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Sie, meine verehrten Bücherfreunde, werden mir gewiss zustimmen, dass jene dramatischen Geschehnisse die künftige Daseinsreise unseres rätselhaften Weggefährten Abel auf eine ungeheuer harte Probe stellten. Doch wie verblüffend es einstweilen auch klingen mag, ihn konnte für eine erstaunlich lange Zeit nichts aus der üblichen Laufbahn werfen. Stattdessen sollte er noch mehrfach schlimme Unwägbarkeiten erleiden, bis sein Geduldsfaden endgültig riss. Es musste also obendrein manch außergewöhnlich Gravierendes passieren, ehe sich bei ihm schlagartig eine charakterliche Wandlung vollzog.

Was folgte im Verlaufe der nächsten Monate und Jahre?

Nach knapp vier Wochen Aufenthalt im besagten Notquartier wurden sämtliche Aussiedler recht willkürlich aufgeteilt, um sie in alle Himmelsrichtungen zu verfrachten.

Es hätte auch für uns eine der drei Westzonen Deutschlands sein können!

Wie so oft im Leben spielte der stets unberechenbare General Zufall auch damals eine beachtliche Rolle. Das betone ich deshalb, weil einige Leute der einstigen Bundesrepublik nach wie vor glauben, der materielle Wohlstand wäre allein ihrem beispielhaften Arbeitsfleiß zu verdanken, den es in der ehemaligen DDR niemals gegeben habe.

Dabei vernachlässigen sie verschiedene objektive Sachverhalte:

Erstens den Tatbestand, dass ein markantes Industriegefälle von West nach Ost zu verzeichnen war und keineswegs umgekehrt (was sich nach 1945 infolge der fluchtartigen Verlagerung von rund 360.000 Firmen noch enorm verstärkte).

Mithin sehr ungleiche Startbedingungen!

Zweitens den Marshallplan, das von der USA-Regierung 1948 beschlossene Hilfswerk als Wiederaufbauprogramm für mehrere Länder in Europa.

Davon konnten die Bürger in der einstigen „Ostzone“ bekanntlich nicht profitieren. Im Gegenteil: Ihnen wurde eine riesige Summe an Reparationskosten gegenüber der Sowjetunion aufgebürdet.

Was allerdings die wirtschaftlichen Folgen des überwiegend gegensätzlichen Besitzes an Produktionsmitteln in den beiden deutschen Systemen nach dem Zweiten Weltkrieg betrifft, so darf man wohl mehr denn je fundiert auf qualitative Unterschiede verweisen, denn die Erfahrung lehrt, dass generelles Volks- oder Kollektiveigentum bei Weitem nicht jene Effektivität bewirkt wie das private. Die eigens dafür erforderliche Selbstlosigkeit der Menschen ist und bleibt anscheinend utopisch (sicherlich auch eine der Gründe für das Scheitern des Sozialismus).

Schon der griechische Philosoph Aristoteles stellte fest, dass Privateigentum in aller Regel besser gepflegt und gehegt wird als Gemeineigentum. Selbst nach weit über zweitausend Jahren sollte er recht behalten.

Insofern gleicht auch die hierzulande in aller Munde kursierende Idee vom staatlich gesicherten Grundeinkommen für jeden Bürger (aktuell etwa 1.500 Euro ohne Gegenleistung!) eher einem Wunschtraum als ihrer baldigen Realisierbarkeit.

Außerdem ist das typische Verhalten besonders profitgieriger und daher ebenso aggressiver Kapitalvertreter nicht zu unterschätzen, die es allerorts und natürlich auch bei uns zur Genüge gibt. Sie verspüren äußerst selten irgendwelche moralische Skrupel, wenn es um die gezielte Ausplünderung ökonomisch rückständiger Länder und Völker geht.

Ob und inwiefern Teilergebnisse davon der eigenen Bewohnerschaft zugutekommen, hängt ganz von den jeweiligen Umständen ab und namentlich von der Kampfstärke fortschrittsorientierter Kräfte. In den alten Bundesländern war das offenbar recht gut gelungen. Dennoch ist diese Wahrheit mit dem Makel eines bitteren Beigeschmacks behaftet, den manche Nutznießer vehement leugnen. Wer beschmutzt schon uneigennützig sein eigenes Nest? Wir Menschen sind eben so. Mutmaßlich lässt sich wenig dagegen tun. Ich wünschte uns nur manchmal die angemessene Sachlichkeit bei der Beurteilung verschiedener Vorgänge. Aber das bleibt wahrscheinlich eine Illusion, denn wir sind oftmals viel zu schnell gewillt, starrköpfig über bestimmte Zusammenhänge und Ereignisse zu befinden, auch wenn uns das nötige Fachwissen dazu fehlt.

