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Diese Aufforderung gilt selbstredend auch für unseren literarischen Protagonisten Abel, obwohl er bereits im Kindesalter über einen beachtlichen Wissensumfang verfügte. Sein hohes Niveau verblüffte mich regelrecht, als ich ihn auf unserer abscheulichen Fahrt nach Deutschland zum ersten Mal traf und gleich mehrere Tage mit ihm zusammenblieb. Jene Reise Anfang Mai 1948 führte uns buchstäblich ins Ungewisse, und zwar im doppelten Sinne. Zum einen wussten wir nicht, wohin es konkret gehen würde und ob wir überhaupt irgendwann wieder eine liebenswerte Heimat fänden. Darüber hinaus ahnte ich freilich nicht im Entferntesten, welch grausamen Kummer und schier endlose Furcht mein zufälliger Begleiter mir dereinst aufbürden könnte, auch wenn ich schon im Zug ein sehr merkwürdiges Erlebnis mit ihm hatte, dessen Tragweite ich allerdings erst viel später erfasste und danach auf höchst makabre Weise beinahe täglich verspürte. Mir war in jener Zeit zumute, als wäre ich eigens deshalb geradezu sprunghaft um Jahre älter geworden.

Anfänglich begegnete mir mein baldiger Weggefährte mit höchst lauterem Charakter, weil geprägt von bewundernswerter Intelligenz, selbstbewusster Offenheit und uneigennütziger Hilfsbereitschaft, gleichsam einer phänomenalen Erscheinung in Gestalt eines durchaus gefälligen Jünglings im zarten Alter von elfeinhalb Jahren, der mir übrigens äußerlich so stark ähnelte, als wäre er mein Doppelgänger oder Zwillingsbruder. Auch in der Körpergröße unterschieden wir uns nicht, waren und blieben vollkommen gleich. Während wir es damals auf jeweils etwa einen Meter und sechzig brachten, zeigte die Messlatte später genau achtzehn Zenti mehr an. Daran hat sich bis jetzt nichts geändert. Nur unser Aussehen wich im Laufe der Jahre dergestalt voneinander ab, dass wir uns schließlich überhaupt nicht mehr ähnelten.

Vielleicht eine Laune der Natur.

Von ihm erhielt ich auch sogleich bestätigt, was ich bereits nach wenigen Minuten unserer Bekanntschaft vermutete, nämlich wer seine Eltern waren, eben die hochverehrte Lehrerin sowie der ebenfalls bekannte und geachtete Pastor. Das überraschte und erfreute mich gleichermaßen, erschienen mir doch alle drei selbst unter den erbärmlichen Bedingungen auffallend warmherzig (der kleine Peter, er zählte gerade mal fünfeinhalb Lenze, verkroch sich meist im Schoß seiner Oma).

Fortan verspürte ich trotz oder vielleicht gerade wegen der widerwärtigen Umstände auch eine ungewöhnliche Sympathie gegenüber dem sehr wissbegierigen und ebenso klugen Burschen namens Abel Kager, der meine Zuneigung nicht minder offenherzig erwiderte. Dabei kam uns sicherlich zugute, dass wir unser karges Plätzchen direkt nebeneinander belegen konnten und auch während der gesamten Fahrt behalten durften. Diese Konstellation erwies sich als ein höchst merkwürdiger, weil schicksalsschwerer Zufall, wie sich schon bald herausstellen sollte.

Am frühen Morgen des dritten Tages, als wir abermals stundenlang und diesmal irgendwo in der Nähe von Prag auf einem Abstellgleis standen, ohne dass man uns wenigsten für ein paar Atemzüge an die sauerstoffreichere Luft gelassen hätte, bekam Abels Großvater urplötzlich einen schlimmen Kreislaufkollaps. Zum Glück konnte ihm seine Frau, eine ausgebildete Krankenschwester, mit wirkungsvollen Tropfen, die sie bei sich hatte, noch rechtzeitig helfen. Ohne ihre Sachkenntnis wäre der beängstigende Vorfall vermutlich arg problematisch verlaufen. Dennoch löste er im Handumdrehen eine panikartige Unruhe aus, zumal mehrere Insassen seit Längerem mit Brechreiz, Schwindelgefühlen und sonstigem Ungemach kämpften.

