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Hinsichtlich der mannigfachen Rückblicke auf unsere Kindheit, die früher oder später jeden ereilen dürften, müssen wir wohl allesamt bis zu einem bestimmten Maße ehrlich zugeben, dass man im Nachhinein vieles anders und einiges davon auch verklärter sieht, als es tatsächlich war. Das halte ich indessen für durchaus normal, weil entsprechende Wertungen zwangsläufig mit neuen Erfahrungen verknüpft werden, ganz abgesehen davon, dass unser persönlicher Standpunkt ohnedies stets subjektiv bleibt.

Schaue ich zuweilen gedankenversunken auf meine frühen Jahre, so vermag ich selbst nach dem Abstand von weit mehr als einem halben Jahrhundert weder eine überschwängliche Lobeshymne, noch ein wehmütiges Klagelied darüber anzustimmen. Wir hatten sowohl gute als auch schlechte Zeiten. Es war eben nicht anders und Punkt!

Gleichwohl befand sich Abel damals in einer nahezu gegensätzlichen Situation. Er hatte für seinen Entwicklungsweg größtenteils wesentlich günstigere Voraussetzungen als ich.

Während seine Mutter in Budapest eine hervorragende Ausbildung zum Lehrerberuf genoss und diesen auch mit großer Freude sowie überaus imponierendem Erfolg ausführte, befand sich sein leiblicher Vater in einer ähnlich vorteilhaften Lage, denn auch er war als junger Seelsorger innerhalb seiner Gemeinde außerordentlich beliebt.

Anders wäre sowieso nicht zu erklären, wie es sein konnte, dass ein katholischer „Sündenbruder“ der geweihten Mission eines priesterlichen Hirten vollkommen ungescholten nachkommen durfte. Es fand sich schlichtweg kein einziger Denunziant, der von sich aus bereit gewesen wäre, das „sträfliche Vergehen“ bei der Obrigkeit zu melden, ihn anzuschwärzen. Dafür stand er viel zu sehr in der Gunst aller Einheimischen, obwohl jeder wusste, dass er trotz kirchlichen Verbots zwei Kinder gezeugt hatte.

Außerdem war seine übergeordnete Dienststelle weit entfernt. Sie hatte in Pécs (Fünfkirchen) ihren Sitz und kümmerte sich überhaupt nicht um die Belange in den abgelegenen Provinzen, solange keine ernsthaften Beschwerden eingingen oder gravierende Vorkommnisse die Runde machten.

Im Übrigen hatte der höhere Klerus damals wohl auch ganz andere und teils sogar wichtigere Aufgaben, denn er verfügte nach wie vor über eine große politische Macht, die er natürlich unentwegt sichern und möglichst noch weiter ausbauen wollte.

Das wiederum gereichte fraglos auch Abel zum Vorteil, der bei seinen Großeltern mütterlicherseits wohnte, wo auch der angesehene Pfarrer zur Untermiete logierte, seitdem er dort nach der Pensionierung des Vorgängers als beauftragter Gemeindehirte wirkte.

Es war nach seinem erfolgreichen Studium in der Landeshauptstadt seine erste Stelle, wohin er als frischgebackener Diener Gottes beordert worden ist, um sich in der Praxis zu bewähren.

Die phänomenale Feuertaufe erstreckte sich jedoch nicht nur auf seinen beruflichen Werdegang, sondern ebenso auf seine unbändige Manneskraft und die späteren Vaterpflichten. Wer könnte es ihm auch verübeln (von stockkonservativen Religionsfanatikern einmal abgesehen), dass er sich schon bald in die fesche Maid des Hauses grenzenlos verliebte, zumal sie ihn mit ihren ausnehmend diabolischen Reizen unaufhaltsam verführerisch lockte. Da hilft kein noch so strenges Zölibat, jenes fragwürdige Gelübde, das nach traditioneller Vorschrift namentlich katholischen Geistlichen den Verzicht auf Ehe und sexuelle Kontakte zum weiblichen Geschlecht auferlegt. Es ist ja auch wider die Natur des Menschen und daher grundsätzlich eine höchst seltsame Verhaltensregel. Dessen ungeachtet erweist sie sich als besonders zählebig, denn sie ist immer noch aktuell. Was sich doch manche Leute so aufbürden! Unsereiner kann das bestenfalls mit ehrfürchtigem Staunen zur Kenntnis nehmen. Aber das nur als Randbemerkung.

Das hübsche Fräulein aus einer der wohlhabendsten Familien im Ort ward also die heiß geliebte Partnerin des überglücklichen Würdenträgers, wenn auch ohne Trauschein, so doch unter der schützenden Obhut freiwillig entgegenkommender Verschwiegenheit seitens der gesamten Dorfgemeinschaft. Demzufolge erblickte auch ihr gemeinsamer Filius quasi schon mit einem Silberlöffel im Mund das Licht der Welt. Da er außerdem bis zur Ankunft seines Bruders fast sechs Jahre lang Einzelkind war (Peter erblickte im Oktober 1946 das Licht der Welt), standen ihm buchstäblich alle Türen offen, die man sich nur wünschen kann, damit möglichst sämtliche Träume in Erfüllung gehen. Oder vielleicht doch nicht? In Bälde erfahren wir mehr!

