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Im Unterschied zu Abel standen an meiner Wiege keine anmutigen Grazien und erst recht nicht der praktisch über alles gebietende Mammon. Für die weitere Laufbahn des Heranwachsenden sind das jedoch fast zu allen Zeiten und beinahe an jedem Ort ebenso bedeutsame Voraussetzungen wie bestimmte genetische Faktoren (von zufälligen Glücksumständen einmal abgesehen). Bildung und Erziehung haben dann die Funktion, die entsprechenden Möglichkeiten aufzuspüren und zielgerichtet zu nutzen, um sowohl Wissen als auch Können und Überzeugungen zu vermitteln. Dazu kommt die mehr oder weniger beabsichtigte Anerziehung von moralischen Werten. Falls sich das noch durch die sinnbildliche Erfahrung des großen deutschen Pädagogen Salzmann (1744 bis 1811) ergänzt, dass „die Sympathie zum Lehrer dem Stoff goldene Brücken schlägt“, erweisen sich die Bedingungen für das Gedeihen des Zöglings als nachgerade perfekt.

Für unseren rätselhaften Freund Abel, der gewiss noch für manche Verwunderung sorgen wird, traf das während seiner Kinderjahre im hohen Maße zu. Seine Eltern waren nicht unbedingt reich, aber durchaus wohlhabend, weil beide von ihrer stammeshauslichen Herkunft schon relativ früh gut ausgestattet.

Bei uns hingegen dominierte überwiegend der garstige Bruder Schmalhans, ein nahezu ständiger Mangel an irgendwelchen materiellen Gütern, insbesondere Lebensmitteln. Deshalb ist mir noch bestens in Erinnerung, was es sinnbildlich heißt, am Hungertuch zu nagen, quasi des Öfteren unfreiwillig zu fasten.

Während sich meinem Vater die bisweilen holde Göttin Fortuna insofern einmal recht gewogen zeigte, als er zumindest eine vierjährige Schulbildung genießen durfte, blieb unserer ausnehmend fürsorglichen Mutter in ihrer Kinder- und Jugendzeit selbst das strikt verwehrt. Sie war mehr als zwei Jahrzehnte lang Analphabetin, gleichwohl nicht ungebildet, denn sie verfügte über ein erstaunliches Erfahrungswissen, stets aufs Engste verknüpft mit einer phänomenalen Warmherzigkeit.

Im Übrigen halte ich die Annahme, dass nach mangelhaftem Besuch von grundlegenden Lehranstalten die Betreffenden notgedrungen dumm bleiben müssen, für einen weitverbreiteten Irrglauben (was sich selbstverständlich nicht gegen die planmäßige Absolvierung von Bildungsstätten richtet). Es sei hier nur auf Thomas Alva Edison (1847 bis 1931) verwiesen, wohl einer der nützlichsten Bürger von ganz Amerika und der Menschheit schlechthin, dessen unmittelbare Schulbildung äußerst dürftig ausfiel, weil er einfach keine Lust dafür verspürte. Allerdings konnte ihn hernach seine Mutter, von Beruf Lehrerin, unter ihre Fittiche nehmen. Der später überaus tüchtige Mann brachte es immerhin fertig, über zweitausend Patente anzumelden.

Leistung erwächst eben stets aus dem harmonischen Dreiklang von Begabung, Motivation und der realen Möglichkeit. Was für ein grandioser Erfindergeist! Ich verneige mich gern und voller Respekt vor solch überragenden Persönlichkeiten.

Doch auch meinen Eltern gegenüber empfinde ich fortwährend dankbare Bewunderung, obgleich auf ganz anderer Ebene. Abgesehen davon, dass ich sowieso meine, wer Vater und Mutter nicht ehrt, ist meist selbst des nachhaltigen Beachtens nicht wert (auch hier gibt es begründete Ausnahmen!), haben sie Taten vollbracht, die man im Nachhinein allenfalls mit sichtlichem Staunen Revue passieren lässt.

Wenn ich gelegentlich meinen Kindern und Enkeln davon erzähle, fühlen sie sich regelrecht in eine Märchenwelt hinein versetzt oder glauben gar, ich hätte dereinst noch unter urgesellschaftlichen Verhältnissen gelebt.

Sicher, wir hatten damals weder elektrischen Strom (bei Dunkelheit zauberte eine Petroleumlampe etwas Licht in die karge Behausung), ergo auch kein Radio, geschweige denn Fernsehen oder sonstige moderne Informationsmittel, noch Anschluss an ein öffentliches Wassernetz beziehungsweise überhaupt kaum Teilhabe an zivilisatorischen Errungenschaften. Sie kamen uns so gut wie nie zu Gesicht, mit Ausnahme von einigen Arbeitsgeräten und vereinzelt auch Kleidungsstücken, die wir hin und wieder gegen selbst erzeugte Produkte, vornehmlich Korbwaren, auf Wochenmärkten oder bei umherziehenden Händlern eintauschten.

Geld war uns zwar nicht völlig fremd, aber wir besaßen denkbar selten etwas davon, und wenn doch, so stets in äußerst dürftigen Mengen. Daher hatten unsere Eltern auch nur sehr sporadisch eine minimale Chance, beispielsweise spezielle technische Erzeugnisse, die zeitgemäß waren, zu erwerben, um sie in ihrer kleinbäuerlichen Wirtschaft für einen effektiveren Stoffwechselprozess mit dem vorhandenen geografischen Milieu oder andere Zwecke sinnvoll zu nutzen.

