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Spielerisch balgen und raufen
ОглавлениеNach diesem geistigen Warm-up wollen wir uns als Nächstes der Frage zuwenden, wovon wir hier eigentlich sprechen. Was ist das genau: Raufen? Oder anders gefragt: Was ist Raufen nicht?
Die Internet-Enzyklopädie Wikipedia lieferte bei meiner Recherche anstelle der erhofften Definitionen nur folgende Ergebnisse zu den angegebenen Suchwörtern:
•Raufen12: „Dieser Artikel erläutert eine textiltechnische Methode; das Raufen im Sinn einer tätlichen Auseinandersetzung wird unter Schlägerei erläutert.“
•Spielerisch: Kein Eintrag; „Der Artikel existiert nicht.“
•Balgen13: „In der Fotografie versteht man unter einem Balgen eine flexible, lichtdichte Verbindung zwischen Objektiv und dem Kameragehäuse.“
Offenbar sind die hier von mir vorgestellten Ideen noch nicht im öffentlichen Sprachgebrauch angekommen. Um dies zu ändern, möchte ich im Folgenden die Begriffe so definieren, wie sie im Rahmen dieses Buches gemeint sind:
„Spielerisch“ bedeutet, im Sinn eines Adjektivs, die Art und Weise des Vorgehens. Der Duden sagt „von Freude am Spielen zeugend, absichtslos-gelockert“. Beim Raufen gehen wir spielerisch vor, indem wir uns vorher freiwillig und einvernehmlich auf bestimmte Rahmenbedingungen und Regeln einigen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „Setting“. Das Ziel ist in jedem Fall eine für alle Beteiligten positive Erfahrung und am Ende ein Strahlen auf allen Gesichtern. Dabei macht es zunächst einmal keinen Unterschied, ob wir Schach oder Volleyball spielen oder ob wir miteinander balgen und raufen. Mit kindlicher Leichtigkeit wollen wir an die Sache herangehen und zuallererst einfach Spaß haben.
„Balgen“ oder „Raufen“ meint in diesem Kontext eine körperliche Auseinandersetzung, aber eben nicht die Anwendung von Gewalt. Es soll kein Gegeneinander sein, sondern ein Miteinander, wobei der Spaß im Vordergrund steht. Ein Bild, das ich in meinen Veranstaltungen gerne verwende, sind junge Hunde oder Katzen, die aus purer Lust miteinander balgen. Es geht dabei primär nicht um ein Gewinnen oder Verlieren, also ein Gegeneinander-Kämpfen, sondern um einen gemeinsamen Erfahrungsraum, in dem miteinander gekämpft wird.
Das Wichtigste dabei ist, sich selbst zu fühlen: den eigenen Körper, die eigene Kraft, die Dynamik der Bewegungen; und all dies auch bei und mit dem Raufpartner oder der Raufpartnerin zu spüren. Miteinander in Bewegung zu kommen und die Energie einfach fließen zu lassen, ohne sich unnötige Einschränkungen auferlegen zu müssen. Dabei können wir uns selbst – und unser Gegenüber – besser kennenlernen. Viel besser, als dies normalerweise unter Alltagsbedingungen möglich ist, und viel einfacher, schneller und sicherer als in einer Extremsituation. So eröffnet uns das Raufen ein geschütztes Experimentierfeld, in dem wir uns selbst ausprobieren können. Auf dieser Basis sind schließlich auch pädagogische oder therapeutische Interventionen möglich, und zwar auf allen Ebenen: körperlich, emotional, systemisch und geistig. Damit erhält das Raufen über den reinen Spaß-Aspekt hinaus noch eine ganz andere und viel umfassendere Bedeutung.
Zum Zweck der Abgrenzung will ich im Weiteren die Unterschiede zu einigen verwandten Bereichen darstellen:
Kampfsportarten, wie Judo oder Ringen, sind auf den ersten Blick und von den Bewegungsabläufen her dem Raufen zwar ähnlich, aber ihrem Grundgedanken nach ganz anders einzuordnen. Der Kampfsport ist in erster Linie ein (Leistungs-)Sport und damit auf Wettkampf ausgerichtet. Im Mittelpunkt steht ein mehr oder weniger kompliziertes Regelwerk, das Erlernen und Üben immer komplexerer Techniken, Kraft- und Fitnesstraining und letztlich ein messbarer Erfolg in Form von farbigen Gürteln, Meisterschaften und Medaillen. Hierzu ist ein jahrelanger Lernprozess und eine große Disziplin vonnöten.