Daraufhin klopfte der resolute Pfarrer solange beherzt an eine Seitenwand des Waggons, bis endlich jemand die von außen verriegelte Schiebetür öffnete. Wir durften unter strenger Aufsicht die Kannen mit frischem Wasser füllen und die Notdurfteimer leeren. Kurz danach waren wir erneut eingesperrt, und die meisten verfielen allmählich wieder in ihre vertraute Lethargie, der sie sich inzwischen anscheinend freiwillig hingaben.

Auf meinen Gesprächspartner und mich traf das indessen nicht zu. Wir redeten bald schon wie von Beginn an ohne Unterlass über Gott und die Welt, als fänden wir überhaupt kein Ende, unsere Kenntnisse und Auffassungen gegenseitig auszutauschen. Bisweilen verlief unsere Mitteilsamkeit offenbar derart heftig, dass uns die Erwachsenen vereinzelt dazu aufforderten, etwas leiser zu sein oder am besten, die ständigen Dialoge ganz zu unterlassen. Dieser zweifellos verständlichen Bitte vermochten wir freilich nicht nachzukommen. Also übten wir uns fortab im Flüsterton, um mit unserem ausgeprägten Diskussionsdrang möglichst keinen mehr zu belästigen.

Es wird gewiss niemanden verwundern, dass ich während der mannigfachen Unterhaltung entwicklungsbedingt in viel höherem Maße der Nehmende als der Gebende war. Demgemäß lauschte ich unentwegt seinen Worten, die ich mit wachsendem Interesse begierig aufnahm. Er war mir, obwohl gleichaltrig, in vielerlei Hinsicht haushoch überlegen. Ich konnte ihm bestenfalls in Bezug auf Naturbeobachtung oder mit Verweis auf materielle Entbehrungen und deren potenzielle Folgen das Wasser reichen beziehungsweise einiges davon übermitteln, was er allerdings mit gleicher Aufgeschlossenheit entgegennahm, wie ich für seine Kenntnisse und Erfahrungen stets ein offenes und ebenso williges Ohr fand.

Ach, was hatte doch der junge Spund bereits auf dem Kasten! Er sprach unter anderem über Bücher, von denen ich bis dahin nicht einmal wusste, dass es sie gibt, geschweige denn, ich hätte zumindest einige davon schon gelesen und wäre mit ihrem faszinierenden Inhalt so fest vertraut wie er. Meine lieben Eltern, wie fürsorglich sie auch waren, konnten sich Derartiges unter keinen Umständen leisten. Sie hatten zu tun, uns einigermaßen satt zu bekommen, worüber sie fraglos sehr glücklich sein konnten.

Bei Abel kam hinzu, dass er in seiner Ortschaft, die beträchtlich größer war als unsere, von Anfang an eine Schule besuchte, in der es wesentlich moderner zuging, weil der jeweilige Lehrstoff sowohl umfangreicher als auch differenzierter und tiefgründiger vermittelt werden konnte. Dafür waren die konkreten Bedingungen eindeutig günstiger als bei uns. Außerdem hatte er auch viel mehr Zeit zum Lernen als ich, denn er musste nicht bereits im Kindesalter zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Schließlich verfügten auch seine Eltern über einen hohen Bildungsstand, der selbstredend ihrem Sprössling fortwährend zugutekam. Gleichwohl bitte ich meine verehrte Leserschaft aufrichtig darum, dies nicht etwa als wehmütiges Klagelied aufzufassen! Das entspräche nicht annähernd meinen wirklichen Empfindungen.

Doch wie gern ich auch vom erheblichen Wissensvorsprung meines angehenden Freundes profitierte, am vierten Tag schockte er mich mit einer unglaublich düsteren Prophezeiung, die ich bislang zu keiner Zeit völlig aus meinem Bewusstsein drängen konnte. Und heute ist sie aktueller denn je.

Er muss damals in der Nacht zuvor einen besonders schauderhaften Albtraum gehabt haben, auf den er sich nachdrücklich berief, als er mir am nächsten Morgen brühheiß etwas mitteilte, das mich auf der Stelle vollkommen fassungslos machte und regelrecht erstarren ließ. Auch jetzt bekomme ich noch eine furchtbare Gänsehaut, sobald ich nur daran denke, und das passiert mir ziemlich oft.

Nachdem Abel mich unversehens mit den höchst merkwürdigen Worten überraschte, er werde mich fortan nicht mehr Karcsi (Kosename für Károly), sondern Kai nennen, weil er seinem Traum gemäß die abscheuliche Vorahnung habe, dass ich ihn eines Tages entsprechend der biblischen Legende töten werde, auch wenn ich nicht sein leiblicher Bruder wäre.