So weit mein erneuter Zwischenruf.

Indessen muss ich jedoch meinen verehrten Lesern gegenüber erneut offenbaren, dass mich eigens hierauf eine gewisse Skepsis zunehmend bedrängt. Sie ermahnt mich wie ein guter Freund, künftig entschlossener darauf zu achten, dass ich nicht mehr allzu oft und tiefgründig der reinen Agitation verfalle, denn wo sie beginnt, hört Literatur als schöngeistiges Schrifttum auf. Vielleicht gelingt es mir, diesen wohlgemeinten Rat fortan besser zu beherzigen. Am meinem Trachten sollte es kaum scheitern. Hoffentlich spielt auch das Können mit! Immerhin will ich vorzugsweise sinnvoll unterhalten und nicht belehren. Gleichwohl sei hier nochmals betont, dass ich bewusst auf eine durchgehende Handlung zugunsten von Einschüben und teils abschweifenden Nachträgen verzichte, was freilich von jedem einen langen Atem abverlangt. Möge es kein vergeudetes Bemühen sein!

Desto klarer vernehmen wir nun sicherlich allesamt den wiederholten Lockruf unserer eigentlichen Geschichte, die sich wie folgt entwickelte:

Die plötzlich um zwei Personen verstärkte Familie meiner Eltern wurde jedenfalls ohne langes Brimborium sächsischen Behörden überantwortet. Sonach kamen wir zunächst nach Meißen, wo uns für weitere vierzehn Tage ein bereits vertrautes Lagerleben blühte. Es war im einstigen „Alberthof“. Von dort wurden wir dann mit einem Pferdefuhrwerk des Großbauern Hagedorn abgeholt und nach einer ungefähr zwölf Kilometer langen Fahrt in einem Seitengebäude seines Gutes in der Nähe von Lommatzsch untergebracht.

Anfangs wimmelte es zwar vor Ratten und Wanzen in den äußerst bescheidenen Gesindestuben, aber wir hatten endlich eine feste Bleibe.

Die vierbeinigen Allesfresser kamen uns vereinzelt schon früher zu Gesicht, mit den „Wandleusen“ hingegen schlossen wir erstmals Bekanntschaft, und die war äußerst unangenehm. Tagsüber hatten sie in den Ritzen der unverputzten Bretter an den Zimmerdecken ihr Versteck. Doch nachts ließen sie sich auf unsere teils nackten Körperpartien fallen, wo sie unentwegt hin und her liefen, bis sie eine Stelle fanden, an der sie stechend und saugend ihren Durst nach frischem Blut stillen konnten. Wahrlich ein ekliges Viehzeug! Allein wenn ich daran denke, wie sie uns ständig gepiesackt haben, schüttelt es mich jetzt noch vor Schauder.

Die Nagetiere wiederum kamen am Obstspalier, welches an einer Außenwand des Hauses befestigt war, bis zu uns in das erste Stockwerk hochgekrochen, damit sie ihren unersättlichen Appetit auch noch an den wenigen Speisevorräten stillen konnten, die wir uns hin und wieder für ein paar Tage anzulegen vermochten. Jedenfalls hatten wir arg zu tun, uns das widerwärtige Ungeziefer einigermaßen vom Leibe zu halten.

Davon will ich hier wenigstens eine kleine Episode zum Besten geben:

Während einer lauen Sommernacht versank ich auf meinem Ruhelager unbekümmert in einen erholsamen Schlaf. Mein Körper war fasernackt, nur von einem leichten Tuch bedeckt. Ich lag auf dem Rücken und genoss fabelhafte Szenen eines überwältigenden Traumes. Klarer Mondschein erleuchtete den Raum, in dem auch das Bett meines um vier Jahre älteren Bruders stand. Aber es war noch nicht belegt. Ich befand mich also allein im Zimmer.

Eine höchst merkwürdige Berührung riss mich urplötzlich aus Morpheus’ Armen. Hellwach blickte ich gefühlsmäßig auf meinen Unterleib und sah, wie sich eine große Ratte denkbar langsam kriechend in Richtung meines Gesichtes bewegte. Ich spürte förmlich jeden Schritt ihrer kurzen Beine. Gebannt schaute ich auf das Nagetier, dessen lautloses Heranschleichen mir wie eine Ewigkeit erschien. Ich war regelrecht gelähmt, vollkommen außerstande, mich auf irgendeine Weise zu rühren. Indessen kroch das unberechenbare Biest immer näher zu meinem Mund. Endlich löste sich meine Verkrampfung, und ich schleuderte sekundenschnell die Decke nach oben, worauf die vierfüßige Bestie mit Karacho durch das offene Fenster entwich.

