Читать книгу Das Elbmonster - Gerner Károly - Страница 5

2

Оглавление

Abel Kager und ich erblickten im selben Jahr das Licht der Welt, er genau zwei Wochen später als ich und beide im Zeichen des Skorpions (Letzteres erscheint mir zwar absolut belanglos, ist aber für manche Leser sicherlich erwähnenswert).

Damals, neunzehnhundertsechsunddreißig, kam das krisengeschüttelte Europa immer noch nicht zur Ruhe. Kaum waren die unsäglich schmerzhaften Wunden des Ersten Weltkrieges einigermaßen verheilt und die furchtbar bitteren Tränen der Leidtragenden halbwegs gestillt, schon formten sich erneut drohende Gewitterwolken am Himmelszelt. Sie nahmen der wunderbaren Sonne zusehends einen Teil ihrer Leuchtkraft, welche seit Urzeiten irdisches Leben spendet. Aber nur wenige Zeitgenossen auf unserem überaus faszinierenden Himmelskörper erkannten das fatale Donnergrollen als ein nahendes Unheil, gleichsam einer Apokalypse, die schon bald alles Vorangegangene an Grausamkeiten und Todesopfern (wenigstens fünfzig Millionen Seelen!) in den Schatten stellen sollte.

Die Götter meinten es anscheinend wiederum nicht unbedingt gut mit ihren Erdenkindern und wohl am allerwenigsten mit den Bewohnern Teutonias.

Vielleicht öffnete auch die sagenumwobene Pandora als Abgesandte des Zeus in mannigfach bewährter Tradition ein weiteres Mal ihre Büchse, um die Sterblichen für ihr sündhaftes Verhalten zu bestrafen, weil diese trotz beschenkten Verstandes sämtliche Warnungen der legendären Kassandra ein weiteres Mal in den Wind schlugen.

Womöglich war es auch der Teufel in persona, „denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht“, sagte bereits Mephisto zu Faust.

Wie dem auch sei, ein jeder urteile nach eigenem Gutdünken, zeige sich jedoch stets aufgeschlossen für eventuelle Korrekturen!

Indessen bekunde ich sogleich freiheraus, dass sich mir derartige Schuldzuweisungen für menschliche Konflikte und Tragödien seit Langem als vollkommen abwegig darbieten. Es sind vielmehr gesellschaftliche Ursachen, oft direkt einherschreitend mit teils stark negativ ausgeprägten Eigenschaften von Individuen, welche fortwährend irgendwelche Katastrophen heraufbeschwören. Dazu gehören vor allem die egozentrischen Machtgelüste der Stärkeren zur Unterdrückung und Ausbeutung anderer, was zwangsläufig soziale Ungerechtigkeit zur Folge hat, obendrein angespornt durch blindwütigen religiösen oder politischen Fanatismus und dieser wie eh und je gepaart mit garstiger Intoleranz. Hinzu kommen Begehrlichkeiten diverser Art, ferner Missgunst, Rachsucht sowie die maßlose Selbstüberschätzung bestimmter Subjekte.

Das sind meines Erachtens die maßgeblichen Triebkräfte des Bösen, und sie wirken heute nicht anders als früher. Allein wenn wir uns die laufenden Vorgänge im Weltgeschehen kritisch ins Blickfeld rückten, hätten wir bereits genügend geistigen Zündstoff.

Diesen jetzt zu entfachen, dürfte momentan wohl kaum jemanden ernsthaft nötigen. Darum wieder schnurstracks zurück zum Ausgangspunkt meiner Schilderungen!

Als Abel und ich 1936 geboren wurden, tobte in Spanien ein abgründig grausamer Bürgerkrieg, und deutsche Verbände testeten an der Seite dortiger Faschisten ihre neuen Waffen („Legion Condor“). Es kämpften indessen auch viele Freiwillige (circa 60.000!) aus allen Herren Ländern gegen die aufkommende Franco-Diktatur. Darunter befanden sich solch namhafte Persönlichkeiten wie George Orwell, Egon Erwin Kisch, Ernest Hemingway, Ilja Ehrenburg, Hans Beimler und André Malraux. Ihr dort gezeigter Heldenmut war allerdings vergebens, sofern man vom weithin leuchtenden Fanal jener heroischen Aktionen einmal absieht (der auserlesen talentierte Schriftsteller Ken Follett setzte ihnen sowie dem spanischen Volksheer mit dem zweiten Teil seiner im September 2012 erschienen Jahrhundert-Saga „Winter der Welt“ ein überwältigendes literarisches Denkmal).