Nach seiner Geburt blieb die stolze Mutter für zwölf Monate zu Hause, um sich ausschließlich ihrem Nachwuchs zu widmen. Sodann unterrichtete sie über mehrere Jahre hinweg die Schüler in ihrem Heimatort Mágocs, ehemals Komitat Barayna, bevor sie die unversehens verwaiste Stelle an der Minischule in unserer Siedlung Kispuszta übernahm.

Damals ging das makabre Gerücht um, dass ihr Vorgänger, der seit eh und je alleinstehende Pauker, während eines üblichen Ausritts mit seinem fürchterlich abgemagerten Klepper sich in einen tiefen Morast verirrte, der sowohl Pferd wie Reiter gierig verschlang. Seither wurden beide niemals mehr gesehen, auch keinerlei sterbliche Überreste von ihnen. Damit war es zugleich mit den teils höchst seltsamen Gepflogenheiten des „Habichts“ vorbei, wie ihn unsere Dörfler manchmal auch nannten, wahrscheinlich deshalb, weil er sich bisweilen urplötzlich wie ein Greifvogel auf Jungen stürzte, die sich offenbar nicht seinen Wünschen gemäß verhielten. Die Mädchen hingegen waren anscheinend immer brav und folgsam. Ach, die lieben weiblichen Krabben!

Ergo erschien für alle völlig überraschend eine ausnehmend schöne junge Frau auf unserer Bildfläche. Sie bezog erwartungsgemäß die erwähnte Mansardenwohnung, nutzte diese jedoch relativ selten, weil sie beinahe täglich heimfuhr, um bei ihrer Familie zu sein, sofern sie nicht durch irgendwelche zusätzliche Pflichten oder schlechte Witterungs­bedingungen und anderweitige Gründe daran gehindert wurde.

Falls sich während ihrer berufsbedingten Abwesenheit auch der über alle Maßen fürsorgliche Papa wegen seiner dienstlichen Obliegenheiten nicht persönlich um die Sprösslinge kümmern konnte, bemühten sich die Großeltern mit Freuden und einer fast grenzenlosen Hingabe um die von allen angebeteten Stammhalter mütterlicherseits. Man hätte die beiden Jungen unter keinen Umständen auch nur im Geringsten vernachlässigt.

Die jeweils sechs Kilometer lange Wegstrecke vom Wohn- zum Arbeitsort und wieder zurück bewältigte unsere königlich verehrte Lehrerin überwiegend mit einem Fahrrad. Das war für uns Hinterwäldler damals ein geradezu sensationelles Stahlross, welches insbesondere wir Schüler anfänglich nicht genug bewundern konnten. Und natürlich war es unser sehnlichster Wunsch, irgendwann selbst eines zu besitzen. Manchmal träumten wir sogar davon. Bei mir erfüllte sich jene kindliche Hoffnung erstmals mit siebzehn Jahren hier im herrlichen Sachsenland, nachdem ich meine Lehrzeit erfolgreich abgeschlossen hatte und als jugendlich gekürter Elektromonteur ausreichend Geld verdiente, um es mir leisten zu können, worüber ich selbstredend sehr glücklich war.

Unsere zauberhafte Madonna kam indessen hin und wieder auch mit einer einspännigen Pferdekutsche vorgefahren. Es handelte sich um ein derart prachtvolles Exemplar, dass wir es gleichermaßen oft und gern mit sichtlichem Staunen in Augenschein nahmen. Überhaupt sorgte die holde Schönheit fortwährend für tolle Überraschungen, die wiederum unserer ohnehin regen Fantasie ständig neuen Nährstoff boten.

Doch sämtliche Faszinationen, wie einzigartig sie auch gewesen sein mögen, die von ihr ausgingen und uns allesamt unweigerlich in ihren Bann zogen, fanden Anfang Mai 1948 schlagartig ein verdammt bitteres Ende. Wir erhielten nämlich überraschend die Schreckensnachricht, dass sie und ihre Familienangehörigen schleunigst ausgebürgert würden, da sie noch kurzerhand als mögliche Kollaborateure der ehedem verbündeten Deutschen eingestuft wurden, zu deren nationalen Minderheit sie im Lande der Magyaren gehörten.

Letzteres war uns bis dato vollkommen unbekannt. Nicht einmal die leiseste Ahnung hatten wir davon. Umso sprachloser nahmen wir die entsetzliche Mitteilung auf, zumal wir schon glaubten, die gewaltsame Aussiedlung von „unerwünschten Personen“ wäre abgeschlossen und niemand brauchte sich mehr zu fürchten, eventuell noch vom selben grausamen Schicksal ereilt zu werden, das bereits zuvor viele unbarmherzig hart getroffen hatte. Aber diese Annahme erwies sich als ein verhängnisvoller Irrtum, wie sich bereits zwei Tage nach der Hiobsbotschaft herausstellte, denn auch wir mussten unsere angestammte Heimat verlassen. Es gab keinerlei Pardon. Darauf zu hoffen, wäre absolut vergebliche Mühe gewesen. So packten also auch wir innerhalb von vierundzwanzig Stunden das Allernötigste von den ohnehin bescheidenen Habseligkeiten zusammen, um mit gebrochenen Herzen unwiderruflich Adieu zu sagen.

