vermutlich daran gelegen haben, dass der Effekt in der Literatur hinlänglich schwach beleuchtet, im Rahmen technischer Vorschriften oder Empfehlungen erst gar nicht besprochen wird.
Ich komme später häufiger darauf zurück, muss es aber an dieser Stelle schon einmal betonen, damit es keine Missverständnisse gibt:
Helmut V. Fuchs ist jener, der in der Literatur mit dem Raumkanteneffekt immer wieder auffällt! Er ist beinahe ein einsamer Streiter. Und das seit Jahrzehnten.
Ich kann nicht sagen, weshalb Fuchs überwiegend unerhört bleibt. Ich kann nur hier und da verschiedene Gründe erahnen, die eine Rolle spielen mögen…
Der Raumkanteneffekt ist ein undurchsichtig „Ding“. Dieses Ding erzeugt sinnlosen und destruktiven Lärm!
Mit den unterschiedlichsten Worten versuchen Betroffene zu beschreiben, was da stört und belastet: Mal ein Prasseln, ein Rasseln, ein Schnarren, mal ein Sirren, ein Klirren, manchmal auch ein Klingeln im Ohr… Es sind stets unreine, „raue“ Schallereignisse, die beschrieben werden. Im physikalischen Sinne sind es weder Töne, noch Klänge: Es sind Geräusche, die die Betroffenen in der Regel räumlich nicht zuordnen können. Und wenn es als „Klingeln“beschrieben wird, dann auch deshalb, weil es in seiner Rauigkeit dem Brummen eines Verbrennungsmotors zumindest eine Nuance näher ist als einem hohen sauberen Ton: Es klingt schrill.
Was da stört – in den Raumkanten – ist für den einen bloß Lautheit, für jemand anderen schon Lärm, für die Nächsten schließlich nur noch unaushaltbar. Was da stört, lässt musikalische Darbietungen unsauber und unklar erscheinen – die willkommene bassige Resonanz ist das nicht. Was da stört, beeinträchtigt Sprache mithin so stark, dass man Vorträgen oder Gesprächen nicht mehr folgen kann.
Setzt man sich mit solchen Störungen auseinander, dann kann man sich nicht allein auf tiefe Frequenzen konzentrieren, sondern muss explizit auf die Raumkante an sich eingehen.
Fachleute sind sich einig, dass die Raumkante kein Resonator ist – aber wie ein solcher wirke: Die Raumkante reagiert mit einer Frequenzabsenkung gegenüber dem Quellgeräusch. Dennoch bleibt es nur eine Analogie, in Bezug auf die Raumkante von „Resonanz“ zu sprechen. Darauf gehe ich an anderer Stelle noch genauer ein.
Auch ist man sich einig, dass die Raumkante ein Verstärker ist. Ein Verstärker bloßer Lautheit. Im Durchschnitt eines Raumes sollen es 6 bis 8 dB sein. In Ecken wiederum – also dort, wo drei Kanten aufeinandertreffen – sind bis zu 20 dB Verstärkung gemessen worden! Als Spitzenwert.
Das könnte von Vorteil sein für so etwas wie Sprachverständlichkeit. Jedoch führt eine irreguläre Frequenzmodulation eben nicht zu einer klaren Signalverstärkung, sondern zu bloßer Lautheit, zu Lärm!
Der aber hat es in sich: Ob nahe einer Ecke im Klassenraum, ob im Besprechungsraum, ob im Vereinsheim oder im Versammlungsraum eines Seniorenheimes – wer nun hinten sitzt, der hat es nicht mehr in der Hand… sondern den Schwarzen Peter auf der Hand. Zu allererst derjenige, der nicht richtig (zu-) hört, ist auch derjenige, der stört: Also derjenige, der durch Zwischenfragen noch einmal um Wiederholung bitten muss…
Was sich in der Raumkante abspielt, umgeht die Physik geflissentlich, weil bisher allgemeingültige und auch allseits anerkannte Vorstellungen vom Schall dafür keine Erklärung anbieten. – Beziehungsweise jene Erklärung von den Spiegelschallquellen ist keine Erklärung für diesen Raumkanteneffekt.
Das scheint Physiker wenig zu behindern, geschweige denn tiefgreifend zu stören. – Aber auch den Schall selbst stört nicht, dass es an Erklärungen und Berechnungen bisher fehlt. … und treibt ungestört weiter sein Unwesen.