Natürlich besaßen wir Kinder auch keinerlei gekauftes Spielzeug. Langeweile kam trotzdem nicht auf, denn wir konnten uns selber helfen. Not macht bekanntlich erfinderisch. Außerdem hatten wir auch von klein auf regelmäßig bestimmte Pflichten zu erledigen. Und soweit ich mich entsinne (mein Langzeitgedächtnis funktioniert noch recht gut), erschien uns das keineswegs oder nur selten als frustrierend. Es erfüllte uns vielmehr mit sichtlichem Stolz, unseren eigenen Beitrag zum Wohle der Familie leisten zu dürfen, indem wir uns gemäß unserer individuellen Kräfte beispielshalber um die verschiedenartigen Haustiere kümmerten. Da gab es immer reichlich zu tun. Aber wir hatten auch oftmals Freude daran und irgendeinen Nutzen sowieso, bis hin, dass ich später in Deutschland schon mit vierzehn Jahren vollkommen selbstständig war. Dies ist keineswegs übertrieben, was entsprechende Zeugen sicherlich anstandslos bestätigen würden.

All das wird schnell verständlich und daher auch leicht nachvollziehbar, sobald man weiß, dass meine Eltern mit leiblichem Nachwuchs sattsam gesegnet waren. Insgesamt acht Kinder brachte unsere Mutter zur Welt. Zwei davon habe ich freilich niemals gesehen (auch nicht auf einer Fotografie, denn so etwas kannten wir damals noch nicht), weil sie bereits starben, bevor ich als sechster Sprössling geboren wurde.

Bisweilen vernehmen wir die frappierende Mitteilung, dass irgendwo auf afrikanischem Terrain bäuerliche Familien eine gewisse Kinderschar haben müssen, welche eigens im Sinne möglicher Arbeitskräfte gezeugt wird, um dem wenig fruchtbaren Boden gemeinsam zumindest das Notwendigste abzugewinnen, damit sie überleben.

Mit anderen Worten: Sie sind zu arm, sich nur eine geringe Zahl an Nachwuchs leisten zu können, das heißt, als Kleinfamilie würden sie allesamt glattweg verhungern.

Zudem ist uns wahrscheinlich bekannt, dass es innerhalb früherer Sippschaften durchaus vorkam, Alte, Schwache und unheilbar Kranke einfach sterben zu lassen oder mitunter sogar absichtlich zu töten, weil sie zum weiteren Bestand der Großfamilien selbst nichts mehr beitragen konnten und damit letztlich die physische Existenz aller gefährdeten.

Das klingt zwar furchtbar brutal, spielte sich aber in manchen Gefilden teilweise so oder ähnlich ab.

Derart archaisch ging es während meiner Kinderzeit indessen gottlob nicht zu, obwohl wir als Familie weitestgehender Selbstversorgung, abseits von größeren Ortschaften, unser ohnehin kümmerliches Dasein in materieller Hinsicht überwiegend eher schlecht als recht fristeten. Dennoch wäre es falsch zu behaupten, wir hätten niemals das wunderbare Gefühl persönlicher Zufriedenheit verspürt. Allein wenn ich daran denke, wie glücklich wir sein konnten, sobald uns die Mutter ein besonders schmackhaftes Essen bereitete oder uns ein Stück vom Kuchen gab, den sie extra backte, um uns zu erfreuen, wird die naheliegende Vermutung vom ständigen Verhärmtsein, welches uns die mannigfachen Kümmernisse zwangsläufig aufgebürdet haben müssten, bereits widerlegt. Auch wenn wir gewissermaßen nichts zu lachen hatten, war es uns trotzt allem oftmals ein Herzensbedürfnis, es zu tun, mithin wesenseigen. Außerdem streichelten uns die Eltern wiederholt mit einem anerkennenden Blick oder durch ihr aufmunterndes Lächeln, selbst wenn sie die unaufhörlichen Sorgen um das tägliche Brot manchmal fast erdrückten. Die Tugend, mit dem auszukommen, was man hat, und mag es noch so bescheiden sein, fühlt sich offenbar in den Hütten heimischer als in manchen Palästen.

Darüber hinaus konnten wir uns verschiedentlich auch an den jeweiligen Gegebenheiten der äußeren Natur sehr erfreuen, an der Pflanzen- und Tierwelt ebenso wie an Sonne, Mond und Sternen. Schon das fortwährende Spiel der bunten Schmetterlinge, ihr harmonischer Reigen im Lichterglanz, das ständige Umwerben, Foppen und Lieben, ist doch allenthalben eine überaus faszinierende Darbietung. Oder bewusst wahrzunehmen, wie sich zum Beispiel die Knospen bestimmter Blumen von einem Tag zum anderen entfalten, um ihre ganze Pracht zu offenbaren, wirkt sicher gleichermaßen bezaubernd auf unsere Sinne. All das und vieles mehr nahmen wir häufig und gerne in Augenschein, beobachteten es manchmal stundenlang und zehrten lange von den teils verblüffenden Eindrücken.

Wir lebten in einem winzigen Dorf namens Kispuszta (Kleine Puszta) mit insgesamt sechzehn datschenähnlichen Gebäuden, die lediglich aus Holz, Lehm und Stroh errichtet worden sind. Andere Baumaterialien standen uns nicht zur Verfügung. Die Bewohner schufen ihre Katen selbst, wobei sich die Nachbarn gegenseitig halfen. In der spärlichen Siedlung, welche sich obendrein noch auf drei Täler verteilte, wohnten ungefähr achtzig bis neunzig Leute, die sich hauptsächlich von landwirtschaftlichen Produkten aus eigenem Anbau oder teils auch als Wilderer ernährten. Dies war freilich strengstens untersagt, und wehe dem, der sich dabei erwischen ließ, aber man musste sich bei größter Hungersnot, besonders während der Winterzeit, ja irgendwie helfen, selbst mit Wissen um die Gefahr, schlimmstenfalls im Gefängnis zu landen.