Ähnlich in Germanien: Überaus blindwütige Nationalsozialisten schickten sich an, das Tausendjährige Reich zu errichten, konzentrierten ihre Kräfte jedoch zunächst auf den bevorstehenden irrsinnigsten Waffengang aller Zeiten. Dafür diente ihnen das fraglos schändliche Friedensdiktat der Siegermächte von 1919 als willkommener Vorwand. Unter der Ägide ihres vom manischen Cäsarenwahn befallenen Führers Adolf Hitler machten sie sich also ans Werk, um die „Schmach von Versailles“ gezielt und ebenso unerbittlich zu vergelten. Doch es kam weit schlimmer, denn nie zuvor ward ein derart bestialisches Völkermorden inszeniert. Die verbrecherische Elite der „reinrassigen Arier“ vermochte etwas zu bewirken, das in der gesamten Menschheitsgeschichte seinesgleichen sucht und glücklicherweise nicht findet. Dabei hatte sie auch zahlreiche Befürworter sowie aktive Förderer, vornweg durch Rüstungsindustrielle, Teile der Finanzoligarchie und andere Monopolhaie.

Und kaum waren die Nazis zur Macht befördert, gewährten sie Heiratswilligen ein zinsloses Ehestandsdarlehen von bis zu eintausend Reichsmark. Das feierliche Ja-Wort verpflichtete daraufhin die Braut, ihren Arbeitsplatz aufzugeben und Kinder zu gebären (Frauenemanzipation war für Hitler ohnehin eine jüdische Marotte). Nach jedem frischen Sprössling erließ man den betreffenden Eheleuten fünfundzwanzig Prozent der vom Staat dargebotenen Summe. Mit der vierten Geburt war die Mutter schließlich „abgekindert“, wie man es treffend im Volksmund nannte.

Demzufolge ist es nicht verwunderlich, dass selbst die XI. Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin, welche für die Sportler der Gastgeber überragende Erfolge brachten, von den erkorenen Leitwölfen der frenetischen braunen Horden sogar als internationale Tribüne für ihre Zwecke missbraucht wurden, indem man deutsche Frauen gezielt dazu aufrief, emsig für mehr Nachwuchs im Lande zu sorgen.

Ach, wenn alle heutigen Mitbürger wenigstens einen blassen Schimmer davon hätten, was damalige Machthaber mit ihrer Familienpolitik tatsächlich beabsichtigten!

Dem „Führer“ und seinen Schergen ging es in besagter Hinsicht allein darum, „deutschblütige und erbtüchtige“ Eltern anzufachen, damit sie dem Regime genügend Kanonenfutter für die beabsichtigten Eroberungskriege lieferten. Waren Frauen und Männer indessen von Erbkrankheiten geplagt, drohte ihnen obendrein Zwangssterilisierung und den betroffenen Kindern Euthanasie (bewusste Herbeiführung des Todes). Handelte es sich gar um Menschen jüdischen Glaubens, wurden sie in Konzentrationslager getrieben, was gemeinhin ihr physisches Ende bedeutete.

Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde übrigens schon im Juli 1933 vom Deutschen Reichstag beschlossen, und es trat bereits Anfang 1934 in Kraft. Damit überantworteten die neuen politischen Herrscher eine ungeheure ethische Last den Ärzten, weil diese fortan verpflichtet waren, „mögliche Erbdefekte“, die sie bei ihren Patienten oder deren Familien vermuteten, den zuständigen Ämtern zu melden. Namentlich der Hausarzt sollte „Hüter am Erbstrom der Deutschen“ sein, wie es offiziell lautete. Sonach oblag es in erster Linie ihm, entsprechende Anträge an das Erbgesundheitsgericht zu stellen. Befand man dort, dass ein Mensch „erbkrank“ war, wurde er sterilisiert, selbstredend auch gegen seinen Willen. Und es gab durchaus genügend Leute, die wenig oder keinerlei Skrupel hatten, der inhumanen Order nachzukommen.