Auch wenn mich das Vieh wohl kaum angeknabbert hätte, bleibt dennoch dieser Vorfall fest in meiner Erinnerung haften, mutmaßlich wegen meiner kurzzeitigen Versteinerung. Seither verstehe ich das Gleichnis vom Frosch und der Schlange.

Zu jener Zeit, konkret von September 1948 bis Juli 1951, durften Abel und ich über eine Grundschule, die sich im übernächsten Dorf befand, selbst erfahren, was es heißt, innerhalb von nur drei Jahren hintereinander insgesamt acht Klassenstufen zu durchlaufen (von der ersten bis zur sechsten brauchten wir allerdings lediglich zehn Monate). Trotz des ungewöhnlichen Schweinsgalopps konnte ich die Elementarbildung mit der Note „Gut“ abschließen und Abel sogar mit „Auszeichnung“.

Warum wir anfänglich für mehrere Stunden in die erste Klasse gerieten, obwohl wir in Ungarn bereits die fünfte besucht hatten, war einer ulkigen Bewandtnis geschuldet, die sich wie folgt zutrug:

Am Tag des Schulbeginns befanden wir uns zum Auftakt regulär im sechsten Jahrgang. Der Klassenlehrer stellte uns nach seiner allgemeinen Begrüßung als Neuzugänge der Schülerschaft vor und forderte mich gleich danach auf, ich solle doch meinen Rufnamen an die Tafel schreiben, indem er laut und deutlich sagte: „Károly heißt auf Deutsch Karl.“ Ich folgte seiner Aufforderung, spürte den Klang meines aufgedrückten neuen Vornamens, den ich zum ersten Mal so vernahm, noch einigermaßen im Ohr und schrieb prompt „Kharl“. Damit bewirkte ich unwillkürlich ein herzhaftes Gelächter. Nachdem sich die Schüler wieder halbwegs beruhigt hatten, meinte der auffallend nobel gekleidete Pauker vorwurfsvoll belehrend: „Junge, du kannst ja nicht einmal deinen eigenen Namen richtig schreiben. Also gehörst du zu den Abc-Schützen in die erste Klasse. Dort wird man dir wohl eingangs unser Alphabet gründlich beibringen müssen. Das gilt auch für Abel!“

Wahrscheinlich war er schon allein nach der irritierenden Episode fest davon überzeugt, dass wir beide noch saudumm wären. Ergo befanden wir uns kurz darauf in der besagten Klasse, wo wir erst recht wie direkt aus dem Urwald kommend empfangen wurden.

Unsere Eltern waren ob des unbegreiflichen Geschehens entsetzt, und der Vater kümmerte sich auch postwendend darum, indem er persönlich beim Schulleiter vorsprach.

Anschließend durften wir zunächst in das vierte und zwei Monate darauf ins sechste Schuljahr aufrücken. Endlich befanden wir uns unter gleichaltrigen Mädchen und Jungen, was uns besonders motivierte, fleißig zu lernen.

Das merkwürdige Zwischenspiel machte natürlich rasant die Schulrunde, worauf ich noch manch freches Gespött erdulden musste. Aber echt schmerzhaft empfand ich die einschlägigen Lästerungen gottlob niemals. Meinen Vornamen durfte ich übrigens originalgetreu behalten, nachdem eine zuständige Behörde die Geburtsurkunde sichtete und sich dafür entschied (Aussprache: Karoj für Károly und Kartschi für den Kosenamen Karcsi).

Des Weiteren hatten Abel und ich am selben Ort ein geradezu einschneidendes Erlebnis, das ich nachstehend meinen verehrten Lesern deshalb übermittle, weil ich schon seit Langem vermute, es könnte während der Übergangsphase vom Kind zum Jugendlichen der maßgebliche Auslöser für unsere weitere Laufbahn in weltanschaulicher Hinsicht gewesen sein. Hundertprozentig sicher bin ich mir darin allerdings bis zum heutigen Tage nicht. Und es wird wohl auch fernerhin beim ungeklärten Fragezeichen bleiben.

Hier die markante Begebenheit, welche sich wie folgt ereignete:

Gegen Ende Juni 1950 fand an der erwähnten Lehrstätte, wo wir nach unserer gewaltsamen Vertreibung aus Ungarn die ersten deutschsprachigen Unterweisungen erhielten, das traditionelle Schulsportfest statt.

Herrlicher Sonnenschein kündete allenthalben von einer himmlischen Wohltat, wie ich mich noch bestens erinnere. Schon der Morgen putzte sich festlich heraus, denn die Vögel sangen bereits im Frühtau nahezu konzertant ihre überaus faszinierenden und daher beflügelnden Lieder. Obendrein lockten und verführten unzählige Pflanzen mit ihren bezaubernden Düften mancherlei Lebewesen wiederholt zum überwältigenden Sinnesrausch, darunter gewiss auch gotterkorene Denkgeschöpfe. Wir Kinder jauchzten und frohlockten auf dem Wege zum Platz der bevorstehenden fairen Kämpfe, als gehörte uns die ganze Welt. Ich war wirklich voller Optimismus, zumal mich eigene körperliche Herausforderungen seit eh und je begeistern konnten. Was sollte denn an einem derart wunderschönen Tage schieflaufen?