Im Gegensatz zu unserem mageren Besitztum war bei den engsten Angehörigen der vergötterten Pädagogin wirklich einiges an materiellen Werten zu holen (angefangen vom schmucken Wohnhaus, zu dem Ställe für Kühe, Pferde und kleinere Tiere gehörten, bis hin zu fruchtbaren Weinbergen, Äckern und Wiesen). Das lohnte sich echt für die künftigen Nutznießer. Es dürfte wohl auch der entscheidende Grund für ihre Zwangsvertreibung gewesen sein.

Ob ein solch unerhörter Schicksalsschlag reiche Leute schmerzhafter verletzt als die armen, vermag ich nicht zu beurteilen. Gleichwohl gebe ich zu bedenken, dass es sicherlich bei allen Betroffenen tiefe Spuren der erlittenen Schmach hinterlässt.

Wir waren zwar an mannigfache Entbehrungen gewöhnt, wenn einem aber selbst das Wenige, das man sich mühsam erarbeitet hat, auch noch weggenommen wird, muss es unabwendbar zu seelischen Erschütterungen führen, die man zeitlebens im Gedächtnis behält, ohne dabei etwa an Rache zu denken. Nichts liegt uns ferner.

Zwischen 1946 und 1948 wurden rund 185.000 Personen, die zur deutschen Volksgruppe in Ungarn gehörten, kollektiv abgestempelt und ihrer Rechte beraubt, indem man die Staatsbürgerschaft aberkannte, ihr Eigentum beschlagnahmte und sie des Landes verwies. Laut Beschluss des ungarischen Parlaments vom 10. Dezember 2012 soll künftig jeweils am 19. Januar daran erinnert werden.

Solche Gedenktage werden uns hoffentlich veranlassen, als nunmehr wieder versöhnte und freundschaftlich verbundene Partner gemeinsam in die Zukunft zu blicken, denn es kann nicht darum gehen, etwa alte Wunden aufzureißen oder gar Gedanken der Ahndung zu schüren.

Seinem Wesen nach dürfte wohl jedwedes revanchistische Geschrei eher schädlich als nützlich sein, unter welchem Vorwand es auch immer geschürt werden mag. Damit meine ich allerdings nicht die gelegentlichen oder teils auch regelmäßigen Zusammenkünfte von Vertriebenen, um Erinnerungen aus ihrer ehemaligen Heimat auszutauschen oder alte Sitten und Bräuche zu pflegen. Das ist ja eine willkommene Bereicherung unserer Kultur (wie überhaupt die einstigen Neuzugänge von etwa vierzehn Millionen Personen so manch Interessantes nach Deutschland brachten oder es später hier erwirkten, auch wenn sie vorerst unerwünscht waren).

Nein, es geht mir vielmehr um jene Krakeeler, die immer wieder lauthals unbillige Forderungen an die Menschen ihres Herkunftslandes stellen.

Ich vertrete die Auffassung: Sofern man schon nicht vergessen kann, sollte man wenigstens verzeihen, und zwar von allen Seiten!

Einzelne Vertriebenengruppierungen faseln immer wieder von angeblich rechtmäßigen Entschädigungsansprüchen. Wenn man das konsequent weiterführt, müssten sich ja die Völker ganz Europas ihre peinvolle Vergangenheit gegenseitig aufrechnen.

Ich kann diesbezüglich nur beherzt dazu aufrufen: Leute, hört endlich auf mit euren selbstsüchtigen Forderungen! Fehlt es euch an täglichem Brot? Doch gewiss nicht! Außerdem hat die Bundesrepublik inzwischen selbst alle von Flucht und Vertreibung betroffenen Mitbürger zumindest symbolisch entschädigt. Also: Lasst unsere Nachbarn und andere Völker endlich in Frieden leben! Sie haben in ihrer Geschichte wahrhaftig schon mehr als genug Leid erfahren müssen, und das bestimmt nicht vollkommen ohne deutsches Zutun. Gefährdet nicht weiter das zarte Pflänzchen freundschaftlicher Aussöhnung, ein überaus kostbares, weil zukunftsträchtiges Gut!

Dementgegen üben sich notorisch Uneinsichtige mit ihren dreisten Forderungen nach wie vor lauthals in scharfmacherischen Tönen. Das ist ausgesprochen unverschämt!

Trotzdem sollte es uns nicht wundern, wenn sich auch dafür einige Winkeladvokaten finden, die zuallererst für sich reichlich fette Beute wittern und demnach keinerlei Skrupel haben, entsprechende Interessen rücksichtslos durchzusetzen. Geld und Moral sind zweierlei Kategorien, die sich meist gegenseitig ausschließen und daher nur äußerst selten eine liebevolle Partnerschaft eingehen.

Es reicht! Zurück nach Ungarn!