Sachbezogen wäre hier allerdings einzuräumen, dass die Zwangssterilisation keine Erfindung der Nationalsozialisten war. Sie wurde beispielsweise in den USA oder Dänemark wesentlich früher praktiziert, aber in Deutschland besonders radikal durchgesetzt. Daher wird es kaum jemanden überraschen zu erfahren, dass bis zum Mai 1945 im hiesigen Altreich mindestens 400.000 Menschen ihrer Zeugungsfähigkeit beraubt wurden, was rund einem Prozent der Bevölkerung im fortpflanzungsfähigen Alter entsprach. An dem Eingriff starben etwa 5.500 Frauen und 600 Männer. Außerdem wurden mehr als zehntausend Kinder in Gaskammern getötet. Doch bevor man sie als „unwert“ brandmarkte und sonach der Vernichtung preisgab, wurden nicht wenige der jungen Todeskandidaten „zu Forschungszwecken“ von Ärzten, Psychiatern und deren Helfern gezielt infiziert und teils auch mörderisch gequält.

Welch eine Barbarei! Gleichwohl darf das soeben Dargelegte nur als ein kleiner Einblick in jene Verhältnisse gewertet werden!

Sicher, niemand ist gezwungen, sich mit historischen Fakten und Zusammenhängen besonders intensiv zu beschäftigen. Es wäre ohnehin nicht jedermanns Sache. Das muss man akzeptieren, keine Frage. Aber wer sich mit der Vergangenheit nicht gründlich auseinandersetzt, sollte sie auch nicht als Kronzeugen für eigennützige Vorhaben missbrauchen, wie es hierzulande noch viel zu oft praktiziert wird. Das ist schlichtweg unredlich, selbst wenn man sich dabei noch so heftig auf die Freiheit des Geistes beruft.

Doch blicken wir nochmals kurz auf 1936 zurück!

Zweifellos gab es auch zu jener Zeit viele ehrbare Persönlichkeiten, darunter den pazifistischen Publizisten Carl von Ossietzky (1889 bis 1938), der im selben Jahr den Friedensnobelpreis nachträglich für 1935 zugesprochen bekam. Er konnte die hohe Auszeichnung als typischer KZ-Häftling „wegen Landesverrats“ freilich nicht eigenhändig entgegennehmen. Das haben ihm die regierenden Nationalsozialisten strikt verwehrt. Wohin ihre Wahnsinnsideologie letztlich führte, dürfte jedem ausreichend bekannt sein, der sich halbwegs dafür interessiert.

Sonach könnte die Erkenntnis reifen, dass ausnahmslos jedes gesellschaftliche System die ihm genehmen Herrscher, Befürworter, Mitläufer und Speichellecker, doch auch fortwährend seine Widersacher hervorbringt.

Das Land der Magyaren, unsere einstige Heimat, ward hingegen bereits seit 1920 vom Horthy-Regime beherrscht. Die Bezeichnung verweist auf jenen rechtsradikalen Reichsverweser, welcher sich 1941 beim Überfall auf die Sowjetunion der verheerenden Torheit Hitlers anschloss und schließlich mit seiner diktatorischen Regierungsform endete, wie es gerechterweise früher oder später allen militärisch gedrillten, auf Aggression gerichteten und obendrein vom Größenwahn befallenen Staatsgebilden widerfahren sollte, nämlich mit einer bedingungslosen Kapitulation.

Damit war auch ein beträchtlicher Abschnitt unseres künftigen Lebens weitgehend besiegelt, denn wir mussten Ungarn verlassen, wurden als Bürger mit ursprünglich deutscher Herkunft gewaltsam ausgewiesen.

Unsere Vorfahren kamen einst aus Schwaben und machten sich wohl schon zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts auf dem Balkan sesshaft (was ich allerdings für meine konkrete Ahnenreihe vorerst nur bis zum Jahre 1795 nachweisen könnte).