Möglicherweise komme es auch umgekehrt. Aber es würde bestimmt eintreten, selbst wenn bis dahin Jahrzehnte vergingen. Davon sei er felsenfest überzeugt, wie verwirrend seine unheimliche Prognose für uns beide auch sein möge.

Na, das war vielleicht ein Schrecken! Er traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Plötzlich fühlte ich mich in seiner Nähe weit mehr bedroht als geborgen.

Litt er etwa unter einer Psychose, allenfalls der Manie, selbst unablässig verfolgt zu werden? Oder verfügte er tatsächlich schon als Jüngling über die beinahe unglaubliche Fähigkeit zu einem Orakel, jener Weissagung, die früher, besonders während der griechischen Antike, durch namhafte Priester(innen) sowie ähnlich hellseherische Koryphäen in einschlägigen „Sprechstätten“ verkündet worden ist und meist auch ungetrübte Beachtung fand? Aber das waren fast immer genial begabte Persönlichkeiten mit enormer Lebenserfahrung und daher entsprechend reifer Altersklugheit.

Gewiss, vereinzelt wähnten sich auch Heranwachsende mit einer auffallend scharfsinnigen Veranlagung ausgestattet, die sie speziell für Wahrsagungen nutzen durften, besonders bei Naturvölkern. So ist zum Beispiel überliefert, dass ein jugendlicher Schamane, namens Göktschu-Teb-Tengri, der trotz seines pubertären Alters als weithin anerkannter Zauberpriester bereits hohes Ansehen genoss, die Schicksalsfügung von Temugdin Jessug-hei, dem späteren Dschingis Khan (1162 bis 1227), schon ziemlich genau zu prophezeien vermochte, als dieser selbst auch noch ein Knabe war.

Und so kam es dann auch: Temugdin wurde nicht nur ein beispiellos erfolgreicher Krieger, sondern auch der bedeutendste Eroberer aller Zeiten, denn er schuf das größte Reich, welches jemals auf dem Erdenrund bestand. Es erstreckte sich von der Sibirischen Taiga bis an den Himalaja, vom Mittelländischen Meer bis an den Stillen Ozean. Sein unübertrefflicher Siegeszug kann gewiss nicht damit begründet werden, dass er während seiner Geburt einen Klumpen geronnenes Blut in der kleinen Babyfaust hielt, der einem roten Edelstein glich, was die Anwesenden zu höchst seltsamen Reaktionen veranlasste, darunter später auch den erwähnten Schamanen zu seiner bemerkenswerten Prophetie.

Die Mongolen verehren Dschingis Khan übrigens heute noch als ihren am meisten geachteten Nationalhelden, obwohl er sein riesiges Imperium mit einer unglaublichen Brutalität schuf und verteidigte. Andererseits ist es schon beeindruckend und für manche Interessenten sogar regelrecht bewunderungswürdig, wie es möglich war, dass eine aufs Reiten erpichte Nomadengemeinschaft von höchstens einer Million Seelen unter seiner Führung unzähligen Völkern das pure Fürchten lehrte, mögen jene Krieger auch noch so kampfesmutig gewesen sein.

Genau diese Geschichte schoss mir urplötzlich durch den Kopf, als mich Abel mit seiner makabren Weissagung völlig aus der Fassung brachte, denn ich war mit besagter Legende ausgiebig vertraut, hatte doch mein einstiger Lehrer sie oft genug zum Besten gegeben. Dabei wäre unser „gescheites Hutzelmännchen“ zuweilen wohl auch gerne selbst auf einem Pferd sitzend und mit Pfeil und Bogen bewaffnet aufgetreten, um seine Lieblingsstory den Schülern noch anschaulicher zu demonstrieren. Sein ausgeprägtes Faible für die einzigartigen „Heldentaten“ des Mongolenfürsten war offenkundig. Bei alledem vergaß er niemals, ebenso bildhaft zu erwähnen, dass dem besagten Schamanen schließlich auf Geheiß des Khans das Rückgrat gebrochen wurde, um ihn für immer auszuschalten, weil der Geistliche nach Ansicht des weltlichen Herrschers über die Jahre hinweg doch zu großen Einfluss auf irdische Verhältnisse gewann, zumal er sich während seiner Ratschläge unablässig auf die Götter berief. So vollzog sich die allmähliche Wandlung der einst tiefen Freundschaft zwischen den beiden Jugendlichen hin zur bitteren Feindschaft im Mannesalter, die letztlich mit dem Tode eines Rivalen endete.