Jenes merkwürdige Dörflein, in dem ich meine Kinderjahre verbrachte, befand sich im Süden Ungarns, unweit der Grenze zum ehemaligen Königreich Jugoslawien. Mittlerweile ist es längst geschleift worden, dem Erdboden gleichgemacht, wohl für immer liquidiert. Weg, aus und vorbei! Nur die Erinnerung stirbt nicht.

Der einschlägige Landstrich wurde übrigens auch als „Schwäbische Türkei“ bezeichnet, was unter anderem daran erinnert, dass er einstmals zum Osmanischen Reich gehörte.

Die nächste Gemeinde mit beträchtlich mehr Einwohnern (Abels Wohnsitz!) lag etwa sechs Kilometer von unserer Niederlassung entfernt. Dort wurden zuweilen Entscheidungen gefällt, die auch unsere Angelegenheiten betrafen. Dennoch wusste man meistens kaum etwas voneinander.

Wir vegetierten ziemlich isoliert, aber sehr naturverbunden. Unsere Notdurft verrichteten wir fast immer im Freien, je nach Drang irgendwo auf heimatlichem Boden stehend oder kauernd, meist jedoch auf dem Misthaufen, welcher sich in der Nähe der kleinen Stallungen befand. Als „Toilettenpapier“ benutzten wir Gras, Heu, Blätter oder sonstig geeignete Materialien. Etwas davon war immer da.

Nur während der frostklirrenden und schneegekrönten Monate konnte es recht unangenehm werden. Da trieb es uns doch eher in ein kleines Holzhäuschen, welches unser Vater speziell für solche Zwecke gezimmert hatte. Ansonsten waren wir auch in dieser Hinsicht mehr der Natur zugetan, zumal das stille Örtchen ohnehin meist den Familienmitgliedern weiblichen Geschlechts vorbehalten blieb.

Vielleicht verbarg sich hinter einer solch scheinbaren Nebensächlichkeit noch so etwas wie ein kleines Überbleibsel aus dem früheren Matriarchat, und zwar im besten Sinne des Wortes, indem man die Frau als Hauptträgerin des Lebens besonders fürsorglich verehrte und beschützte. Unsere Mutter, so klein sie auch war, erfuhr jedenfalls innerhalb der Familie überwiegend eine hohe Wertschätzung, was ich für sehr aufschlussreich halte.

Den Küchenherd, die alleinige Koch- und Heizstelle, fütterten wir ausnahmslos mit Holz, das hauptsächlich wir Kinder aus den anliegenden Wäldern beschaffen mussten, indem wir es suchen, auflesen und heimbringen sollten. Doch manchmal gingen wir dabei auch ziemlich kühn zu Werke, obwohl es streng verboten war, Sträucher und Bäume zu fällen. Aber wir hatten Glück und freuten uns jedes Mal wie kleine Schneekönige darüber, nicht erwischt worden zu sein.

Den staatlichen und privaten Forstbeständen schadeten unsere eigenmächtigen Aktionen mit Beil und Säge keineswegs, im Gegenteil, sie wurden dadurch gut ausgelichtet und konnten sich noch üppiger entfalten. Es entsprach ja auch keiner echten Freveltat. Ein gewisses Angstgefühl war trotzdem unser ständiger Begleiter, und das nicht zu Unrecht, wussten wir doch von den möglichen Folgen, die mitunter sehr brutal sein konnten, wie es uns vom Hörensagen hinreichend vertraut war.

Das einzige Verkehrsmittel, dessen wir uns bedienen konnten und auch mussten, um zu überleben, waren unsere Füße. Nur ein paar Dörfler, denen es materiell etwas besser ging, besaßen schon einen Ochsenkarren oder vereinzelt sogar einen Pferdewagen.

Bei sehr dringendem Bedarf halfen sie uns allerdings mit ihren Fuhrwerken und Zugtieren.

Gelegentlich durften wir auch zu den traditionellen Wochenmärkten mitfahren, wo wir unter anderem Salz, Zucker oder auch das nötige Schuhwerk für den oftmals grausamen Winter erwarben (während der Sommerzeit liefen wir selbstverständlich barfuß). Sobald wir die beliebten Handelsorte nur per pedes besuchten konnten, was hin und wieder vorkam, war dafür meist ein ganzer Tag einzuplanen.

Unsere lebenden Habseligkeiten beschränkten sich jedenfalls auf einige Schafe und Ziegen sowie Hühner und höchstens zwei Schweine. Ach ja, zwei Katzen hatten wir auch. Doch von wegen „Whiskas kaufen“! Wenn es gegenwärtig hierzulande und auch anderswo riesige Unternehmungen für die Herstellung und den Vertrieb von Tierfutter gibt und sie daraus auch noch gewaltigen Profit schlagen, so ist das zweifelsfrei Ausdruck eines relativ hohen Lebensstandards der jeweiligen Bevölkerungskreise, was sich durchaus positiv werten lässt. Unsere Dachhasen hingegen waren nicht als liebliche Schmusemiezen in der Art gefälliger Stubentiger gehalten und verwöhnt worden, sondern allein wegen ihrer einstmals natürlichen Bestimmung, nämlich Mäuse und sonstige Schädlinge zu fangen. Und das machten sie auch emsig, denn sie existierten davon, wenngleich bei Weitem nicht immer wie die Made im Speck. Im Vergleich dazu haben unzählige Samtpfoten derzeit das reinste Paradies, besonders hier in Deutschland. Es ist ihnen zu gönnen.

Im Übrigen kann ich mich gar nicht daran erinnern, dass auch nur eine der Katzen sich jemals in unserer Wohnung aufgehalten hätte. Sie waren immer draußen und bekamen hin und wieder einen kleinen Happen, damit sie uns die Treue hielten.