Ich möchte hier grob umschreiben, was in der Raumkante passiert. Im Verlaufe des Buches wird dann sicherlich klarer werden, was ich meine und wovon ich spreche. Für fachlich Versierte nämlich werden das, was ich hier beschreibe, nichts als fantasievolle Beschreibungen von etwas vollkommen Irrealem sein, weil es bisher ganz unverrückbare und anerkannte physikalische Ansichten und Grundfesten durchbricht. – Anderes wiederum ist der gegenwärtigen Physik so geläufig, das man mir vielleicht vorwerfen wird, ich möge nicht so kokett mit Neuem winken, wo ich nur alte Hüte präsentieren kann.
Es spricht einiges dafür, dass zumindest ein Teil der Schallenergie – und möglicherweise in Abhängigkeit vom Einfallswinkel – gleichsam an der Wand entlang und in die Ecke „rollt“… um sich in seinem Frequenzverhalten und ggf. sogar seiner Geschwindigkeit zu ändern und schließlich in unterschiedlichem Grade zu potenzieren. Mit solchen Änderungen des longitudinalen hin zu anderen Wellenmustern gibt es nun eher eine Ähnlichkeit mit Wasserwellen, nämlich mit Tsunamis, auf die ich später noch etwas umfassender eingehe.
Es gibt recht klare Hinweise, die dafür sprechen, auch den Einfallswinkel als ein sehr wichtiges Kriterium für das Ausmaß des Raumkanteneffektes in Betracht zu ziehen.
Und die allgemein hochgehaltene Gesetzmäßigkeit, der Einfallswinkel sei (wie auch für Licht) gleich dem Ausfallswinkel, ist zu einfach.
Nun aber wiederum mit einem Unterschied zum Licht: Wie ich gerade zuvor geschrieben hatte, spricht vieles dafür, dass man sich den Schall auf sein Verhalten in Abhängigkeit vom Aufprallwinkel auf eine Fläche genauer ansehen sollte. (Zu) vieles spricht dafür, dass der Schall auch sein Ausbreitungsmuster ändern kann – durchaus im Gegensatz zum Licht.
Die Ähnlichkeit zum Licht besteht darin, dass es Teilreflexion nicht nur in direkter Abhängigkeit von Absorption gibt. Auch das ist in der Akustik im Grunde bereits bekannt: Es gibt den Durchgang durch akustisch wirksame Decken, dem der Schall aber durch Absorption nicht (ganz) erliegt, wenn das Zusammenspiel von Tiefe des Hohlraumes und Dichte der dort verbrachten (Vlies-) Füllung für die Frequenz und/oder die tatsächliche Schallenergie nicht ausreicht.
Das Vorgenannte und die Tatsache, dass eine Variabilität von Absorption und (Teil-) Reflexion von Schall bekannt ist, deutet an sich bereits in die Richtung eines ganz anderen Verständnisses von Schall – und von dem, was in Raumkanten mit Schall passiert.
Aber es kommt noch besser. Oder schlimmer? – Wenn Fuchs uns gleich am Anfang seiner „Raum-Akustik und Lärm-Minderung“ (Springer Vieweg 2017 – Seite 8) eine logarithmische Berechenbarkeit des Raumkanteneffektes für eine vereinfachte Betrachtung andeutet, dann können Mathematiker sich hilfsweise weiterhin des Modells von den Schallstrahlen bedienen, wiederum hilfsweise weiterhin das Modell von den Spiegelschallquellen nutzen, um in Abhängigkeit vom Einfallswinkel die unterschiedlich stark ausgeprägte Reflexion des Schalls und das Ausmaß des Raumkanteneffektes zu berechnen.
Damit bleibt weiterhin unerklärt und damit ist noch nicht berechnet, dass und in welchem Ausmaß Schall über solche Spalte zwischen meinen Reflektoren und der Wand oder Decke, oder auch, in welchem Ausmaß Schall über die Spalte zwischen Fuchs‘ Kantenabsorbern oder BATs und wiederum der Wand oder Decke abgeleitet und dann durch die Absorption in porösen Materialien oder – im Falle rein schallharter Reflektoren und Schilde – auch durch Teilreflexionen an den störenden Schilden vernichtet wird.
Darüber hinaus vertrete ich – strittig – die Ansicht, dass auch durch die Störung von Druckverläufen, also durch so etwas wie Strömungsabriss und Turbulenz, die Energie des Schalldrucks vernichtet wird. Aber das ist vorläufig nur eine als möglich in Betracht gezogene Vorstellung zum Schall, die (ein wenig) bestätigt wird durch die Tauglichkeit rein schallharter Reflektoren und Schilde sowie auch durch das Prinzip, das letztlich auch Fuchs sich zunutze macht. Seine einstigen Kantenabsorber ebenso wie auch seine neuesten BATs („Breitband-Absorber-Traps“ – Fuchs et al. in „Bauphysik 42 (2020), Heft 4“: „Breitband-Schallabsorber für Räume mit besonderen Akustik-Anforderungen“) kommen nicht ohne den Spalt zwischen dem Element und der Wand oder Decke aus.