Ich zählte gut dreizehneinhalb Lenze. Vielleicht war mir bis anhin eine gewisse Portion kerniges Naturtalent eigen. Jedenfalls siegte ich prompt in drei Disziplinen (Weitsprung, 100-Meter-Lauf und Schlagballweitwurf). Bereits kurze Zeit später wurde ich während eines feierlichen Fahnenappells zum „Schulmeister“ gekürt. Als Prämie erhielt ich gleich vier Bücher hintereinander, für jede gewonnene Sportart eines sowie ein besonders starkes Exemplar mit der Auszeichnung als „Gesamtsieger“. Selbstredend nahm ich den großen Schatz, wie ich glaubte, voller Stolz entgegen.

Abel, mit dem ich mich ja in derselben Klassenstufe befand, war übrigens auf sportlichem Gebiet selten so gut drauf wie ich, dafür mir aber geistig fortwährend überlegen.

Und nun vernehmen wir bald das eigentliche Drama.

Überhaupt nichts Schlimmes ahnend, machte ich mich gemeinsam mit meinen schulpflichtigen Geschwistern erhobenen Hauptes spornstreichs auf den Heimweg, um die lieben Eltern mit einer vermeintlich guten Botschaft zu erfreuen. Es war am frühen Nachmittag. Während sich unser Vater noch auf Arbeit befand, reichte uns die herzensgute Mutter das bereits fertige Essen, und wir genossen den kärglichen Schmaus. Gleich darauf präsentierte ich ihr im Beisein Abels strahlend meine jüngste Errungenschaft. Sie nahm jedes Buch einzeln und sehr behutsam in ihre Hände, prüfte gründlich deren Titel, blätterte ein wenig darin und überflog zugleich kleine Textpassagen (inzwischen konnte sie gut lesen!), bis sie schließlich mit unübersehbaren Sorgenfalten jedes Exemplar sachte übereinandergestapelt auf den Küchentisch legte. Gleich darauf nahm sie mich in ihre vertrauten Arme und hielt mich auch ziemlich lange fest, als wollte sie mich für immer vor einer unwägbaren Gefahr beschützen. Nach längerem Warten sagte sie mit auffallend leiser und bedrückter Stimme:

„Karcsi, ich fürchte, der Vater kann sich darüber nicht freuen.“ Dieser schicksalsschwere Satz hat sich unauslöschlich in meinem Bewusstsein eingebrannt. Ich vermag ihn nicht zu tilgen, denn genau so kam es dann auch. Nein, noch viel leidvoller!

Zu einer näheren Begründung ihrer seltsamen Bedenken konnte ich die gramerfüllte Mutter nicht überreden. Offenbar fand sie nicht die nötigen Argumente dafür, und so vertröstete sie mich besonders gütig auf Vaters Ankunft.

Nachdem unser stets fürsorglicher Hauptverdiener von seinem fraglos harten Lohnerwerb zur fortgeschrittenen Stunde sichtlich abgespannt heimkehrte, erfrischte er sich ein wenig, um hernach mit uns gemeinsam zu speisen. Anschließend verflüchtigten sich meine Geschwister hurtig. Ich hingegen verweilte noch in der Küche, denn ich war verständlicherweise bis aufs Äußerste auf seine Reaktion gespannt. Auch Abel blieb, um selbst zu vernehmen, was denn an der Sache eventuell anrüchig oder gar unheildrohend wäre.

Es dauerte nicht lange, bis Mutter sich entschloss, unser Oberhaupt auf meine sportlichen Leistungen zu verweisen.

„Na, großartig! Mein Glückwunsch, Karcsi!“, war seine erste Entgegnung. Dann reichte sie ihm vorsichtig ein Exemplar von den vier Büchern. Es war das Schmalste von allen.