Die Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen erfolgte indessen bereits im zwölften und dreizehnten Jahrhundert. Sie wurde amtlich besonders gefördert, nachdem die eroberungs- und zerstörungssüchtigen Reiterheere der kriegslüsternen Mongolen während ihrer Raubzüge ganze Landstriche verwüsteten, indem sie zahlreiche Städte und Dörfer buchstäblich dem Erdboden gleichmachten. Zugleich löschten sie deren Bewohner fast vollständig aus, sofern es sich nicht um auffallend schöne Frauen, begabte Handwerker oder namhafte Künstler und Gelehrte handelte, die sie zwanghaft mitnahmen, damit sie ihnen fortan uneingeschränkt dienen konnten: die Evastöchter als begehrte Sexualobjekte und die anderen mit ihren speziellen Fertigkeiten und Kenntnissen. So geschehen im Gefilde der Magyaren anno 1241.

Bemerkung: Das obige Wort „Sachsen“ ist kein Verweis auf die Herkunft der einstigen Kolonisten, sondern eine südosteuropäische Bezeichnung für deutsche Bergleute in Transsilvanien (jetzt rumänisch, ehedem Teil Ungarns). Jene Volksgruppe stammte höchstwahrscheinlich überwiegend aus Moselfranken.

Unsere Zwangsverschickung ereignete sich Anfang Mai 1948. Sie war eine der vielen Deportationen. Warum gerade meine elterliche Familie überhaupt vertrieben worden ist und alle unsere Verwandten bleiben durften, vermag ich bis heute nicht eindeutig zu erklären, denn wir waren weder reich noch faschistoid. Und mit waghalsigen Vermutungen will ich gar nicht erst aufwarten. Offensichtlich herrschte auch in dieser Frage ziemliche Willkür.

Aber Schwamm darüber! Ungarn ist ein herrliches Land mit ebenso tüchtigen wie freundlichen Menschen und darum garantiert jederzeit meines persönlichen Wohlwollens sicher. Ich verspüre zumindest keinerlei Missbehagen oder gar nachträgliche Rachegelüste für jene Schmach, welche dereinst meinen Eltern zugefügt wurde.

Die für mich äußerst merkwürdige Beförderung in Richtung „Ostzone“ der besiegten Teutonen dauerte annähernd sechs Tage und endete in Pirna, einem interessanten Städtchen an der Elbe, etwas größer als Meißen und in entgegengesetzter Richtung von Dresden. Dort hatte man uns für drei Wochen gemeinsam mit vielen anderen Leuten, die vom gleichen Schicksal betroffen waren, in einem großen Sammellager untergebracht beziehungsweise kurzerhand eingepfercht.

Schon während der ersten Stunden unserer seltsamen Beförderung in einem fest verschlossenen und daher furchtbar stinkenden Viehwaggon, zumal er mit „Umsiedlern“ berstend gefüllt war, bemerkte ich eine leise Sympathie gegenüber Abel, den ich vordem nicht kannte.

Trotz der widerwärtigen Bedingungen führten wir vielerlei Gespräche miteinander. Und so wuchs zwischen uns allmählich das zarte Pflänzchen echter Zuneigung, welches wir im anschließenden Wartelager sorgsam pflegten, damit es prächtig gedeihe, denn in uns keimte bereits zusehends die vage Hoffnung, es könne sich vielleicht allmählich zum kräftigen Baum als Symbol tiefer Freundschaft entwickeln.

Genau so kam es dann auch, wenngleich eine schier unglaubliche Tragödie, die wir damals im Alter von elfeinhalb Jahren gemeinsam in Pirna erlebten, unseren nachfolgenden Werdegang ebenso sprunghaft wie einschneidend beeinflusste.

Jener grauenvolle Zwischenfall war besonders für Abel ein derart harter Schicksalsschlag, dass er sich buchstäblich für immer in seiner arg verletzten Seele einbrannte. Seither plagen ihn unentwegt dahingehend Gewissensqualen, ob denn das schreckliche Ereignis gegebenenfalls durch mehr Besonnenheit und beherzterem Auftreten seinerseits hätte verhindert werden können. Diesen nervenaufreibenden Bazillus wird er zeitlebens nicht mehr los.

Obendrein wurde in ihm durch dieselbe verhängnisvolle Episode urplötzlich etwas ausgelöst, das nicht nur ihn, sondern auch mich wie vom Blitz getroffen auf der Stelle erstarren ließ, eine mysteriöse Kraft, die ich nach wie vor kaum zu beschreiben wage, geschweige denn umfassend erklären könnte.