Jedenfalls fanden sich bald nach der grausamen Order zum sofortigen Verlassen heimatlichen Bodens knapp eintausendfünfhundert Bürger, die als „Nachzügler“ vom selben Unglück gezeichnet waren, wie es unzählige Menschen aus vielen Ländern bereits während der letzten Kriegsmonate und besonders in den beiden Jahren danach heimsuchte, mit ihren dürftigen Gepäckstücken auf dem Dombovárer Güterbahnhof ein. Dort nahmen wir gezwungenermaßen für den gemeinsamen Transport nach Deutschland in mehreren abgefuckten Viehwaggons unser Notquartier. Das konkrete Ziel kannte freilich niemand, auch die eigens dafür Verantwortlichen nicht.

Soweit ich mich erinnere, wurden vom bewaffneten Aufsichtspersonal durchschnittlich jeweils sechs Familien in einen „Wohn- und Schlafsalon“ gepfercht, nachdem von uns angeblichen „Vaterlandsverrätern mit Kollektivschuld“ unter strengster Weisung und Kontrolle der Aufpasser einige Ballen Stroh, mehrere große Milchkannen mit Trinkwasser und ein paar Eimer für die Notdurft hineingebracht wurden. Zuvor mussten wir die maroden Eisenbahnwagen von den Fäkalien der letzten Tiertransporte reinigen, die offensichtlich sowohl von Rindern als auch von Schweinen hinterlassen worden sind. Dann übergab man uns noch mehrere Laibe Brot als Zusatzverpflegung, denn etwas zum Speisen für unterwegs hatte ja jeder bei sich, allerdings nicht ahnend, dass die Fahrt beinahe sechs volle Tage dauern würde.

Die Waggons, welche auf jeder Seite zwei stark vergitterte Öffnungen für die lebensnotwendige Luftzirkulation hatten und trotzt unserer Säuberungsaktion immer noch furchtbar übel rochen, wurden von außen fest verriegelt.

Nachdem auch die Wachleute, ungefähr zwei Dutzend Männer, in einem normalen Wagen zur Personenbeförderung, der sich in der Mitte des Zuges befand, Platz genommen hatten, erfolgte das Signal zur Abfahrt. Sofort begann das kräftige Dampfross aus Vorkriegszeiten schrecklich laut zu wiehern, keuchen und schnauben, denn es hatte Schwerstarbeit zu leisten. Doch schon kurz darauf brachte es die Riesenraupe mit ihren sechsundvierzig prall gefüllten Gliedmaßen langsam in Bewegung.

Seltsamerweise hatte sich zuvor niemand gegen die brutale Abschiebung mit Nachdruck gewährt. Alle fügten sich nahezu widerstandslos ihrem ungewissen Schicksal. Endlich ging es für uns „heim ins Reich“, das ja inzwischen militärisch absolut bedingungslos unterworfen war. Dort gehörten wir schließlich hin, meinten siegessicher die neuen Machthaber. Kurzum, man behandelte uns wie verfluchte Aussätzige, die man schnellstens loswerden müsste, damit sie niemals wieder irgendwelche (politische) Epidemien heraufbeschwören könnten. In Wirklichkeit führte unsere Odyssee zunächst quer durch Osteuropa.

Wie viel Frustration, garstige Intoleranz und unbändiger Hass müssen sich damals in den Köpfen und Herzen der Menschen angesammelt haben! Dennoch sind wir nachdrücklich gehalten, insbesondere mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg stets konsequent zwischen seinen maßgeblichen Ursachen und den daraus resultierenden Wirkungen beziehungsweise späteren Folgen zu unterscheiden. Das wird indessen oftmals nicht ausreichend berücksichtigt und mitunter sogar hinterhältig entstellt, denn es ist augenfällig, dass zum Beispiel nach wie vor infame Geschichtsklitterer fleißig am Werk sind, um ihren egoistischen Bestrebungen zu dienen. Die offenbar absichtliche Verblödung gewisser Kreise fördert das allemal. Wie sonst wäre die besorgniserregende Häufung von bundesweiten neonazistischen Zusammenrottungen zu erklären?

Hinzu kommt natürlich die Arbeitslosigkeit oder nur geringe Beschäftigung vieler Menschen, welche das eigentliche Übel ausmacht, in dem braunes Gedankengut und überhaupt die Radikalisierung bestimmter Kräfte üppige Wurzeln schlagen.

Ja, ich gebe zu, dass wir bisweilen lediglich arg darüber staunen, wie viel Dummheit und Niedertracht mitunter in einem einzigen Schädel zeitgleich Platz finden.

Doch halt! Ich korrigiere meine soeben getroffene Aussage insofern, als es mich drängt, unverzüglich einen weiteren Gedanken hinzuzufügen, denn ganz so einfach ist das Problem wiederum auch nicht. Mir sind nämlich mehrere rechtsorientierte Personen einigermaßen vertraut, soll heißen, ich kenne sie seit Längerem und daher auch ihre grundlegenden Ansichten. Sie alle entdecken oder konstruieren Argumente, teils sogar stichhaltige. Nur wer sich nicht mit ihnen befasst oder sie gar meidet, wie der Teufel das Weihwasser, kann behaupten, sie wären ausnahmslos Dumpfbacken, hätten keinerlei Bildung. Das ist ein fataler Irrtum, dem wir leider viel zu häufig unterliegen, denn nicht wenige von ihnen sind durchaus intelligent.