Schon ein kritischer Blick auf den Titel genügte ihm, um plötzlich wutentbrannt aufzustehen, es in mehrere Stücke zu reißen und diese in die Feuerstelle des Herdes zu werfen, wo noch lodernde Glut herrschte. Gleich darauf meinte der Vater schroff und laut: „Solche Teufelswerke dulde ich nicht in meiner Familie!“

Auch die anderen drei Bücher nahm er kurz in Augenschein, zerriss und verbrannte sie jedoch nicht, sondern befahl mir unmissverständlich: „Du nimmst diese Schwarten morgen wieder mit, gibst sie dem Schulleiter persönlich und sagst ihm, wir wollen mit solchem Dreckszeug nichts zu tun haben!“ Dann fügte er belehrend und spürbar wehmütig hinzu: „Du sollst wissen, Karcsi, und auch du, Abel: Es waren die Kommunisten, die uns wie streunende Hunde aus unserer angestammten Heimat verjagt haben. Vergesst das niemals!“

Mir schien, er konnte sich seiner bitteren Tränen nicht mehr erwehren, denn er verließ schlagartig den Raum. Die psychischen Wunden, welche ihm reichlich zwei Jahre zuvor durch die brutale Ausweisung zugefügt worden sind, waren offenbar noch zu frisch, als dass er mir gegenüber hätte vielleicht etwas feinfühliger reagieren können.

Hierzu sofort eine passende Ergänzung:

Im September 2010 gab es bei uns in Meißen wieder ein Treffen von Ungarndeutschen aus Mágocs. Einige kannten meinen Vater von früher (er wählte 1969 den Freitod).

Und wie es das Schicksal wollte, erfuhr ich von einem sichtbar hochbetagten Herrn erstmals den wahrscheinlich maßgeblichen Grund für unsere brutale Aussiedlung.

Er könne sich noch sehr gut daran erinnern, sagte der als direkter Zeuge eines fatalen Vorfalls durchaus glaubwürdige Senior, wie meinem Vater während einer heftigen Auseinandersetzung mit zwei Beamten der neuen Macht plötzlich die Sicherung durchbrannte und er den Männern ins Gesicht schrie: „So wie ihr Kommunisten aufgetaucht seid, so werdet ihr eines Tages auch wieder verschwinden! Darauf könnt ihr euch verlassen!“

Endlich ist mir einiges verständlich! Wie sonst wäre auch zu erklären, dass wir, obzwar bettelarm, gnadenlos vertrieben worden sind, alle unsere Verwandten hingegen bleiben durften, die wiederum teils etwas begütert waren?

Um das Bild einigermaßen abzurunden, will ich meine geschätzte Leserschaft auch davon in Kenntnis setzen, dass politische Themen innerhalb unserer elterlichen Familie weitgehend tabu waren, erst recht hier in Deutschland, allenfalls ursächlich den seelischen Zerwürfnissen meines Vaters geschuldet. Insbesondere daraus resultierte wohl auch meine grenzenlose Fassungslosigkeit und Enttäuschung nach der bezeichnenden Szene vom Juni 1950. Dessen ungeachtet sei aus tiefstem Herzen betont, dass ich ihm seinen spontanen Zornesausbruch niemals wirklich übel nehmen konnte, zumal er sich bald darauf bei mir reumütig entschuldigte. Aber der markante Vorfall selbst bewirkte eine bis dato unerwartete Richtungsänderung in meinem Leben.

Wie ging es danach weiter?

Selbstverständlich habe ich am nächsten Tag Vaters Anweisung strikt befolgt. Ich nahm die drei verbliebenen Bücher und brachte sie schon frühmorgens unserem Schulleiter. Seine jederzeit freundliche Sekretärin ließ mich auch anstandslos zu ihm gehen. Meine Aufregung war indessen nicht zu verbergen. Und bevor ich ihn überhaupt zu grüßen vermochte, empfing er mich, an seinem Schreibtisch sitzend, mit den ehrenden Worten: „Ach, unsere Sportskanone! Was treibt dich zu mir?“, wobei er bereits neugierig auf die Bücher schielte. Daraufhin stotterte ich sehr verunsichert den Satz: „Mein Vater meint, diese Schriften von Lenin und Stalin wären nicht gut für mich.“ „Bedauere, andere habe ich jetzt leider nicht“, war sein schlichtes Echo. Er sah mir prüfend ins Gesicht, zeigte mit der linken Hand auf den Konferenztisch und schwieg, was ich als Aufforderung zum Ablegen der Bücher und zum Gehen deutete. Ergo befolgte ich sein stilles Geheiß, ohne auf den Verbleib des vierten Bandes zu verweisen, und verabschiedete mich mit den Worten: „Danke und auf Wiedersehen, Herr Büttner!“, worauf er seinen Standardgruß „Freundschaft!“ erwiderte. Anschließend eilte ich spürbar doppelt erleichtert zum Russisch-Unterricht.