Für zumindest als Näherungen taugliche Berechnungen wird eine mehr oder minder komplexe Anpassung des Spiegelschallmodells – vorläufig – reichen, um der verheerenden Kraft der Raumkanten dichter auf die Pelle zu rücken. Vielleicht reicht das auch, um den Nutzwert unterschiedlicher Ansätze zur Bewältigung des Raumkanteneffektes zumindest grob zu prognostizieren.
Exakt berechnen kann man den Raumkanteneffekt nicht auf der Grundlage der Sabine‘schen Formel: Die umschreibt so etwas wie Raumklang als ein Verhältnis zwischen Raumvolumen und den Schall absorbierenden Oberflächen. Der Raumkanteneffekt jedoch kommt in anderen Verhältnismäßigkeiten daher – und darf mit dem Nachhall nicht vermischt werden.
Man möge mir nachsehen, wenn ich etwas blumig fabuliere: Dem Raumkanteneffekt geht es auch um so etwas wie Achtung und Würde. Der Raumkanteneffekt möchte mit dem Nachhall nicht in einen Topf geworfen werden.
Wenn von nichts anderem, dann kennt man die weiter oben erwähnten (Teil-) Reflexionen an Oberflächen mindestens von so genannten Inversionswetterlagen, die dazu führen können, dass Schall an nichts als an durch Temperatur- und Unterschiede in der Luftfeuchte entstehenden „harten“ Grenzschichten abprallt.
Aber inwieweit wird etwa berücksichtigt, dass in Abhängigkeit von Oberflächenstruktur, Frequenz und Einfallswinkel etwaig gar eine Totalreflexion stattfindet, obgleich man mit der teilweisen, gar mit der vollständigen Absorption von Schall gerechnet hätte?
Und darüber hinaus: An welcher Stelle und in welcher Weise findet es Berücksichtigung, dass sich das Ausbreitungsmuster von Schall verändern kann? Oder – um es im geläufigen Sprachmuster auszudrücken, auch wenn mir das widerstrebt: An welcher Stelle und in welcher Weise wird berücksichtigt, dass sich das Wellenverhalten des Schalldrucks verändern kann?
Ich bin nicht bereit, an dieser Stelle keine Fragen mehr zu stellen, nur weil der theoretische Teil der Physik uns mathematische Antworten liefert: Diese Antworten sind nicht zu Ende geführt – und deshalb unbefriedigend. Mögen solche Antworten im vereinfachten Sabine‘schen Raummodell auch schlüssig erscheinen: An der Raumkante scheitern die bisherigen Lösungsansätze.
Man darf vorbehaltlos und sollte unbedingt in Betacht ziehen, dass das Wellenmuster des Schalls anderen Gesetzen folgt und andere Verhaltensweisen annimmt, je nach den Umgebungsbedingungen, wie das auch für die Wellenausbreitung im Wasser gilt. – Mein hier nur knapper Hinweis auf Tsunamis, auf die ich an anderer Stelle genauer eingehen werde.
Hier also nur noch einmal kurz zurück in den Vereinsraum oder in den Klassenraum…
Während nun der Sprecher vorn versucht, wenigstens sinngemäß zu wiederholen – sicherlich etwas lauter, vielleicht auch klarer artikuliert – sitzen zwei irgendwo am Tisch, die tuscheln: Der eine lästert genervt über die Unaufmerksamkeit – der andere zeigt zwar Verständnis, aber tuschelt nicht minder quer in den Vortrag hinein. Der Effekt ist so oder so, dass auch diese Störkulisse in den
Raumkanten – und insbesondere in den Raumecken – nicht nur verzerrt, sondern nochmals verstärkt wird.
Und so ahnt man schon: „Ich hab‘ das immer noch nicht verstanden…“
Man ist auf dem besten Wege, sich keine Freunde zu machen… und fragt lieber nicht mehr nach.
Jedoch: Sätze, in Bruchteilen verstanden, sind keine Lerngrundlage. Oder: sind keine Entscheidungsgrundlage, sind keine Arbeitsgrundlage…
Ganz subtil oder schon in der Magengrube spürbar: Da liegt viel Stress verborgen, über den niemand spricht.
… vor allem aber: niemand sprechen mag.