All dies ist dem Raufen völlig fremd, bei dem die Spontaneität, die Lust an der Bewegung, die Nähe zu und die Begegnung mit anderen, der gemeinsame Spaß und die Selbsterfahrung vorrangige Rollen spielen. Im Mittelpunkt stehen die ausführenden Personen. Interessanterweise wird von Ringer- und Judovereinen häufig spielerisches Raufen für kleine Kinder angeboten, um sie „an den ernsthaften Sport heranzuführen“. Von den größeren Kindern und Jugendlichen wird dann jedoch erwartet, dass sie im klassischen Sinn eine „Leistung erbringen“. Einfach so zu raufen gilt im Kampfsport als „Kinderkram“, als uneffektiv, unreif und unwürdig – eine Sichtweise, die aus wettkämpferischer Perspektive natürlich richtig ist.
Das in den USA populäre Professional Wrestling ist eine Mischung aus anspruchsvoller Akrobatik und plakativer Schauspielerei, wobei der dem Publikum gebotene Unterhaltungswert im Vordergrund steht. Ein rigoroses Training und eine gute Koordination der Beteiligten ist Voraussetzung, um die Show im Ring ohne Verletzungen zu überstehen. Die Rollen der Darsteller und Darstellerinnen, der Ablauf und das Ergebnis sind dabei Teil einer festgelegten Dramaturgie.
Beim Raufen hingegen ist der Bewegungsablauf meist völlig unspektakulär und bedarf keines besonderen Trainings. Der gesamte Ablauf wird von spontanen Impulsen bestimmt, ist nicht geprobt und ergibt sich aus dem Augenblick, also aus dem, was gerade zwischen den Raufenden abläuft. Es geht nicht darum, ein relativ weit entfernt sitzendes Publikum oder sogar Fernsehzuschauer zu unterhalten. Es geht um die Akteure selbst und um deren gemeinsame Erfahrung im „Kampf“.
Arten der Selbstverteidigung wie Wing Tsun oder Jiu Jitsu dienen der Vorbereitung auf reale Situationen gewaltsamer Bedrohung. Es geht darum, bei einem ernsthaften Angriff möglichst effektiv reagieren zu können, nicht um Spiel oder Spaß und auch nicht um sportlichen Wettkampf. Die eigene körperliche Unversehrtheit und im Extremfall das nackte Überleben stehen im Vordergrund dieser Disziplinen. Die vermittelten Techniken müssen erlernt und intensiv geübt werden, und sie sind für das Gegenüber in der Regel unangenehm und unter Umständen auch gefährlich.
Raufen ist, wie bereits dargelegt, völlig anders ausgerichtet. Trotzdem kann eine Rauferfahrung auch in Selbstverteidigungs-Szenarien von Vorteil sein. Zum einen besteht eine gewisse Vertrautheit im Umgang mit kämpferischen Situationen und der plötzlichen körperlichen Nähe einer fremden Person. Zum anderen bildet sich mit der Zeit ein gesundes Selbstbewusstsein heraus sowie ein Vertrauen in die eigenen physischen und psychischen Möglichkeiten. Dieses Selbstvertrauen und die damit verbundene Ausstrahlung wirken in aller Regel abschreckend auf potenzielle Angreifer, die sich – wie zahlreiche Untersuchungen belegen – lieber „leichtere“, unsicher wirkende Gegner aussuchen. Hier geht es wohl hauptsächlich um die Frage, wer vor wem mehr Angst hat.14
Contact Improvisation ist eine Tanzform, bei der jeweils zwei oder mehrere Personen im gegenseitigen Körperkontakt verschiedene Bewegungsmöglichkeiten ausprobieren. Dies geschieht – meist im Rahmen einer sogenannten „Jam Session“ – ohne feste Vorgaben oder Absprachen, also improvisierend. Hier besteht eine gewisse Übereinstimmung mit dem Raufen in Bezug auf die Impulsivität und das Miteinander in der Bewegung. Ein mögliches Grundbewegungsmuster ist beispielsweise das paarweise Bewegen am Boden. Das kann unter Umständen dem Raufen sehr ähnlich aussehen.