Erst Jahre später, nachdem mein einstiger Schulleiter bereits oberster Chef der Kreispionierorganisation von Meißen war und sich mit kritischem Blick auf meine Person anscheinend ziemlich sicher glaubte, dass er mir etwas Außergewöhnliches anvertrauen könne, sagte er mit sichtlichem Stolz:

„Ich habe mir während jener Minuten, als du mir die Bücher zurückbrachtest, fest geschworen, dich fortan gezielt unter meine Fittiche zu nehmen. Und wie ich nunmehr einschätze, ist es mir auch gelungen, dich in eine progressive Bahn zu lenken. Oder irre ich mich etwa?“ Nein, Erich, ich schulde dir fraglos in vielerlei Hinsicht aufrichtigen Dank“, war meine ehrliche Antwort (er hatte mir zuvor das vertraute Du angeboten).

Rückschauend muss ich dem Manne wirklich anerkennend zugestehen, dass er zeitlebens von der Idee eines humanen Sozialismus felsenfest überzeugt war und sich auch buchstäblich bis zu seinem letzten Atemzug dafür abmühte. So dürfte es kaum jemanden befremden, dass die meisten seelischen Wunden, welche ihm zugefügt worden sind, nicht vom angeblich überall lauernden „Klassenfeind“ stammten, sondern von seinen engstirnigen „Kampfgefährten“.

Zu dieser Sache gleich eine scheinbar nichtige, jedoch bezeichnende Episode:

Nachdem ich mein fünfjähriges Direktstudium zum Lehrer für Deutsch und Geschichte am Pädagogischen Institut in Dresden erfolgreich abgeschlossen hatte, erhielt ich meine erste Anstellung an einer Polytechnischen Oberschule unweit von Meißen.

Schon bald darauf empfand ich auch während meiner außerunterrichtlichen Tätigkeit große Freude, indem ich mit interessierten Mädchen und Jungen meiner Klasse über viele Wochen hinweg das wundervolle Kunstmärchen „Kalif Storch“ von Wilhelm Hauff einstudierte. Dies passte dem dortigen Parteisekretär ganz und gar nicht. Ihm missfiel das „klassenneutrale Stück“, wie er besonders mir gegenüber mehrfach betonte. Erich Büttner hingegen sorgte dafür, dass es anlässlich eines offiziellen Pioniergeburtstages (13. Dezember 1966) sogar im hiesigen Stadttheater Prämiere hatte. Dort waren nicht nur die Eltern der jungen Akteure hellauf begeistert.

Mein ehemaliges Idol in politischer Hinsicht war jedenfalls kein Sprücheklopfer und erst recht kein Drückeberger. Obwohl er gelegentlich selbst bittere Niederlagen einstecken musste, wäre ihm gewiss niemals in den Sinn gekommen, seinem Leitbild von einer gerechten Gesellschaft abzuschwören. Man hätte ihn garantiert auch zu keiner Zeit als skrupellosen Wendehals erlebt. Aber er ist ja schon lange tot, der geradlinige, fast legendäre Haudegen Erich Büttner. Nur meine Erinnerung an ihn lebt noch.

Ergo will ich freiheraus bekennen, dass seine beinahe leuchtenden Worte von einst, stets gepaart mit der festen Absicht, sie in Taten umzusetzen, nicht nur Abel und mich regelrecht fasziniert haben. Die meisten Schüler waren von ihm überaus angetan, speziell dank seiner außerunterrichtlichen Maßnahmen. Das erstreckte sich von regelmäßigen FDJ-Nachmittagen (Organisation „Freie Deutsche Jugend“ in der DDR) mit politischen Schulungen, jedoch auch körperlichen Aktivitäten (Sport und Spiele sowie Wanderungen), bis hin zu einem für uns ungemein bewegenden Höhepunkt, als wir unter seiner Regie im August 1951 zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten mit nach Berlin fahren durften.

Besonders eindringlich und ebenso anhaltend wirkten seine theoretischen Unterweisungen während unserer nachmittäglichen Zusammenkünfte in einer Gruppe von interessierten Schülern. Er sprach mit leidenschaftlicher Hingabe über Völkerverständigung, Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle und der gleichen mehr, darunter extra gedankenreich über die geschichtliche Rolle der Arbeiterklasse sowie deren theoretische Begründung durch Karl Marx und Friedrich Engels. Und das, obwohl oder vielleicht gerade, weil erst fünf Jahre nach dem Ende des schrecklichsten Krieges aller Zeiten vergangen waren, dessen grausame Wunden sich noch überall täglich offenbarten. Nie wieder sollte ein derart barbarisches Gemetzel durch profitgierige Monopolverbände und deren willfährigen Lakaien ausgelöst werden.

Welcher junge Mensch von dreizehn oder vierzehn Jahren hätte sich davon nicht entflammen lassen, gar, wenn er persönlich schon viel Schlimmes durchmachte? Abel und ich waren jedenfalls beseelt vom Glauben an der realen Chance, eine neue und bessere Welt aufzubauen und dabei selbst aktiv mitzuwirken. Konkrete Vorstellungen hatten wir allerdings nicht. Aber die Idee verlieh uns Flügel.