Kein Wunder also, wenn sich die eben ins Feld geführte Tragödie unversehens in mein Bewusstsein drängte, nachdem mich Abel durch seine entsetzliche Verlautbarung für eine Weile regelrecht sprachlos machte.

Nebenbei bemerkt: Äußerst blutrünstige Praktiken seien in jener Sphäre anno dazumal durchaus als Normalität empfunden worden. So wäre es keine Seltenheit gewesen, dass man den schon besiegten Feinden noch zusätzlich das Haupt abschlug oder aufsässige Untertanen bei lebendigem Leibe in brodelnden Kesseln kochen ließ. Menschenleben habe keinen überdurchschnittlichen Wert gehabt; es sei vertilgt worden, wie man es für gewöhnlich mit Ratten auch macht, sobald ihre Existenz als schädlich beurteilt wird.

Sie, meine verehrten Leser, können sich bestimmt gut vorstellen, dass namentlich Kinder dergestalt emotional überschäumend dargestellten Erzählungen besonders aufmerksam verfolgen und gleichermaßen anhaltend in fester Erinnerung behalten. Mir ist es jedenfalls so ergangen.

Indem mich Abel während unserer Zugfahrt nach Deutschland durch seine irrsinnig beängstigenden Worte fast regungslos erstarren ließ, schlug mich just diese Geschichte in ihren Bann, denn sie schwirrte sogleich in meinen Hirnzellen rasend umher, um von mir schon bald vollends Besitz zu ergreifen. Danach gab es kein Entrinnen, nicht die geringste Chance blieb mir, mental davon loszukommen. Fortan war ich gefangen im Teufelskreis meiner hierauf stets quälenden Gedanken.

Trotz aller nachfolgenden Bemühungen konnte ich mir lange Zeit einfach keinen passenden Reim auf Abels düstere Äußerung machen, so sehr mich der entsetzliche Vorfall auch gelegentlich beschäftigte. Erst zu Christi Himmelfahrt 2011 offenbarte sich mir der tiefere Sinn jener unheimlichen Schicksalsdeutung. Seither leide ich zunehmend an vielerlei nervösen Störungen, vor allem an häufiger Schlaflosigkeit, ausgelöst durch das wohl berechtigte Angstgefühl, der Tag könne nicht mehr fern sein, an dem sich Abels gruselige Prophetie bewahrheitet. Infolgedessen legte sich automatisch eine abgrundtiefe Beklemmung auf mein Gemüt, gleichsam, als müsste ich demnächst gnadenlos ersticken, wäre unwiderruflich todgeweiht. Das belastet mich mittlerweile so stark, dass manchmal schon die abwegigsten Eingebungen in meinem Kopfe herumgeistern.

Wie kann das enden? Bleibt mir noch eine halbwegs reelle Perspektive, aus meinem derzeitigen Dilemma herauszukommen, um meine Haut zu retten? Sollte ich vielleicht (als Atheist!) regelmäßig beten, damit wenigstens meine Seele atmet, wie es sinngemäß in einem alten Sinnspruch heißt? Wer kennt die Lösung?

Sicher, als sich jene makabre Episode zwischen uns abspielte, war ich mit der alttestamentarischen Geschichte vom heimtückischen Brudermord bereits hinreichend vertraut, wurde sie uns doch während des Religionsunterrichts oft genug einprägsam vorgetragen. Schließlich kennen alle Christen und die mit ihrer Weltanschauung halbwegs Vertrauten den zweifelhaften Trieb des Menschen zur potenziellen Gewalt seit der Erzählung von Kain und Abel. Dabei fragte ich mich bisweilen allenfalls schon als Kind, warum eigentlich der erstgeborene Sohn Adams und Evas wegen seiner unverzeihlichen Freveltat das Kainsmal als gottgegebenes Schutzzeichen auf seiner Stirn brauchte, nachdem er, der Ackermann, seinen Bruder Abel, den Schäfer, erschlagen hatte, wenn doch niemand weiter da war, der nach angemessener Vergeltung hätte trachten können. Sollten es die Eltern richten? Oder ist es schlichtweg ein symbolhaftes Gleichnis? Hierzu erhält man in einschlägigen Publikationen unterschiedliche, teils auch gegensätzliche Antworten, auf die ich jedoch nicht näher eingehen möchte, weil es letztlich doch nur blanke Theorie bliebe.