Ohnedies würde ich einen Mitbürger niemals als „Dreck“ bezeichnen, Herr Ministerpräsident Stanislaw Tillich. Es sind Menschen! Zudem entspringt deren höchst fragwürdige Gesinnung größtenteils unseren gesellschaftlichen Verhältnissen. Stimmt da gegebenenfalls einiges nicht im Staate? Und sollte nicht auch ein bekennender Christ besser nach den möglichen Ursachen für rassistisches Gedankengut sowie Ausländerfeindlichkeit fragen, besonders in einer derart hohen Position, anstatt lautstark Sprüche zu klopfen?

Ich kann hier nur besorgt dazu anregen: Leute, sucht lieber die konstruktive Auseinandersetzung mit ihnen, vor allem mit den Jüngeren, statt sie hochnäsig zu umgehen! Einige bleiben freilich unbelehrbar. Diese müsste eine konsequenter praktizierte Gesetzesstrenge in die nötigen Schranken weisen, was wir jedoch bislang versäumten. Sie sind jedenfalls allesamt mitten unter uns und nicht minder allgegenwärtig! Und wenn sich ihr höchst fragwürdiges Tun gar noch zu einer vereinten Kraft mit gleichgesinnten Fanatikern europaweit zusammenballt? Was dann? Die Geschichte gibt uns eine mahnende Antwort darauf.

Mit kritischem Blick auf das verbrecherische Naziregime warnte einst Bertolt Brecht: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“ Das liegt sehr weit zurück. Und doch ist jener Kassandraruf des weltberühmten Literaten immer noch oder schon wieder brennend aktuell.

Freilich lässt sich die Bedrohung unseres demokratischen Gemeinwesens nicht ausschließlich auf neonazistische Umtriebe beschränken. Die Gefahr, welche von den islamischen Eiferern ausgeht, sollte auch nicht unterschätzt werden.

Wir liefern den Extremisten aller Schattierungen fortwährend und ebenso leichtfertig geistige Munition und beklagen uns danach über ihre böswilligen Aktivitäten, als hätten wir keine wichtigeren Sorgen und Pflichten. Das ist schlichtweg unredlich. Oder zuweilen vielleicht doch politisches Kalkül? Ihr da oben, man kann euch leider selbst bei noch so guter Absicht nicht ganz vorbehaltlos vertrauen!

Im Übrigen zeugt das ohnehin fragwürdige Ansinnen mancher Zeitgenossen keineswegs von zukunftsträchtigen Visionen, weil eine erstrebenswerte Perspektive der Menschheit gewiss nicht durch die althergebrachte Trennung verschiedener Kulturen zu sichern ist, sondern in der Einheit ihrer gleichwertigen Vielfalt zu finden sein wird.

Haben wir von den potenziellen Folgen des unerhört rasanten Globalisierungsprozesses bislang etwa so wenig verstanden, dass wir manchmal die seltsamsten Ideen ausbrüten und sie hernach weithin vernehmbar als das Nonplusultra kreieren?

Was hindert uns eigentlich daran, den Buddhismus und Islam, das Christen- und Judentum sowie die Vielzahl kleinerer religiöser Gemeinschaften mit all ihren Nuancen und Facetten als weitgehend ebenbürtig zu sehen und entsprechend zu achten, solange sie sich im sozialen Gefüge nicht als inhuman entpuppen? Wo bleibt die hierfür nötige Toleranz auf weltanschaulicher Ebene? Sind wir immer noch willfährige Opfer unserer notorisch konservativen Auffassung vom Vorrang abendländischer Zivilisation oder neuerdings womöglich des bornierten Eurozentrismus? Hat uns nicht schon Gotthold Ephraim Lessing (1729 bis 1781) durch seine berühmte Ringparabel im dramatischen Gedicht „Nathan der Weise“ aufklärend und nachhaltig auf mehr Ergebung verwiesen?

Was soll man dazu sagen oder schreiben, wenn dementgegen kennzeichnend das vorletzte Oberhaupt der katholischen Kirche vor nicht allzu langer Zeit abermals mit Vokabeln tiefster Überzeugung inbrünstig verkündete, dass seine Glaubenslehre auch künftig die weltweit am meisten Seelenheil erweckende bleiben wird? Ergo: „Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker!“ Sonach handelt ihr ganz im Auftrage Jesu (Matthäusevangelium, Kapitel 28).

Noch viel abträglicher wirkte indessen die Entscheidung jenes Heiligen Vaters am 21. Januar 2009, mittels einer sicherlich wohlmeinenden Order die ketzerische Piusbruderschaft wieder in den Schoß der römisch-katholischen Kirche zurückzuholen. Sie wurde 1988 durch seinen Vorgänger, Johannes Paul II., infolge treulosen Verhaltens, der strikten Weigerung, sich dem Papst respektive dem Zweiten Vatikanischen Konzil unterzuordnen, exkommuniziert (was aber nicht deren Kirchenausschluss bedeutete).