Mit der christlichen Lehre, deren Grundzüge uns bis dahin halbwegs vertraut waren und die uns auch eine überwiegend verlässliche Orientierung gaben, hatte die neue Art jungfräulichen Denkens indessen nicht viel gemein (sofern wir von der urwüchsigen Sehnsucht der Menschen nach allgemeinem Wohlbefinden einmal absehen).

Deshalb verspüre ich mich jetzt dringend veranlasst, nochmals ausdrücklich zu betonen, dass es mir absolut fernliegt, religiöse Gefühle und Bekenntnisse von Gläubigen zu verletzten. Damit würde ich ja meinen eigenen Erzeugern posthum sehr wehtun. Schließlich haben sie mir das Höchste geschenkt, was ich besitze, nämlich mein Leben, dazu Liebe und Geborgenheit, jedoch auch eine gute Portion kritischer Toleranz: „Junge, habe stets Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! Du kannst irren. Aber hülle dich nicht in Schweigen, wenn du es für nötig hältst, dich über bestimmte Sachverhalte zu äußern!“, war mehrfach ihre gütige Empfehlung.

Sonach will ich den verehrten Lesern ohne Vorbehalt anvertrauen, dass meine Eltern ausnehmend glücklich gewesen wären, hätte sich ihr mittlerer Sohnemann für ein Studium der Theologie entschieden. Dies gilt natürlich erst recht für Abel. Sie dachten bereits gezielt an eine sechsjährige Ausbildung am Katholischen Priesterseminar in Erfurt. Vorher hätten wir freilich ein Gymnasium oder die Volkshochschule besuchen müssen, um das dafür erforderliche Abitur zu erwerben. Doch es kam anders. Wir fühlten uns einfach nicht dazu berufen, schon wegen des orthodoxen Gelübdes zur ehelichen Keuschheit nicht, das bei katholischen Würdenträgern von ihrer stockkonservativen Oberhoheit immer noch vorausgesetzt wird. Also beschritten wir einen völlig anderen, weltanschaulich teils sogar entgegengesetzten Pfad. Schließlich haben wir uns der Sache über Jahrzehnte hinweg beinahe mit Haut und Haaren verschrieben, wenngleich stets nur in unteren Rängen mitwirkend. Höhere Stufen einer angepassten Karriere blieben uns versagt. Glücklicherweise? Mag sein. So ist das manchmal im Leben: Was dich heute befremdet oder gar verdrießlich stimmt, kann dir bisweilen schon morgen zum Vorteil gereichen.

Das wiederum hatte spezielle Ursachen. Der maßgebliche Grund dafür könnte gewesen sein, dass unser ältester Bruder kurz vor Kriegsende in amerikanische Gefangenschaft geriet und sich nach seiner Entlassung für immer in Westdeutschland sesshaft machte, weil er dort sofort eine passende Anstellung erhielt, sich obendrein bald von einer liebeshungrigen Maid bezirzen ließ und mit ihr eine Familie gründete. Möglicherweise ward sie zuerst von ihm heiß umworben? Okay! Er war jedenfalls zwei Jahre früher in Germanien als wir. Den Rest können wir uns sicherlich denken, wenn nicht, bitte Radio Jerewan fragen (zu DDR-Zeiten eine spezielle Kategorie politischer Witze)!

Beigebend sei mir noch erlaubt, mit erquicklichem Behagen zu verkünden, dass wir uns wenigstens vom berüchtigten Tarnkappenverein „Horch und guck!“ (Staatssicherheitsdienst) nicht für seine erbärmlichen Obliegenheiten einfangen ließen. Ansonsten hätten wir uns vielleicht schon des Öfteren irgendwo verkrochen, gegebenenfalls sogar in einem Erdloch, vermutlich weniger aus Angst, wie beispielshalber Saddam Hussein, sondern infolge unbändiger Scham und Reue. Davon blieben wir gottlob verschont.

Indessen ist nicht zu leugnen, dass vereinzelt auch sehr achtbare Leute unversehens in das ominöse Räderwerk des heimtückischen Spitzeldienstes hineingeraten sind. Ehe sie sich versahen, waren sie bedauernswürdige Denunzianten.

Wir sollten Nachsicht üben und ihnen verzeihen! Ohnedies wird nur derjenige anderen niemals vergeben können, der sich selbst rundherum fehlerfrei wähnt.

Ehrenvoll wäre es ja, man hätte Abel und mir solch frevelhafte Instinkte einfach nicht zugetraut. Doch verbürgt ist das keineswegs, obwohl wir mittlerweile die „Stasiakten“ kennen, welche erstaunlicherweise auch über uns angelegt worden sind. Anscheinend witterten die fanatisierten Häscher allen Ernstes überall Feinde. Ergo kein Wunder, wenn sie selbst überzeugte Sozialisten argwöhnisch beäugten. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Wie es schließlich endete, ist uns allen hinlänglich vertraut.