Nun, wie dem auch sei, unsere freundschaftliche Beziehung zueinander ward durch jenen bestürzenden Zwischenfall hernach eher gefestigt als beschädigt, denn schon kurz darauf fügte uns ein kaum fassbares Ereignis für immer wie Pech und Schwefel zusammen. Das war das Grauenvollste, was ich bis dahin selbst hautnah erlebt hatte. Noch viel schlimmer traf es freilich meinen künftigen Weggefährten und brüderlichen Mitstreiter Abel, denn für ihn war es eine Begebenheit von derart teuflischer Härte, dass es ihn beinahe augenblicklich in den totalen Wahnsinn trieb, ein persönlicher Schicksalsschlag von unerhörtem Ausmaß, zumal wir beide dem grässlichen Geschehen echt hilflos ausgeliefert waren. Wir hatten als Kinder einfach keine Chance, jenes Kapitalverbrechen irgendwie zu verhindern, das sich wie folgt zutrug:

Am sechsten Tag unserer aufgezwungenen Reise ins Ungewisse fuhr der Sonderzug mit den vertriebenen Ungarndeutschen gegen Abend am Bahnhof Pirna ein. Wir mussten ungefähr noch eine Stunde in dem verschlossenen Güterwaggon verharren, ehe sich die Schiebetüren öffneten und alle schroff aufgefordert wurden, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken und auszusteigen. Wussten wir auch nicht, wie es mit uns weitergehen sollte, empfand doch sicherlich jeder die Order als willkommene Befreiung, denn wir hatten immerhin schier unendliche Stunden in einem ekelhaften Gefängnis verbracht.

Danach wurden die meisten Ankömmlinge für eine zunächst unbestimmte Zeit in den „Grauen Kasernen“, wir jedoch gemeinsam mit anderen Familien im großen Saal eines dortigen Gasthauses einquartiert, wo es auch halbwegs annehmbare Verpflegung gab. Außerdem waren wir fortan keine Inhaftierten mehr, denn wir durften fast nach Belieben ausgehen und uns in der Stadt oder deren näheren Umgebung umschauen, was natürlich einige oft und gerne nutzten, darunter auch wir. Und genau das gereichte uns schon bald zum Verhängnis, wie man es sich noch tragischer kaum vorzustellen wagt.

Ungefähr nach gut einer Woche meinten mehrere Personen, Abels Vater könnte doch als erfahrener Pfarrer auch unter den außergewöhnlichen Bedingungen eine Messe zelebrieren, um möglichst allen wieder etwas Mut und Hoffnung zuzusprechen. Gewiss fänden sich sogar Ministranten (katholische Messdiener) unter den anwesenden Knaben, falls es erwünscht wäre.

Der eilfertige Würdenträger kam ihrer verständlichen Bitte anstandslos nach und zeigte sich sofort geneigt, sie bereits am nächsten Tag zu erfüllen. Er bedauerte lediglich, dass er nicht selbst die Idee oder den Mut dazu hatte. Inhaltlich müsste er sich jedoch ein wenig darauf vorbereiten. Also nahm er Papier und Bleistift und zog sich auf ein verhältnismäßig ruhiges Plätzchen im Hause zurück.

Das war am späten Nachmittag. Um ihn dabei nicht zu stören, entschloss sich seine geliebte Lebenspartnerin, gemeinsam mit ihrem Sohn Abel und mir für eine Weile am Elbufer spazieren zu gehen (Peter blieb wiederum lieber bei seiner Oma). Der Fluss war höchstens zehn Minuten von unserer Notunterkunft entfernt.

Nachdem wir uns ungefähr eine halbe Stunde an den Schönheiten der Natur erfreut hatten und es auch noch länger tun wollten, schlenderten uns drei Männer im Alter von etwa zwanzig bis dreißig Jahren entgegen. Sie sahen ziemlich verwahrlost aus, erschienen sehr ungepflegt und teilweise auch zerlumpt. Einer trug eine fast leere Schnapsflasche in der rechten Hand, die er laut grölend umherschwenkte. Die beiden anderen hatten rauchende Zigaretten in ihren Mundwinkeln.