Der Mensch ist ja so eine Art biochemische Fabrik, freilich eine hochmoderne, weil mit Gefühl und Verstand ausgestattet. Sobald ein Teil nicht mehr richtig funktioniert, gerät bisweilen das ganze System durcheinander. Handelt es sich dabei ausschließlich um einen körperlichen Defekt, sind die jeweils zuständigen Fachleute oftmals in der Lage, die genaue Ursache herauszufinden, um sie gezielt zu beheben oder hinsichtlich ihrer negativen Folgen wenigstens zu lindern. Wenn jedoch die gesamte Psyche erfasst wird, etwa durch ein unangenehmes Schockerlebnis, welches jählings eine hochgradige seelische (mitunter auch physische) Erschütterung in uns auszulösen vermag, kann es für die Lebensperspektive des Betroffenen sehr problematisch werden, sofern nicht rechtzeitig eine geeignete Therapie erfolgt. An eine solch medizinische Hilfe für Abel war damals überhaupt nicht zu denken. Er hatte weit und breit nicht die geringste Chance, entsprechend betreut zu werden.

Doch ehe ich detaillierter auf die grenzenlos fatale Begebenheit eingehe, um eine bedeutsame Grundlage für das Verständnis all dessen zu schaffen, was uns an nahezu Unfassbarem noch bevorsteht, will ich meinen verehrten Lesern zunächst eine Reihe persönlicher Erlebnisse und Gedanken anvertrauen, die in bestimmter Weise zum Thema gehören. Es fällt mir ohnehin schwer genug, das Kernproblem der Geschichte treffend und vor allem glaubwürdig zu übermitteln, weil es im europäischen Raum und anscheinend sogar weltweit bisher tatsächlich nichts Gleichartiges gibt, wie sämtliche Recherchen erneut bestätigt haben, die ich eigens wegen dieser autobiografisch untersetzten (Kriminal-)Erzählung in jüngster Zeit außerordentlich intensiv geführt habe.

Apropos Internet: Dank mehrmaliger und gleichermaßen drängender Aufforderungen durch meine liebe Frau habe ich mir nun endlich einen Personalcomputer angeschafft. Und ich gestehe leicht beschämt: Das hätte ich schon viel früher tun sollen! Obwohl er mich vorläufig mehr beherrscht als ich ihn, ist er mir dennoch bereits eine enorme Hilfe (wobei mich meine Enkel gerne unterstützen, zumal sie diesbezüglich schon viel mehr draufhaben als ich jemals erreichen werde).

Manchmal gebärde ich mich offenbar wie ein störrischer alter Esel. Vielleicht bin ich zuweilen auch einer. Na und? Ich kann mich trotzdem ganz gut leiden, ohne deshalb gleich ein Narzisst zu sein, jemand, der zunächst sein Spiegelbild anhimmelt und schließlich nur noch sich selbst liebt. Nein, solcherart egozentrische Vergötterung gehört wirklich nicht zu meinem Naturell. Das überlasse ich gerne Leuten wie etwa dem Modezaren Karl Lagerfeld, der sich nach eigener Bekundung nur für sich und sein künstlerisches Abbild interessiert. Dergestalt extravagante Allüren entsprächen überhaupt nicht meinem Charakter.

Außerdem weiß man doch spätestens im fortgeschrittenen Alter, dass viele Dinge und Geschehnisse, die wir ab und zu für höchst bedeutsam halten, erst recht, wenn wir sie auf irgendeine Weise selbst erlebt, gestaltet oder beeinflusst haben, ihrem Wesen nach nichts weiter sind als Nichtigkeiten im ewigen Reigen belangloser Ereignisse. Da stimme ich dem griechischen Schriftsteller Antonis Samarakis vorbehaltlos zu, indem er meinte, dass namentlich in einer Gesellschaft, wo Unsicherheit und Angst überwiegen, letztlich alles fließend wäre und es keine beständigen Werte mehr gebe: „Alles ähnelt Schatten, Erscheinungen, Sinnestäuschungen, die Welt ist nichts anderes als der flüchtige Traum eines Toten.“

Wer sich dennoch eigensüchtig erhöht und meint, ohne seine Existenz und Taten ginge die Menschheit zugrunde, ist zumindest ein bedauernswertes Geschöpf, wenn nicht gar ein armer Irrer.