So macht jede Generation ihre eigene Erfahrung. Wir haben mit der beabsichtigten Verwirklichung eines uralten Menschheitstraumes infolge von teils riesigen Missständen im Lande und vereinzelt sogar verbrecherischen Praktiken durch einige Machthaber letztlich zu Recht Schiffbruch erlitten. Dabei hatten Abel und ich noch enormes Glück, einigermaßen glimpflich davonzukommen, trotz „Systemnähe“ nicht unbedingt lebenslänglich verdammt zu sein. Das hoffe ich jedenfalls!

Ob unsere Nachfahren einiges von dem, was wir überwiegend ehrlich wollten, jedoch aufgrund mancherlei Widrigkeiten nicht vollbrachten, jemals besser ausfechten werden, steht vorerst noch in den Sternen.

Bei alledem liegt es mir fern, etwas zu beschönigen oder mich der eigenen Verantwortung zu entziehen. Für unser bekundetes Denken und Tun sollten wir sehr wohl allenthalben geradestehen. Des Weiteren geht es mir nicht darum, etwa das Gesamtsystem verteidigen zu wollen oder es selbstherrlich zu ächten, denn ich war ihm viel zu sehr zugetan, als dass ich angemessen objektiv sein könnte. Im Nachhinein lässt sich sowieso nichts mehr ändern (auch wenn wir zwingend gehalten sind, vernünftige Lehren abzuleiten). Und meinen Lesern gegenüber will ich nur aufrichtig sein. Sonst gar nichts. Am Ende wird ohnehin jeder nach seinem Ermessen urteilen.

Aber eines empört mich durchaus, nämlich der merkwürdige Standpunkt einzelner Mitbürger, wonach buchstäblich alles schlecht geredet wird, was in der ehemaligen DDR war und wie es sich vollzog, unsere aktuellen sozialen Verhältnisse hingegen als das Nonplusultra (Beste, Optimale) gepriesen werden, nahezu mit einem Glorienschein versehen.

Allein so war und ist es nicht. Das konkrete Leben verläuft anders, als es sich manche engstirnige oder böswillige Schwarz-Weiß-Maler zuweilen in ihren vernebelten Hirnen vorstellen oder unter Umständen auch wünschen.

Ihr mutwilligen (?) Brunnenvergifter, schaut doch endlich genauer hin, und ihr werden vielleicht eines Besseren belehrt!

Ein gewisses Verständnis habe ich dagegen für Personen, die ihren gewaltigen Zorn auf das einstige System nicht bändigen, ihren ureigenen Hass auf bestimmte Leute von damals einfach nicht mindern oder gar löschen können, weil ihnen furchtbar Schlimmes zugefügt worden ist, wie etwa der renommierten Autorin Freya Klier. Selbst kenne ich sie leider nicht, urteile also nur nach ihren Publikationen und sonstigen Verlautbarungen. Sie traut offensichtlich auch keinem früheren Linientreuen zu, dass er sich jemals ändern könne.

Dabei soll sich einstmals kein geringerer als Winston Churchill, ein bekennender Antikommunist, nach anscheinend kritischer Wertung seiner eigenen Lebensreise mit Blick auf das sinnträchtige Denken und Tun eines Menschen dergestalt geäußert haben: „Wer in seiner Jugend kein Kommunist war, hat kein Herz; wer in seinem Alter noch Kommunist ist, hat keinen Verstand.“ Machen wir uns kühn einen Reim darauf!

Doch egal, wie dieser auch immer ausfallen möge, auf mich bezogen, sei hier ausdrücklich betont: Ich konnte und wollte es niemals allen recht tun! Das wird mit absoluter Sicherheit auch fernerhin so bleiben!

Apropos Freya Klier:

Gleichsam als solidarische Bestätigung ihrer hartnäckigen Sicht auf erlittenes Unrecht erwies sich die Dankesrede des chinesischen Literaten Liao Yiwu nach seiner Auszeichnung mit dem Friedenspreis zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse am 14. Oktober 2012. Auch er vermag seine heftige Abneigung gegenüber dem Regime in seiner einstigen Heimat nicht zu bezähmen (war dort vier Jahre in Haft, lebt jetzt als Exilant in Deutschland). Seine ungestüme Anklage jener Verhältnisse (übrigens auch der einschlägigen Profiteure des Westens) zeugt von schicksalhafter Verbitterung. Offenbar kann er nicht verzeihen, was ihm einst von überaus brutal Herrschenden angetan wurde. Ja, wir Menschen sind manchmal so.

Das Elbmonster

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