Nichts wirklich Böses ahnend, wurde uns doch langsam mulmig, als sie immer näher kamen, zumal weit und breit keine andere Menschenseele auszumachen war. Und siehe da, kaum standen wir ihnen direkt gegenüber, packte der etwas kleinere unter ihnen mich jählings von hinten so fest mit seinen schmutzigen Pranken, dass ich vorerst nicht die nötige Kraft fand, mich von ihm loszureißen. Das Gleiche widerfuhr unvermittelt Abel, während sich der Dritte gezielt auf seine schöne Mutter stürzte und ihr einzelne Kleidungsstücke brutal vom Leibe riss, um sie vor aller Augen zu vergewaltigen. Nachdem er seine tierische Begierde gestillt hatte, übernahm der Sexualverbrecher den völlig entsetzt und ebenso sprachlos dreinblickenden Jungen in seine Gewalt, damit der zweite Wüstling die äußerst widerwärtige Schandtat vollziehen sollte. Im selben Moment gelang es mir plötzlich, mich aus den Fängen des einen Monsters zu befreien, und ich rannte, wie von Sinnen so schnell ich konnte, um Hilfe zu holen.

In panischer Angst erreichte ich den Vater meines furchtbar gemarterten Freundes, und wir stürmten beide zur Stelle des Verbrechens. Als wir nach wenigen Minuten mit rasenden Herzschlägen und arg erschöpft dort ankamen, war noch Schlimmeres geschehen. Die junge Frau lag vollkommen regungslos am Boden. Sie war tot, vom dritten Kriminellen glattweg erwürgt worden, nachdem sie wieder ihre Stimme fand und markerschütternd schrie. Das entnahm ich den hysterischen Wortfetzen, welche sich die Gruppentäter danach gegenseitig zuwarfen.

Anschließend sah ich, wie der fassungslose Priester bei seiner Angebeteten kniete, und Tränen unsagbaren Schmerzes liefen über sein Gesicht. Kurz danach stürzte er sich wutentbrannt und zu allem entschlossen auf einen der Bestien, die nunmehr das Weite suchen wollten. Doch kaum hatte er ihn am Kragen erwischt, zückte der Unhold ein langes Messer und erstach den Verzweifelten.

All diese fast unbeschreiblich grässlichen Horrorszenen musste Abel direkt miterleben, ohne persönlich irgendetwas Nennenswertes dagegen unternehmen zu können, selbst wenn er sich noch so beherzt die Seele aus dem Leibe gebrüllt hätte.

Wer traut sich aufrichtig zu, seine damalige Situation einigermaßen wahrheitsgetreu nachzuempfinden, sich die namenlosen Marterqualen, denen er total hilflos ausgeliefert war, wenigstens annähernd zu vergegenwärtigen?

Zwar hatte auch mich der unbändige Schmerz beinahe in den Boden gestampft, doch mit absoluter Sicherheit traf es ungleich leidvoller meinen Freund, der knapp hintereinander in brutalster Weise Mutter und Vater verlor, die er beide grenzenlos liebte.

Ich weiß nicht, wie lange es wirklich dauerte, bis eine überaus besorgte Schar von Männern und Frauen aus dem Lager bei uns eintraf, um nach dem Rechten zu schauen. Ebenso wenig habe ich mitbekommen, was die Leute empfanden und wie sie reagierten, nachdem sie den Schauplatz der furchtbaren Tragödien entdeckten.

Dagegen ist mir eines noch bestens in Erinnerung, und ich werde es bestimmt zeitlebens nicht vergessen, weil sich jenes unergründliche Geschehnis garantiert auf ewig in meinem Bewusstsein einbrannte: Es war Abels äußerst merkwürdiger Blick, der mich regelrecht erstarren ließ, als er ihn jählings auf mich richtete. Nie zuvor habe ich in solch rätselhafte Augen gesehen! Sie fesselten mich unbarmherzig, zunächst wie synchron berstende winzige Sonnen, dann ähnlich einer blitzschnellen Bündelung ihrer ausgesandten Energie in Gestalt von im höchsten Grade seltsamen Lichtstrahlen, deren magischem Zwang ich aus eigener Kraft nicht mehr auszuweichen vermochte. Ihre Wirkung war derart übel, dass mich auf der Stelle eine schauderhafte Todesangst erfasste. Erst nachdem sich zwei warme Hände von hinten behutsam auf meine gebannten Augen legten, wich allmählich das unglaubliche Phänomen. Es war meine wunderbare Mutter, die mich hernach fest in ihre Arme nahm und dadurch wohl auch von noch größerem Schaden bewahrte.