Außerdem besaßen wir auch noch einen Wachhund. Es gab ja genügend Landstreicher, vorwiegend umherziehende Zigeunergruppen, die aufs Stehlen erpicht waren, da sie mit den üblichen Arbeitspflichten zum Zwecke des ehrbaren Broterwerbs wenig oder gar nichts im Sinne hatten (ich weiß, dass die Bezeichnung Zigeuner heute ein Schimpfwort ist, aber die Be- griffe Sinti und Roma waren uns seinerzeit unbekannt, und wir hätten sie wahrscheinlich auch nicht benutzt).

Für schuldlos Not leidende und daher wirklich hilfsbedürftige Bettler, die sich bisweilen auch zu uns verirrten, hatten meine Eltern und auch die anderen Dorfbewohner indessen stets etwas übrig. Sobald sich jedoch besonders hartnäckige Eindringlinge allzu verwegen zeigten, ging es oftmals gnadenlos zur Sache. Da waren sich alle Siedler spontan einig, indem sie entschlossen zu den „Waffen“ griffen, die sich gerade in ihrer Nähe befanden.

Dass es nach derart heißen Gefechten auch Verletzte gab, dürfte kaum jemanden verwundern. Tote waren allerdings nicht zu beklagen. Eine solche Schreckensnachricht erreichte uns erst gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, als die „Russen“ kamen (diese Vokabel verwenden wir doch ebenso oft unpräzise wie zum Beispiel „Amerikaner“, obwohl die ehemalige Sowjetunion in Wirklichkeit über hundert Nationen und ethnische Minderheiten umfasste; mit der Sprache nimmt man es eben mitunter nicht so genau).

Im übernächsten Dorf hatte man drei uniformierte Männer mit mongolidem Aussehen während eines Saufgelages absichtlich überrascht, kurzerhand erschlagen und in einer nahe befindlichen Jauchengrube versenkt, weil sie ein Mädchen abscheulich missbrauchten, indem sie es hintereinander vergewaltigten und damit furchtbar schändeten.

Das gleiche Verbrechen widerfuhr übrigens wenige Tage vorher auch meiner Schwester im Alter von siebzehn Jahren. Aber wir hatten keine Chance, uns zu rächen, zumal der Vater und die älteren Geschwister gerade nicht anwesend waren und die Nachbarn davon nichts mitbekamen. Insofern verspürten wir unmittelbar nach der Hiobsbotschaft, welche sich schneller als ein Lauffeuer verbreitete und bald überall die Runde machte, eine Art persönliche Genugtuung über die Vergeltungsmaßnahmen, selbst wenn sie noch so teuflisch abgründig und daher völlig unangemessen waren. Dies empfanden wir damals freilich nicht so, denn wir glaubten eher, die Strafe wäre durchaus gerecht, weil in unserer Gegend das Prinzip der Selbstjustiz keineswegs anrüchig oder verpönt war.

Wie es ein wenig später hieß, verscharrten die in ihrer Ehre zutiefst verletzten und daher ungeheuer zornentbrannten Jünger irgendeiner Rachegöttin (Erinnye, Eumenide, Furie oder Nemesis) bald darauf die drei Leichname auf einem unwegsamen Gelände am Rande ihrer Siedlung. Schließlich hätten umherstreuende Hunde die Überreste der zuvor äußerst kaltblütig Ermordeten wieder herausgeschart und auch aufgefressen.

Obwohl wir an manch widerwärtige Begebenheiten halbwegs gewöhnt waren, offenbarte sich jenes grauenvolle Geschehnis namentlich für uns Kinder als der reinste Horror, der uns nicht nur maßlos erschütterte, sondern zugleich für immer in unseren gemarterten Hirnzellen einbrannte. Niemals werde ich die schauderhafte Erinnerung an den bestialischen Vorfall aus meinem Bewusstsein bannen können. Sie bleibt mir als eine außergewöhnliche und gleichermaßen unheimliche Begebenheit zeitlebens erhalten. Dessen ungeachtet sollten mich noch weitere Schicksalsschläge mit ähnlich makabren Folgen ereilen. Und ich vermag auch nicht die gängige Auffassung vorbehaltlos zu akzeptieren, wonach die Zeit alle Wunden heilen würde. Wenigstens hinsichtlich unserer psychischen Verletzungen meine ich, dass sie vereinzelt selbst nach Jahrzehnten wieder aufreißen können und uns mitunter zu Handlungen treiben, die normalerweise als unergründlich gelten und daher verstandesmäßig auch kaum nachvollzogen werden können. Aber dazu kommen wir später!

Fraglos verbleiben zuweilen auch weniger dramatische Kindheitserlebnisse in unserem Oberstübchen sicher verankert, erst recht, sobald sie einzigartig waren, wie beispielshalber das hier preisgegebene (dargeboten aus jetziger Sicht).

An einem sonnenklaren, milden Frühlingstag ließ sich unerwartet eine Schar vagabundierender Zigeuner ganz in der Nähe unserer Behausung nieder, um vorübergehend zu rasten. Das auffallend lustige Völkchen zählte etwa dreißig bis vierzig Personen, vornehmlich junge Erdenbürger. Es machte sich auf einem mit frischem Gras bewachsenen Hang bequem, und ich hatte zufällig Gelegenheit, hinter einer Hecke lauernd, sein teils exotisches Treiben eingehend in Augenschein zu nehmen.

Sexuelle Lust und deren Befriedigung waren mir zwar infolge anderweitiger Beobachtungen und Gespräche nicht mehr gänzlich unbekannt, doch was ich da zu Gesicht bekam, verblüffte mich über alle Maßen.