Wir sind trotzdem gehalten, solche Persönlichkeiten zu achten und obendrein gefordert, möglichst immer und überall unser Bestes zu geben. Schließlich gilt: Wer für seine Ideale nicht lichterloh brennt, wird auch andere kaum entflammen. Es sind nicht die Satten und Genügsamen, auch nur vereinzelt die Glücklichen, von denen man nennenswerte Veränderungen erwarten darf. Vielmehr waren, sind und bleiben es die Unzufriedenen und erst recht die von ihrem jeweiligen Vorhaben Besessenen, deren Absichten und Handlungen den irdischen Dunstkreis zuweilen nachhaltig aus den Angeln heben.

Im Grunde genommen strebt doch fast jeder Mensch zuerst nach dem eigenen Wohlbefinden. Dessen erhoffte Verwirklichung bleibt hingegen oftmals ein frommer Wunsch.

Da helfen auch keine Zeitschriften, Bücher oder Schulen mit dem vielversprechenden Slogan „Wege zum Glück“ (ganz abgesehen davon, dass individuelles Heil in einer erstaunlichen Variationsbreite aufzutreten vermag).

Dank unserer notorischen Leichtgläubigkeit ist der Markt regelrecht übersättigt von derart scheinheiligen Seelentröstern. Offenbar lässt sich damit zur Genüge Bares verdienen.

Wer sich jedoch unentwegt von solcherlei Wunschvorstellungen statt von realen Zielen anstacheln lässt, wird immer der Getriebene sein, sich gleichsam wie in einem Hamsterrad wähnen. Man will fortwährend nach den Sternen greifen und versäumt, sich an der unendlichen Vielfalt und Schönheit irdischen Lebens selbst zu erfreuen.

Weil dem so ist, beschäftigt mich schon seit Längerem die Frage, was uns tatsächlich zeitweise daran hindert, einfach der Vernunft zu folgen, anstelle wiederholt begierig im Nebel zu stöbern.

Genau dieser Problematik widmete ich bereits mein erstes Buch, das unter dem Titel „Offenbarung“ im Juli 2005 vom damals noch blutjungen Arrival Verlag herausgebracht wurde. Die Erstauflage umfasste lediglich einige Hundert Exemplare, obzwar ich bereits im Voraus für ein Vielfaches davon bezahlt hatte. Ein Nachdruck konnte nicht mehr erscheinen, weil das kleine, speziell auf Belletristik orientierte Unternehmen anscheinend schon während seiner frühen Kinderjahre in zu heftiges Fahrwasser geriet und daher im Februar 2007 zwangsläufig Konkurs anmelden musste.

Ach, wie treffend, ja regelrecht bildhaft anschaulich du doch ähnliche Erfahrungen formulieren konntest, mein lieber Goethe: „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt.“ Das war’s, aus und vorbei, fast umsonst der enorme Aufwand an Zeit und Kraft, glaubte ich ehedem, zumal meine einschlägigen Vorhaben sich nachgerade in Brodem auflösten. Schließlich nutzte ich über drei Jahre hinweg beinahe jede freie Minute, um ein lang gehegtes Vorhaben zu verwirklichen.

Es war mein heiß ersehnter Wunsch, vor meinem endgültigen Abflug ins Nirwana, das ich übrigens probeweise schon zweimal flüchtig aufsuchte (später mehr dazu!), möglichst noch etwas Gescheites auf den Markt zu bringen. Ich wollte meine Zeit am wenigsten mit dem üblichen Rentnerdasein vertrödeln (was freilich nicht etwa gegen die individuellen Praktiken der Senioren spricht; es sollte doch ein jeder tun oder lassen, was er für richtig hält, sofern es anderen nicht schadet!).