Unter den Begnadigten befand sich neben drei anderen Bischöfen auch der englische Mitraträger Richard Williamson, ein notorisch skrupelloser Holocaustleugner. Wie sich bereits kurz danach zeigte, hatte Benedikt XVI. denkbar schlechte Berater hinsichtlich seiner Auswahl der zur Rehabilitation vorgesehenen „Sündenbrüder“, denn es folgten postwendend scharfe Missfallensbekundungen von globaler Reichweite.

Die überaus heftigen Proteste lösten damals eine der schwersten Krisen während der Amtszeit des deutschen Würdenträgers aus. Vereinzelt wurde sogar sein Pontifikat (Amtsdauer und Würde) infrage gestellt.

Nun darf man den sicherlich zu Recht Gescholtenen nicht etwa des Antisemitismus bezichtigen, hat er doch unter anderem durch seinen Besuch des Konzentrationslagers Auschwitz nachhaltig demonstriert, wie er zu diesem beispiellos düsteren Kapitel unserer Geschichte steht. Aber eine äußerst unglückliche Fügung war jener Vorfall durchaus. Immerhin leugnete der genannte Brite schon vorher den millionenfachen Mord an Juden unter der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Das ist schlichtweg niederträchtig und böse, ergo unter keinen Umständen zu tolerieren. Der Mann hat offenbar in seinem Oberstübchen noch keine Ordnung geschaffen, steht anscheinend mit der Wahrheit auf Kriegsfuß. So etwas kann ja mal vorkommen. Das Problematische daran ist jedoch, dass ihn nicht wenige Leute trotzdem ernst nehmen, seinen teuflischen Aussagen widerspruchslos Glauben schenken.

Andererseits kennen wir die Kaderschmiede derart ultrakonservativer und ebenso reaktionärer Häupter. Das Stammhaus von insgesamt sechs Seminaren der rebellischen Priesterbruderschaft St. Pius X. befindet sich in der stillen Schweizer Gemeinde Econe, gegründet vom französischen Erzbischof Marcel Lefebvre (1905 bis 1991). Dieser sympathisierte mit seinem rechtsradikalen Landsmann Jean-Marie Le Pen, für den wiederum die Gaskammern der Nazis nur „ein Detail in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges“ waren.

Sonach dürften wir kaum noch darüber erstaunt sein, welcher Geist dort herrscht. In Econe erfuhr nämlich auch Williamson seine fünfjährige Ausbildung als Traditionalist der Christenlehre und am 30. Juni 1988 gegen den Willen des Heiligen Stuhls die Weihe durch den Initiator der sektiererischen Bruderschaft, was bereits einen Tag darauf die erwähnte Exkommunikation auslöste.

Noch heute gelten Lefebvres Credo für den Erhalt der „Alten Messe“ in lateinischer Sprache und sein Aufruf zum Kreuzzug gegen Veränderungen innerhalb der tradierten Konfession. So schrieb Franz Schmidberger, Distriktoberer der Piusbrüder für Deutschland, über die „Juden unserer Tage“, sie wären des Gottesmordes mitschuldig, solange sie sich nicht durch die Taufe von der Schuld ihrer Vorväter distanzierten.

Ach je, du wundersame Welt! Der hat vielleicht Sorgen! Unsereiner kann darob nur verwundert den Kopf schütteln. Desto bemerkenswerter ist der Tatbestand, dass den in mancher Hinsicht recht dubiosen Ansichten und Praktiken der Priesterbruderschaft St. Pius X. mittlerweile auf internationalem Terrain schon rund eine halbe Million Getreue folgen, von deren finanziellen Zuwendungen sich die überwiegend freiwillige Vereinigung der größtenteils stockkonservativen katholischen Geistlichen auch nährt.

Ergänzung: Am neunten Februar 2009 kam die Nachricht, dass sich die Piusbruderschaft von den antisemitischen Äußerungen ihres unbelehrbaren Monsignore Williamson distanziert. Sie entzog ihm die Leitung eines Priesterseminars im argentinischen La Reja bei Buenos Aires. Wahrlich eine längst überfällige Maßnahme! Merkwürdig wäre indessen, wenn das auch dem renommierten Professor für Dogmatik in seiner überaus verantwortungsvollen Funktion als einstiger Pontifex auf dem Thron Petri gereicht hätte (Näheres weiß man nicht).

Die Argentinier haben den störrischen Williamsen des Landes verwiesen. Endlich wurde er im Oktober 2012 auch aus der erwähnten Bruderschaft ausgeschlossen. Zudem erhielt der unbelehrbare Volksverhetzer am 16. Januar 2013 vom Amtsgericht Regensburg eine Geldstrafe von 1.800 Euro verhängt. Aber was ist das schon gegen die Leugnung der Existenz von Gaskammern und die Ermordung von sechs Millionen Juden während der Naziherrschaft?