Vielleicht glaubte Abel damals, ich hätte ihn während seiner dramatischen Notlage im Stich gelassen, und er müsse mich dafür unverzüglich hart bestrafen? Doch nach gründlicher Analyse halte ich das für vollkommen irreal, geradezu abwegig. Eher könnte während der grauenvollen Geschehnisse eine Art physikalisches Kraftfeld von ihm Besitz ergriffen haben, welches den Jungen zugleich mit einer beispiellosen Fähigkeit ausstattete. Aber das ist vorläufig nur eine Vermutung, mehr nicht, zumal noch arg nebulös.

Ob jener geheimnisvolle Vorfall nur wenige Sekunden oder womöglich sogar mehrere Minuten währte, entzieht sich meiner Kenntnis. Gleichwohl begegnet er uns in seinem Wesen noch heute als unergründlich, weil die Wissenschaft bislang keine verbindliche Antwort darauf gefunden hat. Verschiedene Experten meinen, es sei eine rein zufällige und daher absolut spontane Hypnose gewesen, über deren genaue Ursache und absonderliche Wirkung sich der Akteur höchstwahrscheinlich selbst nicht bewusst war, um sie zu beherrschen und gegebenenfalls anders zu steuern.

Bei der klassischen Suggestion wird man einem fremden Willen ausgesetzt und tut, was der andere befiehlt, sofern ihn der „Gott des Schlafes“ dazu befähigte. Das aber funktioniert nach meinem bisherigen Einblick nur, wenn man selbst bereit ist, mitzumachen, sich quasi als Medium dem Rapport des Hypnotiseurs vorbehaltlos aussetzt. So kann ein sehr erfahrener Magier durch gezielte Eingebung zum Beispiel bewirken, dass sein „Opfer“ im gewissen Trancezustand barfüßig über glühende Asche oder auch in Glasscherben wandelt, ohne sich dabei zu verletzen.

Dort hingegen fiel kein einziges Wort. Selbst den unsäglichen Schmerz konnte Abel nicht herausschreien. Keine Silbe kam über seine Lippen, und doch hatte er mich in seiner Gewalt, dazu bei einer Entfernung von wenigstens zweieinhalb Metern. Außerdem war ich auch nicht willens, mich freiwillig in den unerfindlichen Bannstrahl des Jungen zu begeben, von dem ich nicht mehr loskam, so sehr es mich auch innerlich danach drängte. Es fehlte mir einfach die nötige Energie, mich aus seinem wundersamen Blickkontakt zu lösen. Irgendetwas lähmte mich vollends.

Möglicherweise konzentrierte sich seine glühend aufwallende Urkraft instinktiv nur auf die beiden Sehorgane. Insofern gibt uns der mysteriöse Vorfall nach wie vor Rätsel auf, deren Lösung noch aussteht. Gegebenenfalls war es zu jener Zeit eine düstere Verheißung mir gegenüber, denn mir sollte einige Jahrzehnte danach, konkret am Sonnabend, dem 27. Januar 2001, im hiesigen Stadttheater Gleiches widerfahren (was ich noch eingehend darlegen werde).

Es sei hier auch erwähnt, dass ich zu keiner Zeit darüber gesprochen habe, weder unmittelbar nach dem geheimnisumwitterten Ereignis noch später, weil ich fortan nicht den geringsten Anlass mehr dafür hatte, wenngleich sich die besonders merkwürdige Begebenheit niemals vollkommen aus meinem Bewusstsein drängen ließ. Sie hat mich seither zeitlebens begleitet, anfangs meist als psychisch bedrückende Last, hernach immer weniger spürbar, quasi im stillen Hintergrund ihr arglistiges Dasein frönend.

Erst jetzt, nachdem bereits mehr als sechzig Jahre verflossen sind, wende ich mich absichtlich an die breite Öffentlichkeit, speziell an meine verehrte Leserschaft, getrieben von der vagen Hoffnung, gemeinsam ließe sich vielleicht jenes befremdliche Geschehnis erklären.