Einer Heldentat glich meine eigenwillige Beflissenheit keinesfalls. Das ist mir durchaus bewusst. Sie war einfach die Folge eines schier unbändigen inneren Dranges, meine Ansichten zu bestimmten Dingen des Lebens sowie aktuellen Begebenheiten in der Welt frisch von der Leber zu schreiben, natürlich stets verknüpft mit der vagen Hoffnung, das Ergebnis könne überwiegend Zuspruch finden und namentlich meine Getreuen vereinzelt sogar dazu beflügeln, fortan weniger Fehler zu begehen, als ich es bislang vermochte. Zudem hatte ich schon mehrere Verträge für Lesungen außerhalb meiner altehrwürdigen Heimatstadt Meißen unter Dach und Fach. Unterdessen konnte ich auch eigens dafür einen befreundeten Musikus überzeugen, künftig gemeinsam mit mir aufzutreten, dem empfänglichen Publikum seine faszinierende Kunst zusätzlich darzubieten, damit das ohnehin reizvolle Unterfangen noch attraktiver werde. Doch mein schöner Traum erfuhr schon bald einen spürbaren Wandel hin zur bitteren Realität, denn die überaus beflügelnde Gunst des Schicksals zog schleunigst von dannen.

Sicher, es gibt unzählige Ereignisse, die wesentlich schlimmer sind als das soeben grob geschilderte. Aber das Leben widerfährt uns stets konkret. Was dem einen als nichtige Lappalie erscheint, kaum erwähnenswert begegnet, kann sich dem anderen zur mittleren oder großen Katastrophe ausweiten. Deshalb sind auch Pauschalurteile äußerst selten dienlich, meistens regelrecht falsch und daher nahezu unstatthaft, weil irreführend.

Es sei hier auch meine fast beiläufig gewonnene Erfahrung unverblümt kundgetan: Wahrscheinlich ist es meist leichter, ein Buch zu schreiben, als es gegenwärtig hierzulande erfolgreich zu vermarkten, sofern man auf sich allein gestellt bleibt. Autoren in spe, ihr seid gewarnt! Aber lasst euch trotzdem nicht entmutigen, zumal sich die Geschmäcke des Publikums ja ständig ändern!

Wer in besagter Branche noch keinen Namen hat, weder auf einschlägige Beziehungen vertrauen kann noch hinreichend über den schnöden Mammon verfügt, muss sich eben um eine besondere Qualität seines Produkts bemühen und obendrein auf den Beistand der Glücksgöttinnen Fortuna oder Tyche hoffen, es sei denn, er nennt ein ausgeprägtes Naturtalent schriftstellerischer Art sein Eigen. Aber wer besitzt sie schon, die geniale Fabulierkunst, wähnt sich dergestalt begnadet? Kurzum, ich zaudere oftmals sehr hartnäckig bei jedem Wort, welches ich im Reigen mit anderen nach meinem geistigen Bilde suche, damit es mir gefalle und der Sache diene. Wohl dem, der lockerer damit umzugehen vermag! Eine gewisse Nonchalance ist fast immer von Vorteil, kostet bestimmt weniger Aufwand und Nerven. Doch kann jemand einfach aus seiner Haut springen, festgefahrene Gewohnheiten mühelos abstreifen?

Darum sei hier meiner verehrten Leserschaft auch gleich zusätzlich verraten, dass ich im Sommer 2009 eine 560 Seiten umfassende sozialkritische Erzählung beim Shaker-Media-Verlag herausbrachte. Sie trug den Titel „Abels Orakel“. Doch beachtliche Erfolge konnte ich auch mit diesem Buch nicht erzielen. Finanziell gesehen war es unterm Strich sogar erneut ein deutliches Minusgeschäft. Mir fehlt anscheinend das nötige Geschick, meine Produkte gewinnträchtig anzupreisen. Und als Selbstläufer taugen sie offenbar nicht. Trotzdem empfinde ich das kaum als ein nennenswertes Hindernis, denn für unseren Lebensunterhalt reicht bisher die Rente. Klar würde ich unsere Kinder und Enkel auch mit Geld gerne unterstützen, und doch betrachte ich das Verfassen von Texten eher als ein verlockendes Hobby.

Meine bessere Hälfte schätzt den Sachverhalt allerdings ganz anders ein. Sie meint, ich solle doch die Schreiberei endlich aufgeben und stattdessen des Öfteren an die frische Luft gehen. Das würde meiner Gesundheit bestimmt mehr dienen, als stundenlang am Computer zu sitzen. Obwohl mir Stubenhockerei auch zuwider ist, bin ich meines Vorhabens wegen doch gewillt, sie mehr als üblich zu erdulden.

Ach, die edlen Damen! Erst bedrängt sie mich ungestüm, mir einen Laptop zu kaufen, und nachdem ich einigermaßen mit ihm umgehen kann, sollte ich lieber wieder die Finger von der Kiste lassen.