Gewiss, sämtliche Religionen laben sich seit jeher am vermutlich unversiegbaren Nektar ihrer Gläubigen. Und es wird auch fortwährend einiges dafür getan, dass es tunlichst immer so bleibt, damit sich der breiten Masse wirkliche soziale Zusammenhänge gar nicht erst tiefgründig erschließen.

Demgegenüber haben namentlich Hardliner unter den Kommunisten während ihrer Herrschaft die enorme Faszination spiritueller Bräuche nicht gebührend berücksichtigt oder sträflich heruntergespielt und teilweise sogar bekämpft. Auch das war eine Ursache ihres historischen Scheiterns, denn steinalte, über viele Generationen hinweg florierende Gepflogenheiten lassen sich nicht innerhalb weniger Jahrzehnte beheben, am wenigsten durch blindwütige Aktionen. Es war sowieso ein verhängnisvoller Ansatz, den Menschen die ureigene Entscheidungskraft hinsichtlich ihrer Frömmigkeit abzusprechen, mithin eine direkte Verletzung ihrer Grundrechte. Doch Fanatiker jedweder Richtung waren, sind und bleiben allenthalben halsstarrig, also gefährlich, weil unberechenbar.

Dessen ungeachtet bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass speziell die Ausbeutersysteme (und das kapitalistische ist in dieser Hinsicht fraglos die raffinierteste von allen bisherigen gesellschaftlichen Formationen!) auf derlei Gehilfen nicht verzichten können und auch gar nicht wollen. Der Sozialdemokrat August Bebel (1840 bis 1913) hat das besonders drastisch bekundet, indem er meinte, dass Staat und Kirche sich „brüderlich unterstützen, wenn es das Volk zu knechten, zu verdummen und auszubeuten gilt“.

Ergo: Mann von der Straße, arbeite und bete! Ansonsten ist dein himmlisches Paradies gefährdet! Wir Oberen kümmern uns um die Geschicke der Nation und natürlich auch um dein persönliches Wohlergehen auf Erden. „Sorge dich nicht - lebe!“, könnte auch hier das richtungweisende Motto der Machthaber gegenüber dem miesepetrigen Untertan heißen, obgleich sich der Bestseller von Dale Carnegie kaum ernsthaft solcherart Fragestellungen widmet.

Und überhaupt: War und ist es nicht geradezu anmaßend, wenn ein Mensch, dazu aus Fleisch und Blut wie du und ich, öffentlich proklamiert, er sei als Papst der auserkorene Stellvertreter Gottes auf Erden, quasi dessen personifizierter Statthalter? Inwiefern er selbst daran glaubt, sei dahingestellt, da es ohnedies schwer vorstellbar bleibt, wie eine Persönlichkeit mit fraglos herausragender Intelligenz seine vermeintlich himmlische Erhebung für bare Münze nehmen kann. Aber die traditionell Frommen wollen es nun einmal so, um zunächst ihr persönliches und darüber hinaus im missionarischen Eifer möglichst auch das Seelenheil anderer zu retten. Dabei könnte doch ein jeder, der aufrichtig an einem universellen Schöpfer glaubt, allemal mit ihm in ein „Zwiegespräch“ treten, was die meisten vermutlich auch tun werden. Zugegeben: Die erhebende Kraft gemeinsamer Erlebnisse, wie etwa in Form von Gebeten, sollten wir nicht unterschätzen.

Ach ja: „Wir sind Papst!“, tönte es doch einst unüberhörbar im deutschen Medienwald. Inzwischen ist bekanntlich ein anderer Würdenträger vom Kardinalsstand zum Halbgott gekürt und auf den ehrfürchtigen Stuhl Petri gehoben worden. Demzufolge weiter so, zielbewusst zu neuen Ufern menschlicher Freiheit, selbst wenn unser edles Vorhaben vereinzelt immer noch mit Relikten mittelalterlicher Gepflogenheiten behaftet ist! So haben sich zum Beispiel im zwölften Jahrhundert die Ritter des Tempelordens, geradezu besessen von der Rechtmäßigkeit ihres katholischen Glaubens, furchtlos auf den Weg gemacht, um die heiligen Stätten ihres Ursprungs von den ebenso fanatisierten Muslimen zu befreien und die Pilgerwege zu schützen. Doch ihr weißer Mantel, für sie und Gleichgesinnte ein markantes Symbol ethischer Reinheit, war häufiger blutgetränkt als ihr Antlitz mit Engelszügen versehen.

Klartext: Es ist keineswegs meine Absicht, irgendeinen Generalverdacht auszusprechen.

Das wäre ebenso vermessen wie töricht, denn mit Pauschalurteilen über Menschen befinden wir uns nahezu ausnahmslos auf Irrwegen, missachten ihre Einzigartigkeit.

Stattdessen bin ich fest davon überzeugt, dass es die absolute Mehrheit der Christen ehrlich meint mit ihrer Weltanschauung, sich demgemäß im praktischen Denken und Tun gewiss weitestgehend human verhält.