Deshalb will ich gleich noch präzisierend hinzufügen, welches makabre Bild sich während der betreffenden Szene wohl für immer unauslöschlich in meinen Hirnzellen einbrannte:

Mir gegenüber stand nämlich fast schlagartig nicht mehr Abel, jener ausnehmend liebenswürdige Jüngling, den ich genau dreizehn Tage zuvor kennenlernte und der mir von der ersten Stunde an sehr zugetan war und es auch fernerhin blieb (mit Ausnahme seines damals wie heute unerklärlichen Orakels).

Vielmehr befand ich mich jählings in der schicksalhaften Magie eines furchterregend dreinblickenden und demgemäß regelrecht unheildrohenden Halbwüchsigen, der offenbar selbst nicht wusste, was mit ihm geschah. Für einen Moment hatte ich das Empfinden, als hätte er sich abrupt in eine völlig andere Person verwandelt oder sogar flüchtig die Gestalt vom Leibhaftigen angenommen.

Des Teufels Bildnis war mir ja aus früheren Kindheitstagen noch fast taufrisch im Bewusstsein: Ein rot-schwarz behaartes, zweibeiniges Geschöpf in Mannesgröße, dazu mit Hörnern, Klumpfüßen oder Hufen und gruselig funkelnden Augen versehen. Zwar habe ich ein solches Höllenmonster niemals lebend zu Gesicht bekommen, dessen vermeintliche Existenz und grenzenlose Boshaftigkeit wurden uns Sprösslingen jedoch oft genug in Wort und Bild veranschaulicht. Derartiges bleibt natürlich im Gedächtnis haften. Dafür sorgt nicht zuletzt unsere kindliche Fantasie, mag sie zuweilen auch noch so verschrobene Blüten treiben.

Abels urplötzlich verändertes Antlitz, in das ich vollkommen fassungslos blickte, war hingegen echt und kein Hirngespinst.

Und genau diesem überaus rätselhaften Phänomen werden wir im Verlauf meiner Erzählung noch mehrfach begegnen. Darum sollten wir es in unserem Oberstübchen fest verankern!

Im Übrigen weiß ich auch nicht, ob die drei Verbrecher jemals dingfest gemacht und ihrer gerechten Strafe zugeführt werden konnten. Aber das Drama, welches durch sie ausgelöst wurde, setzte sich bereits am nächsten Tag fort. Zu groß waren die seelische Erschütterung und das Leid der unmittelbar davon Betroffenen, als dass sie es vielleicht noch halbwegs verkraftet hätten. Abels Großvater bekam einen schweren Herzinfarkt, dem er kurz darauf erlag. Er und die beiden getöteten Angehörigen wurden auf dem städtischen Friedhof zu Pirna feierlich beigesetzt. Seine Frau, die uns bis dahin als ausgesprochen resolut erschien, drehte sichtlich durch und verfiel unaufhaltsam dem Wahnsinn. Sie wurde in die Nervenheilanstalt nach Arnsdorf bei Dresden gebracht, wo sie nach fünf Monaten verstarb.

Lediglich ihr Nachkomme Abel, der während jenes verhängnisvollen Geschehens genau elfeinhalb Jahre alt war, und sein jüngerer Bruder Peter überstanden das Grauen relativ schnell und obendrein fast unbeschadet, was uns natürlich nicht nur höchst angenehm überraschte, sondern gleichermaßen erfreute. Dem Anschein nach glaubten und hofften wir jedenfalls inständig, es wäre und bliebe so. Ach, was waren wir glücklich darüber, dass wenigstens die beiden Jungen eine Zukunft hatten, obgleich niemand wusste, welche es sein wird.

Da sie infolge der barbarischen Heimsuchung in Pirna urplötzlich überhaupt keine Familienangehörigen mehr besaßen, entschlossen sich meine Eltern ohne viel Federlesens, die verwaisten Knaben unter ihre Obhut zu nehmen. Sie meinten, wo mehrere Kinder halbwegs satt werden, käme es auf eins oder zwei zusätzlich auch nicht mehr an. Außerdem hatten sie die auffallend sympathischen Burschen längst fest in ihr Herz geschlossen. Den Ausschlag für ihre kennzeichnende Entscheidung dürfte indessen nicht zuletzt das freundschaftliche Verhältnis zwischen Abel und mir gegeben haben, was ihnen natürlich nicht entging. Außerdem wollten sie die schon unsäglich leidenden Brüder nicht auch noch auseinanderreißen. Sonach fanden beide in unserer Familie neue Geborgenheit.

Das Elbmonster

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