Der entscheidende Unterschied besteht aber darin, dass die tänzerische Performance und der körperliche Ausdruck im Vordergrund stehen. Es geht um eine partnerschaftliche Bewegungsform, der das spielerisch-kämpferische Element, der Krafteinsatz und die Wildheit des Raufens fehlt. Auch wenn die Bewegung aus motorischer Sicht die Gleiche ist, der emotionale Subtext ist ein anderer. Es ist mehr ein gegenseitiges Führen und Folgen, ohne die Herausforderung einer körperlichen Auseinandersetzung.
Bei BDSM – Abkürzung für die englischen Bezeichnungen „Bondage &Discipline, Dominance &Submission, Sadism &Masochism“ – handelt es sich um ein ganzes Spektrum von erotischen Fetischen: von Lack und Leder über Fesselungsspiele, Dominanz und Unterwerfung bis hin zu „Lust durch Schmerz“. Dieser Themenkomplex ist schon lange gesellschaftlich etabliert und hat durch den Hype um „50 Shades of Grey“ zusätzliche öffentliche Aufmerksamkeit gewonnen.
Auch beim Raufen kann der erotische Aspekt von „Dominanz und Unterwerfung“ zum Tragen kommen. Es gibt aber wesentliche Unterschiede: Bei BDSM handelt es sich immer um Rollenspiele. Die Rollen sind von Anfang an klar verteilt und werden genau so ausgelebt. Beim Raufen geht es hingegen darum, die Dominanz überhaupt erst einmal zu „erringen“. Was danach passiert – das mögliche Spiel mit dieser Dominanz –, ist etwas anderes. Die erotische Spannung entsteht und liegt in der Auseinandersetzung, nicht im Ergebnis.
Ein weiterer, ganz wesentlicher Unterschied liegt darin, dass, während bei BDSM zum Teil ganz bewusst Schmerz zugefügt wird, um Lust zu erzeugen, dies beim Raufen ein absolutes No-Go darstellt.
Vor vielen Jahren lernte ich eine attraktive Dame kennen und lud sie ein, mit mir gemeinsam am nächstgelegenen Badesee einen schönen Nachmittag zu verbringen. Dort fragte ich sie spontan, ob sie Lust hätte, mit mir zu raufen; und sie war auch gleich dabei. Es wurde ein intensiver und im Verlauf auch sehr erotischer Kampf. Am Ende lag sie oben und hatte mich voll im Griff. Und dann sagte sie: „ Jetzt gehörst Du mir.“ Das war der Beginn einer längeren, sehr schönen Beziehung. Jahre später hatte ich einen tollen Kampf mit einer anderen romantischen Bekanntschaft. Ich merkte, dass das Kämpfen uns beide antörnte und ich diesmal unbedingt gewinnen wollte – umso mehr, je heftiger sie sich wehrte. Als sie nach langem Hin und Her schließlich bezwungen unter mir lag, sagte sie: „Jetzt kannst Du mit mir machen, was Du willst.“
Trotz – oder gerade wegen – der genannten Unterschiede ist natürlich eine Verbindung von spielerischem Raufen und einer oder mehreren anderen Disziplinen möglich. Zum Beispiel ist beim Judo das „Randori“, der freie Bodenkampf, eine Art Raufen mit Judo-Elementen, eine gängige Trainingseinheit zum Erlernen des Bodenkampfes. Ebenso lässt sich das Raufen auch mit Contact Improvisation verbinden oder eben mit verschiedenen Spielarten von BDSM – ganz nach persönlichem Geschmack.
Bedingt durch meine früheren Erfahrungen habe ich bei den bisherigen Veranstaltungen immer gekämpft, als ginge es um mein Leben. Heute habe ich entdeckt, dass ich dabei auch Spaß haben kann!
(Teilnehmerin, Rauf- und Kuschelparty)