Weil ich auch das nächste Geschehen außerordentlich gespannt beäugte, wurde ich total überraschend Zeuge einer Begebenheit, die auf mich geradezu sensationell wirkte und daher notgedrungen dauerhafte Eindrücke hinterließ. Die betreffende Szene werde ich garantiert niemals vergessen, zumal sie meine kindhafte Fantasie bis zum Bersten strapazierte. Sie entwickelte sich wie folgt:

Während Babys schon emsig an den Mutterbrüsten saugten, wurden verschiedene Speisen und Getränke aus den Rucksäcken hervorgeholt und davon erst die anderen Sprösslinge versorgt. Anschließend verzehrten die Erwachsenen sichtlich genussvoll ihren Anteil.

Nachdem offenbar allesamt gesättigt waren und ihren Durst gestillt hatten, legten sich einige auf das jungfräuliche Grün, um zu schlummern. Andere wiederum blieben sitzen, summten melancholisch anmutende Weisen oder sprachen leise miteinander.

Danach wurde meine Neugier buchstäblich auf die Folter gespannt. Man bedenke, ich war gerade mal sieben Jahre alt!

Aus der bunten Sippe erhob sich nämlich ein älterer, jedoch sehr rüstig wirkender Mann, fasste eine neben ihm sitzende jüngere, aber deutlich größere Frau an beiden Händen und half ihr beim Aufstehen. Er führte sie gewandt zu unserem nahe befindlichen Sägebock. Dort stützte sich das ansehnliche Weibsbild nach vorn gebeugt auf die Querstange des hölzernen Gestells und spreizte die Beine. Gleichzeitig holte der Typ sein Glied aus der Hose, und ich bekam regelrecht Stielaugen: Mein lieber Charlie, das war vielleicht ein Ständer! Ähnliches habe ich zuvor nur bei Pferden gesehen. Mir blieb der Mund offen, und ich wusste nicht, sollte ich gleich davonrennen oder doch weiter zusehen. Aber die Wissbegierde ließ mich auf meinem seitlichen Beobachtungsposten fest verharren. So vernahm ich, wie sich des Mannes Kolben noch zusehends erhob, als er den bodenlangen Rock der Frau gekonnt hochzog. Sie hatte keine weiteren Kleidungsstücke darunter. Ergo kam unversehens ein riesiger Hintern zum Vorschein (zumindest habe ich es damals so wahrgenommen). Der wollüstige Begatterich stieß seinen überaus straffen Penis in die anscheinend empfangsbereite Muschi. Oh, là, là! Ist das etwa schon Porno?

Nachdem er seine Begierde gestillt und das Gemüt halbwegs gekühlt hatte, liefen beide gemächlich und sogar mit unverhohlenem Stolz wieder zu ihren Plätzen.

Was mich während jenes verblüffenden Vorgangs arg verwunderte und noch heute nicht aus dem Sinn geht, war die äußerst merkwürdige Atmosphäre innerhalb der Gruppe: Solcherart Zwischenspiele waren den Rastenden mutmaßlich schon längst hinreichend vertraut, als dass es sie im gegebenen Fall auf irgendeiner Weise gestört hätte. Freilich blickten einige lüstern auf den öffentlich vollzogenen Geschlechtsakt, andere hingegen schauten fast teilnahmslos hin, und die meisten berührte es offenbar überhaupt nicht, was sich da vor ihren Augen ereignete. Vielleicht war es auch ihr Boss, dem gewisse Sonderrechte zustanden. Immerhin konnte ich anschließend noch gut beobachten, wie sich ein kesses Pärchen eilends davonstahl, kurz darauf hinter einem Strohhaufen verschwand und nach einem sicherlich beglückenden Schäferstündchen mit purpurfarbenen Gesichtern wieder hurtig zum Rastplatz zurückkehrte.

Ja, genau so war das (wobei ich vorbehaltlos einräume, dass man als Kind ein anderes Raum- und Zeitempfinden hat als im fortgeschrittenen Alter).

Außerdem scheint es mir keineswegs übertrieben, wenn ich rückblickend behaupte, dass sich von meinen späteren sexuellen Erlebnissen und Praktiken keine einzige Szene so dauerhaft in meinem Gedächtnis festsetzte, wie die soeben geschilderte. Ist das nicht auffällig? Möglicherweise liegt es einfach an meiner weitgehend „normalen Veranlagung“ in erotischer Hinsicht. Nicht im Entferntesten hatte ich jemals das Verlangen, mich gleichsam wie von einer Domina auspeitschen zu lassen oder anderweitige sadistische Handlungen zu erdulden respektive meiner Partnerin zuzufügen. Manche Leute brauchen das freilich, um ihre Sinneslust zu steigern. Ach, was sind wir doch, die angeblichen Ebenbilder Gottes, bisweilen für merkwürdige Wesen!

Jetzt aber postwendend hin zu einem völlig anderen Sachverhalt!

In unserer hinterwäldlerischen Siedlung, wo sich die Füchse wohl häufiger als anderswo lieb- kosend „Gute Nacht!“ sagten, gab es tatsächlich schon eine Schule, wenngleich bei Weitem nicht nach heutigen Maßstäben. Das war ein sehr auffälliges Gebäude am Fuße des mittleren Tales, in dessen Nähe sich auch ein munterer Bach mit gelegentlich reichlichem Nass schlängelte. Jenes Rinnsal diente ursprünglich über ein künstliches Staubecken vielen Dorfbewohnern als unerlässlicher Lebensspender, darunter auch uns, bis mein Vater sich entschloss, auf dem eigenen Grundstück selbst einen Brunnen zu graben. Dieser sprudelte dann in etwa vier Meter Tiefe, und seine Quelle zeigte sich glücklicherweise auch recht ergiebig, was für uns einen enormen Fortschritt bedeutete. Über die segensreiche Errungenschaft konnten sich meine Eltern und deren ersten Kinder indessen schon vor meiner Zeit freuen, denn ich war noch nicht einmal als potenzieller Keimling unterwegs.