Ergänzend sei gleich hinzugefügt: Ungeachtet meiner bisherigen Äußerungen zolle ich dem inzwischen abgedankten Oberhaupt der Katholiken aufrichtige Bewunderung. Schon allein die Tatsache, wie er trotz seines fortgeschrittenen Alters die enorme Last des bestimmt außerordentlich vielschichtigen und ebenso verantwortungsvollen Amtes würdevoll trug, nötigt mich zu höchstem Respekt. Nie und nimmer wollte oder könnte ich eine solche Funktion ausüben.

Für eine handfeste Überraschung sorgte bekanntlich die Ankündigung Benedikt XVI., dass er am 28. Februar 2013 vom Päpstlichen Stuhl zurücktreten werde. Das war gewiss eine überaus couragierte, ausgesprochen kluge und gleichermaßen pflichtbewusste Entscheidung. Damit hat er auch das jahrhundertealte gespenstisch-makabre Ritual unterbrochen, wonach ein Pabst erst sterben musste, bevor ein anderer von den Kardinälen gewählt werden durfte.

Meine Hochachtung, Herr Ratzinger!

Sonach bleiben wir gespannt, was sein Nachfolger zu bewirken vermag. Doch auch er wird die Welt nicht aus ihren Angeln heben können. Soviel Energie gewährt im kein Gott. Das ist schon mal absolut sicher. Gleichwohl werden auch ihm kritiklose Anbeter von Macht und Herrlichkeit in tiefer Ergebung zu Füßen liegen. Zahlreiche Gläubige brauchen das. Sie können nicht anders. Und es wird auch unentwegt viel dafür getan, um solcherart ehrfurchtvolles Verhalten beizubehalten. Oder sollte sich möglicherweise auf absehbare Zeit etwas Nennenswertes daran ändern? Kaum anzunehmen!

Nun hoffe ich natürlich, dass man sich auch in den Niederungen des Alltags zu derlei Fragestellungen äußern darf. Oder vielleicht besser nicht? Ich tue es dennoch! Nicht einmal der mir vertraute Brief des Paulus an die Römer kann mich momentan davon abhalten, wo es doch widerratend heißt: „Indem du über andere urteilst, verurteilst du dich selbst.“

Ohnehin erscheint mir diese Empfehlung arg lebensfremd, denn kein Mensch ist dagegen gefeit, über andere zu befinden. Und jeder tut es auch schon von Kindesbeinen an, in der ersten Zeit rein gefühlsmäßig, dann zunehmend bewusster.

Nun ja, auch der emsige Briefschreiber und charakterlich besonders widersprüchliche Apostel Paulus war letztlich nur ein Staubgeborener (er wurde in Rom enthauptet).

Wer seinen Ratschlag dennoch gelegentlich für bare Münze nimmt, kommt notgedrungen ins Grübeln. Ergo befallen auch mich vereinzelt gewisse Zweifel wegen meines eigenwilligen Vorgehens. Dagegen treibt mich anscheinend vor allem die Eigenschaft, dass ich jedwede kultische, also übertriebene Verehrung und Mystifizierung von Personen seit Langem für sehr fragwürdig halte.

Mit kritischem Blick auf unser traditionelles Verhältnis zum Judentum vertritt der Tübinger Theologe Hans Küng sogar folgende These: „Der Nationalsozialismus wäre unmöglich gewesen ohne den jahrhundertealten Antisemitismus der Kirchen.“ Das hat ihm verständlicherweise den Zorn des Vatikans beschert. Dabei zielte der tollkühne „Nestbeschmutzer“ keineswegs nur auf fanatische Katholiken, sondern ebenso auf die einst abtrünnigen Protestanten. Und tatsächlich war auch deren höchster Repräsentant diesbezüglich kein Geläuterter, im Gegenteil: Martin Luther entfachte mit seinem im Jahre 1543 verfassten Pamphlet „Von Juden und ihren Lügen“, noch zusätzlich den verhängnisvollen Hass auf alles Jüdische, indem er seine Glaubensbrüder entschlossen dazu aufrief, „dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke und was nicht verbrennen wolle, mit Erde überhäufe“.

Anmerkung: Es liegt mir außerordentlich fern, mit kritischen Äußerungen zum großen Reformator womöglich seine überragenden Verdienste schmälern zu wollen. Die Bibelübersetzung vom Lateinischen ins Deutsche bleibt unbestritten eine grandiose Leistung. Nicht minder ist das überaus mutige Aufbegehren gegen überholte Dogmen der katholischen Kirche zu würdigen.

Doch für aufständische Bauern hatte der wortgewaltige Martin ebenso wenig übrig wie für die geistig-kulturelle Eigenart seiner jüdischen Mitbürger, die er vor aller Öffentlichkeit gnadenlos bekämpfte.

Zubilligung: Alte Zeiten, andere Verhältnisse! Und heute?

Ob wir derlei zutiefst inhumane Gedanken und Verhaltensweisen jemals völlig abstreifen werden, indem wir uns von der törichten Überhöhung eigener Positionen verabschieden? Genießen wir doch endlich den Unterschied, die bezaubernde Mannigfaltigkeit der verschiedenen Kulturen, statt deren Würde unentwegt infrage zu stellen! Wir müssen wohl allesamt noch reichlich dazulernen!

Das Elbmonster

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