Nun, wie dem auch ist, in meinem Alter zankt man sich nicht mehr. Das wäre schlichtweg vertane Zeit, weil es sich doch gemeinhin um belanglose Dinge handelt. Insofern sind wir gut beraten, über allen Zweifel erhaben zu sein. Je früher, desto besser. Das schont unser Nervenkostüm. Schließlich wissen wir doch längst, dass Frauen nicht selten mit dem beeindruckenden Drang ausgestattet sind, über Probleme endlos zu reden. Männer hingegen wollen sie lösen, möglichst schnell abhaken. Darin verbirgt sich freilich ein gewaltiger Unterschied, indessen gleichermaßen eine besondere Verlockung jedweder Partnerschaft. Wir beide sagen uns jedenfalls offenherzig die Meinung und schweigen hinterher oder handeln nach eigenem Gutdünken. Böse Worte sind tabu, gegenseitige Beleidigungen verabscheut, zumal wir es ernst nehmen mit den nötigen Freiräumen, die jeder braucht, um seinen Seelenfrieden zu wahren und sich wohlzufühlen.

Ergo habe ich des heiligen Einklangs wegen meinem holden Weiblein mit leichtem Augenzwinkern Folgendes mündlich zugesichert: Sobald ich nach Fertigstellung und erfolgreichem Vertrieb dieser Abhandlung Millionär bin, höre ich mit derlei Beschäftigungen sofort auf. Und sollte das nicht eintreten, was ja nahezu hundertprozentig sicher ist, beende ich erst recht meine einschlägigen Bemühungen. Der alte Shakespeare würde hierauf sicherlich entgegnen: „Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Ich teile seine Erfahrung. Zudem sollte man ja auch niemals nie sagen. Lassen wir es einfach an uns herankommen!

Meine verehrten Leser haben gewiss schon beizeiten erfasst, dass es sich hier weder um Selbstmitleid noch um ein wehmütiges oder gar zorniges Klagelied handelt. Die vielleicht etwas merkwürdig anmutenden Äußerungen sollen lediglich etwas aufmunternd unterhalten. Vorerst wenigstens.

Eigens deshalb werde ich mich im nächsten Kapitel absichtlich noch tiefer in jene abenteuerliche Begebenheiten hineinbemühen, die auf irgendeine Weise mit meiner bisherigen Tätigkeit als Autor verknüpft sind. Eine selbstgefällige Nabelschau ist dabei nicht beabsichtigt, denn sie wäre garantiert unersprießlich.

Demnach betone ich aus vollem Herzen: Es reizt und treibt mich mehr denn je, Abels höchst seltsame Schicksalsfügung einer interessierten Öffentlichkeit schonungslos preiszugeben. Außerdem sind bekanntlich aller guten Dinge drei. Darum will ich auch dieses Buch trotz mancher Widrigkeiten unbedingt fertigstellen.

Sollte es jedoch nach einer gewissen Zeit ebenso wenig erfolggekrönt bleiben wie seine zwei Vorgänger, dann müsste ich wohl endgültig die Segel streichen, indem ich eingestehe, dass mir jedwedes Talent zum Verfassen schöngeistiger Literatur fehlt oder es kaum jemanden interessiert, was ich zu Papier bringe. Die bisher rund dreihundert veräußerten Exemplare sind schließlich kein beachtenswerter Erfolg, zumal ich gut ein Drittel davon verschenkt habe. Kurzum: Aufwand und Ertrag stünden weiterhin in einem denkbar schlechten Verhältnis zueinander. Da müsste ich notgedrungen meiner lieben Frau zubilligen, dass sie den entsprechen Sachverhalt beizeiten richtig einschätzte. Aber Langeweile käme bei mir trotzdem nicht auf, denn es gibt allerlei Möglichkeiten, die verbleibende Freizeit auch im Seniorenalter sinnvoll zu nutzen, solange unsere geistigen und körperlichen Kräfte einigermaßen mitspielen. Auf einer Insel trunkener Seligkeit wäre ich aller Voraussicht nach nicht lange glücklich, weil ich das süße Nichtstun erst in meinem nächsten Leben genießen möchte. Aber so weit ist es gottlob noch nicht.

Das Elbmonster

Подняться наверх