Unterhalb der Siedlung, am besagten Bach entlang, waren saftige Wiesen, wo auch kultivierte Weidenstöcke prächtig gediehen, deren Ruten mein Vater mit Fleiß und Geschick zum Flechten von Körben nutzte. Damit sicherte er sich einen wichtigen Nebenerwerb, der half, uns einigermaßen über Wasser zu halten.

Was nun wieder das besonders markante Objekt betrifft, welches als höchst willkommene „Lehranstalt“ von der gesamten Dorfgemeinschaft geschaffen worden ist, so befand sich darin außer einer idyllischen Mansardenwohnung vor allem ein ungewöhnlich großer Raum von annähernd fünfzig Quadratmetern. Dort wurden alle schulpflichtigen Mädchen und Jungen der Siedlung gleichzeitig unterrichtet, und zwar sämtliche Fächer von nur einem Pädagogen. Das bedurfte natürlich sowohl einer straffen Organisation des Unterrichtsgeschehens wie auch einer strengen Disziplin. So unterstützten beispielsweise die älteren Jahrgänge regulär die jüngeren, und die Starken halfen den Schwachen, was durchaus den üblichen Gepflogenheiten entsprach.

In den acht Klassenstufen befanden sich jeweils drei bis vier Schüler (in meiner zwei putzige Grazien und ich). Der Unterricht erfolgte ausschließlich in ungarischer Sprache, obwohl die meisten Vorfahren der Kinder ursprünglich deutscher Herkunft waren, also zur entsprechenden nationalen Minderheit gehörten.

Der Lehrer, ein recht kleinwüchsiger, fast kahlköpfiger älterer Herr mit stark abstehenden Ohren und spitzer Nase, dazu spindeldürr und von arg piepsiger Stimme, also naturgegeben wahrlich nicht gerade vorteilhaft ausgestattet, jedoch stets vornehm gekleidet, zeigte sich durchweg außerordentlich streng. Wenn ein Zögling einmal nicht richtig gehorchte, gab es sofort eine kräftige Ohrfeige (was die älteren Jahrgänge vermutlich locker nahmen). Aber weit schlimmer, weil viel martervoller, wirkten die Schläge mit einem sehr biegsamen Rohrstock auf die ausgestreckten Hände oder gar auf die zusammengefügten und nach oben gerichteten Fingerspitzen. Das tat furchtbar weh, wie ich aus eigenen Erlebnissen zu berichten weiß, denn auch mich und meine Geschwister hatte es mehrfach erwischt. Und nicht immer konnte man die Schmerzenstränen unterdrücken.

Unsere besorgten Eltern hingegen reagierten darauf stets mit den Standardsätzen: „Das muss vielleicht sein. Es soll euch helfen!“ Kein einziges Mal äußerten sie sich während unserer Anwesenheit gegen die soeben erwähnten harten Erziehungsmethoden. Schließlich hielten wir das für völlig normal und klagten fortan niemals mehr darüber. Hinzu kam, dass wir unseren Lehrer trotz seines derartig strengen Durchgreifens und seiner ziemlich kümmerlichen Erscheinung im Grunde genommen doch respektierten und teilweise sogar aufrichtig mochten, vornweg wahrscheinlich wegen seines umfangreichen Wissens, wovon er uns fortwährend überzeugte.

Wir kannten ja auch keinen anderen, bis eines Tages regelrecht ein Wunder geschah, weil das „gescheite Hutzelmännchen“, wie ihn die Einheimischen sowohl anerkennend und ebenso etwas spöttisch unter vorgehaltener Hand oftmals nannten, urplötzlich verschwand, als wäre er für alle Zeiten vom Erdboden verschlungen worden, wofür sich vorerst natürlich keinerlei stichhaltige Erklärung fand. Das ereignete sich im Oktober 1946.

Nach ungefähr drei Wochen muss es Zeus höchstpersönlich gewesen sein, der uns ein göttliches Wesen sandte, von allen seinen Töchtern wohl die klügste und attraktivste, die er jemals in seinem Reich auf dem Olymp gezeugt hatte.

Wir verehrten die neue Pädagogin von Anfang an wie eine heilige Ikone. Sie war ungemein faszinierend, weil ausnehmend klug, dazu bildhübsch, von feingliedriger Gestalt sowie jugendlicher Dynamik und sicherlich auch im hohen Maße gerecht, kurzum, eine von uns inbrünstig angebetete Göttin voller Anmut und Schönheit. Ich will nicht verhehlen, dass mir jenes zauberhafte Geschöpf mit seinem unsäglichen Liebreiz bisweilen schon im zarten Alter von etwa zehn Jahren in meinen nächtlichen Träumen erschien, die selbstredend überaus wonnetrunken waren. Infolgedessen wünschte ich mir damals sehnsüchtig, derart entzückende Bilder hätten sich während des Schlafens viel öfter zeigen sollen, um mich als begierigen Jüngling in einen geradezu fabelhaft genüsslichen Freudenrausch zu versetzen.

Hierauf möchte ich verallgemeinernd sogar behaupten, dass uns die Frauen auf geheimnisvoller Weise fast ein Leben lang wohltuend beschäftigen. Sie haben anscheinend die naturbedingte Veranlagung, uns Männer immer wieder zu fesseln. Goethe hat das noch schöner in Worte gefasst: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.“ So etwas Einzigartiges nenne ich ein Geschenk des Himmels!

Fortan gab es übrigens in unserer Schule auch keinerlei schmerzhafte Bestrafungen mehr. Wir Jungen erhielten zwar hin und wieder eine leichte Kopfnuss, doch auch das empfanden wir als eine außerordentlich wohltuende Berührung, mit der wir leider viel zu selten beschenkt worden sind. Kurzum, wir lernten tatsächlich der Lehrerin zuliebe. Ich habe es selbst anderthalb Jahre lang erlebt und weiß, wovon einst der namhafte deutsche Pädagoge Salzmann sprach („Die Sympathie ... “). Das ist meines Erachtens eine geradezu phänomenale Grundlage für bleibende Erfolge in einem solchen Beruf.

Auch innerhalb unserer Dorfgemeinschaft erfuhr die erhabene Madonna generell höchste Anerkennung. Man begegnete ihr in jeder Hinsicht mit gebührendem, partiell schon fast an Unterwürfigkeit grenzendem Respekt, wenn auch überwiegend mit spürbarer Distanz, kam sie doch aus einer anderen Welt, falls nicht gar von einem fremden Stern. Sie war für uns die sichtbare Verkörperung von weiblicher Grazie, bewundernswerter Intelligenz und ehrsamer Redlichkeit in einem, eine Art Personifikation von denkbar menschlich Gutem und Schönem, eine phänomenale, nahezu himmlische Erscheinung. Ihrem überwältigenden Charme konnte sich keiner entziehen. Die grenzenlos bezaubernde Lady verfügte offenbar über die edelsten und vielfältigsten Waffen einer Frau, die sie auch redlich nutzte.

Zwischenruf: Ich vertrete seit Langem und heute mehr denn je die Auffassung, dass auch femininer Liebreiz stets relativ bleibt. Mit anderen Worten: Evastöchter, deren Trumpf sich einzig und allein auf ihr faszinierendes Aussehen beschränkt, waren und sind für mich wohl selten die attraktivsten, soll heißen, der Kopf (Verstand, Charakter) ist mir wichtiger als der Busen oder sonstige Äußerlichkeiten (denn sobald man sie etwas näher kennenlernt …). Das dürfte umgekehrt nicht wesentlich anders sein: Männer, die nur ihre Muskeln trainieren, führen ein armseliges Leben.

Gleichwohl soll hier keinesfalls bestritten werden, dass Schönheit stets eine besondere Wirkung in uns auslöst. Wie sonst wäre beispielsweise zu erklären, dass sich nicht wenige junge Frauen mittels ihrer speziellen Verlockung buchstäblich nach oben „schlafen“, statt sich durch Talent und Fleiß hochzuarbeiten. Dies gilt offenkundig für die Film- und Fernsehbranche, aber beileibe nicht nur dort. Na ja, wenn’s denn Spaß macht und sogar hilft.

Und nun wieder avanti!

Lediglich der Religionsunterricht wurde nicht von unserem abgöttisch verehrten Idol erteilt. Eigens dafür kam ab März 1947 einmal pro Woche ein junger Priester von der übergeordneten Gemeinde zur Bildungsstätte nach Kispuszta, um wiederum sämtliche Schüler gleichzeitig in Glaubenslehre zu unterweisen.

Dabei erinnere ich mich heute noch recht bildhaft an seinen ersten Auftritt, der sich wie folgt zutrug:

Bevor wir Kinder ausnahmslos seinen verlockenden Worten inbrünstig zu lauschten vermochten, bewunderten die meisten von uns wohl besonders auffallend seine Tonsur, eine kreisrund geschorene Stelle auf dem Hinterkopf des Geistlichen, deren Sinn zumindest einigen Pennälern, darunter auch mir, bis dato völlig unbekannt war und demzufolge überaus rätselhaft erschien. Natürlich bemerkte er sofort unsere spezielle Neugierde, denn wir sahen ja fast wie gebannt auf den im Durchmesser etwa sieben oder acht Zentimeter großen Fleck, wo sich normalerweise ein Wirbel befindet, zumal sein Haupt ansonsten von einer opulenten Haarpracht geschmückt war. Folglich erklärte er sogleich die eigentümliche Bewandtnis des damals noch üblichen Tonsurierens, indem er uns halbwegs plausibel veranschaulichte, dass es sich um ein traditionelles Standeszeichen für katholische Mönche und eben auch Kleriker wie ihn handle, ähnlich einem Ehrendkodex.

Schon drei Tage später überraschte uns allesamt ein argloser Frechling mittels einer kahl geschorenen Stelle auf seinem kindlichen Nischel, wenngleich eher im Zickzack als schön kreisförmig ausgeführt. Anscheinend wollte er nicht bloß Aufsehen erregen, sondern obendrein möglichst auch noch zur Kaste der Erlauchten gehören. Stattdessen erntete er fortan nur Hohn und Spott von uns Mitschülern. Der über alle Maßen blamierte Junge war garantiert heilfroh, nachdem die kahle Stelle wieder zusehends von seiner bewusst verunzierten Birne verschwand. Die Blamage ward damit freilich nicht gelöscht (ja, so läuft das manchmal, ein passendes Missgeschick, und du hast zeitlebens die Lacher auf deiner Seite).

Im Vergleich dazu bildete die stets sauber geschorene Tonsur des Kaplans einen nachhaltigen Blickfang. Zudem verliebte er sich bald in die ungemein betörende Lehrerin, so unsere einstige Auffassung, was danach bei den üblichen Dorfgesprächen regelrecht zum Dauerbrenner wurde, weil es buchstäblich jeden interessierte.

Die einschlägige Beobachtung entsprach jedoch nicht ganz den Tatsachen, denn beide waren bereits seit Jahren miteinander eng verbunden, und sie hatten sogar zwei gemeinsame Söhne, nämlich Abel und Peter. Das erfuhren wir allerdings erst während unserer späteren Fahrt nach Deutschland, welche zu den ohnehin scheußlichen Umständen noch recht merkwürdig verlief, denn eine schier unglaublich düstere Prophezeiung beeinflusste mein weiteres Leben ebenso nachhaltig wie das meiner künftigen Weggefährten. Und das Fatalste daran ist, dass sie sich nach nunmehr gut sechzig Jahren jeden Moment bewahrheiten könnte, falls nicht noch ein befreiendes Hexenwerk geschieht.

Doch halt, verehrte (Krimi-)Freunde!

Mittlerweile treibt mich nämlich ein achtsamer Hüter der eigenen Redlichkeit, quasi meine innere Stimme, sehr energisch zu folgender Kundgabe:

Es liegt mir völlig fern, bei Ihnen gegebenenfalls Erwartungen zu wecken, die ich nicht erfüllen werde. Dies ist, wie Sie inzwischen sicherlich schon bemerkt haben, keine Verbrechensgeschichte üblicher Art, obwohl sich passende Aspekte als durchgehendes Motiv wie Perlen auf einem roten Faden aneinanderreihen. Aber ihr edler Glanz verblasst des Öfteren infolge vieler Seitenschleifen, die wiederum mit teils bohrenden Gedanken zu mancherlei Problemen des Lebens gefüllt sind, da ich weder ein Schreiber ohne eigene Meinung, noch ein bedenkenloser Nichtsverkäufer sein möchte.

Zudem entspricht die vorliegende Lektüre nur bedingt einer Erzählung im klassischen Sinne, und einem Roman gleicht sie erst recht nicht, weil einzelne Textpassagen stark zum Sachbuch tendieren. Auch das wird Ihnen längst aufgefallen sein.

Ich frage mich sowieso manchmal, warum man sich mit geschriebenen Botschaften partout in herkömmliche literarische Sujets pressen lassen soll. Um dem zu entgehen, verfahre ich absichtlich nach eigenem Gutdünken.

Das bedeutet: Auch wenn unsere Fantasie angesichts der noch bevorstehenden, teils unheimlichen und zutiefst rätselhaften Handlungen Abels (oder seines schärfsten Widersachers?) bisweilen noch so üppig blühen mag, werden wir trotzdem generell auf Sachlichkeit achten und die Ereignisse so nehmen, wie sie wirklich sind, sich jedem zeigen, der sich ohne vorgefasste gedankliche Schrullen an sie herantastet. Demnach wird der berühmte Lügenbaron Münchhausen nur im äußersten Bedarfsfalle zurate gezogen, obwohl seine Abenteuernatur fortwährend reizvoll und lehrreich bleibt, eine schriftstellerische Köstlichkeit eben.

Zugegeben, ein bisschen flunkern will ich ja auch hin und wieder. Das gehört einfach zur Literatur. Es wird jedoch nur in Ausnahmefällen vorkommen.

Freilich wirkt eine spannende, verführerische Lüge bei den meisten Adressaten viel nachhaltiger als eine langweilige Wahrheit, dennoch sind Ammenmärchen nicht meine Stärke. Das überlasse ich lieber einigen Politikern oder sonstigen Sprücheklopfern und Schaumschlägern. Sie erweisen sich darin wesentlich geschickter, weil sattsam geübt.

Gleichwohl erlaube ich mir eine gewisse dichterische Freiheit. Ansonsten wird es ja auch nicht annähernd eine (Kriminal-)Erzählung, bestenfalls eine mehr oder weniger gute journalistische Berichterstattung, welche der Glaubwürdigkeit wegen jedoch auch zu ihrem Recht kommen soll. Deshalb erscheint es mir geboten, stimmungsvolle Bilder sparsam einzusetzen (mir fehlt eh die poetische Ader), mit Dialogen noch verhaltener umzugehen und sprachkünstlerische Schnörkel weitestgehend zu vermeiden. Kurz und bündig: Es ist meine feste Absicht, ein Höchstmaß an Glaubwürdigkeit zu vermitteln.

Nicht zuletzt werde ich wie bisher versuchen, ungebräuchliche Fremdwörter möglichst strikt zu vermeiden, denn mir liegt sehr viel daran, dass meine Ausführungen von allen Lesern, die sich das Buch zu Gemüte führen, mühelos nachvollzogen und verstanden werden. Hoffentlich gelingt mir das auch ohne Unterlass! Überdies will ich nicht verhehlen, sondern nochmals betonen, dass mir die deutsche Sprache besondern am Herzen liegt. Sie verfügt nicht nur über ein nahezu unerschöpfliches Vokabular, auch ihr bezaubernder Wohlklang hält mich gefangen. Ja, ich bin seit Langem regelrecht in sie verliebt! Dennoch neige ich stark zur Auffassung des erfolgreichen, überaus mutigen, fast schon revolutionär handelnden Theaterregisseurs Volker Lösch, wenn er meint, dass ehrgeizige Kunstübungen, mögen sie noch so clever inszeniert werden, im Grunde genommen wenig oder nichts bringen, weil sie in keiner Weise in das reale Leben eingreifen. Beim Texter sollte der Inhalt stets wichtiger sein als die Form. Das gilt für die Kunst generell, sofern sie etwas bewegen möchte und nicht nur dem Ergötzen dient. Ihre Aufgabe ist es, unsere Hirnzellen anzuregen, das Nachdenken zu beflügeln. Um das zu bewirken, muss man freilich streckenweise bewusst gegen den Strom schwimmen.

Genug der wiederholt erklärenden Worte und hin zu den Ursprüngen des Hauptakteurs!

Das Elbmonster

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