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Erik Schuch, Inhaber der Presseagentur Schuch mit Sitz in einem Vorort von Rostock, erinnerte sich nicht gerne an den Ort, in dem er seine Kindheit und die ersten Jahre seiner Pubertät verbracht hatte. Es war ein kleines Dorf in der Nähe von Hannover, ein Straßendorf, ein paar Bauernhöfe und ein paar Vier- und Sechsfamilienhäuser. In diesen Häusern wohnten meistens Familien, die zugezogen waren und schwer in die Dorfgemeinschaft integriert wurden.

Eriks Mutter neigte zu Geselligkeit und Tanzvergnügen, fand aber wenig Gelegenheiten im Dorf. Daher wünschte sie sich ab und zu, dass ihr Mann mit ihr nach Hannover fahren sollte, um dort ein Tanzlokal oder ein Restaurant aufzusuchen. Eriks Vater wollte das nicht, er war nicht glücklich darüber, in diesem Ort gelandet zu sein, hatte er doch vorher in einer größeren Fabrik in Kassel Arbeit gefunden. Wegen eines gesundheitlichen Problems konnte er diese Arbeit nicht weiter fortsetzen und musste Alternativen suchen. Das Arbeitsamt vermittelte ihm eine Stelle im Nachbarort als Lagerverwalter. Dort war die körperliche Belastung geringer, dennoch sehnte er sich nach seiner alten Funktion zurück.

Als sich herausstellte, dass im Nachbarort seit kurzer Zeit Verwandte der Familie Schuch wohnten, senkte sich die Spannung zwischen Eriks Eltern ein wenig. Die Verwandten, die Familie des Bruders von Eriks Vater, hatten eine Tochter und einen Sohn. Sie hießen Marie und Josef. Ihr Vater war überzeugter Anhänger der Zeugen Jehovas und blickte skeptisch auf die Fähigkeiten der Ärzte und ihre Kunst. Das wurde wichtig, als Josef im Alter von achtzehn Jahren sehr oft müde und träge wurde und zu keiner Tätigkeit Lust entwickeln konnte. Seine Mutter Elisabeth schlug vor, ärztlichen Rat zu suchen, was ihr Mann aus Glaubensgründen ablehnte.

Marie war einige Jahre jünger als ihr Bruder und war in ihrer Schulklasse gut integriert. Oft traf sie Freundinnen, mit denen sie spielte. Ihr Bruder hatte keine Freunde im Dorf. So versuchte sie, ihn aus seinem Tief zu holen und fragte nicht nach Gründen. Sie versuchte ihn aufzumuntern, indem sie Fratzen schnitt oder lustige Geschichten erzählte. Das gelang ihr nur in geringem Maße.

Eines Tages nahm Josef sie zur Seite.

„Es tut mir leid, wenn Du denkst, dass ich eine Macke habe. Das stimmt so nicht. Ich will auch keinen Arzt. Ich finde es nur irrsinnig langweilig hier. Hier passiert einfach nichts. Wenn hier alles so bleibt, lande ich irgendwo in der Nähe und kenne nichts von der Welt. Ich werde mein Abitur schaffen und dann suche ich das Weite. Bevor ich ein Studium oder eine Lehre beginne, möchte ich erst einmal raus aus diesem Dorf und dieser engstirnigen Denkweise der Zeugen Jehovas - Ich denke, dass unser Vater spinnt. Aber behalte das für dich.“

Marie freute sich über das Vertrauen ihres Bruders und erzählte seinen Plan nicht weiter.

Kurz nach dem Abitur war Josef urplötzlich verschwunden. Marie ahnte, was er vorhatte, wusste aber nicht, wie sie ihn eventuell erreichen konnte. Sie glaubte fest daran, dass er als Landstreicher unterwegs war.

Ihre Mutter grämte sich, weil Josef nicht aufzufinden war und fand sehr oft Gelegenheit, ihrem Mann deswegen Vorwürfe zu machen. Eine Reihe von Streitigkeiten blieb nicht aus. Irgendwann eskalierte der Streit so weit, dass der Vater sich betrank und wenig später das Haus verließ und nicht wiederkam. Seine Frau fand bald heraus, dass er mit einer Gläubigen aus dem Kreise der Zeugen Jehovas ein Verhältnis begonnen hatte. Sie erfuhr wenig später, dass ihr Mann in den Armen dieser Frau gestorben war. Eine Todesursache hat sie nie erfahren.

Sie blieb mit Marie alleine und musste für beider Unterhalt sorgen. Sie suchte eine Stelle in Hannover. Ihre Ausbildung als Fremdsprachenkorrespondentin und Buchhalterin sollte eine gute Basis für eine Anstellung sein. Davon war sie überzeugt.

„Ich werde kämpfen!“

Sie fand moralische Unterstützung in der Familie und traf sich einige Male mit Eriks Eltern. Sie unterstützten die Schwägerin in ihrem Bemühen, in der nahe gelegenen Stadt eine Anstellung zu suchen und berieten sie entsprechend. Marie hing sehr an ihrer Mutter und unterstützte sie so gut sie konnte.

Erik führte seit Beginn seiner Schulzeit ein Tagebuch. Dort hielt er die Ereignisse in den beiden Familien fest und empfand viel Freude beim Schreiben. Das führte letztlich dazu, dass er Journalist werden wollte. Nach dem Besuch der Deutschen Journalistenschule praktizierte er bei verschiedenen Verlagen. Er wollte seine Unabhängigkeit wahren und entschied sich nach einem Praktikum bei der OstseeZeitung, sich als freier Journalist niederzulassen. Seine vielen Standortwechsel hatten die Verbindung zu seinen Verwandten erlöschen lassen.

Erik interessierte sich als freier Journalist besonders für europolitische und internationale wirtschaftliche Beziehungen. Er hatte auch die die Pressemitteilungen der EU über die beabsichtigte Privatisierung der Wasserversorgung gelesen und sich ein eigenes Bild über diese Problematik gemacht. Seine Agentur arbeitete gelegentlich für die OstseeZeitung. Dort wurde er als zuverlässiger Rechercheur und guter Texter geschätzt. Zudem war bekannt, dass er kein Parteibuch hatte, sondern sich bei attac engagierte. In politischen und wirtschaftlichen Belangen vertrat er eine neutrale Position. Der Anruf des Chefredakteurs der OstseeZeitung erreichte ihn am Vormittag.

„Herr Schuch, ich grüße Sie.“

„Guten Morgen, Herr Hansen. Was kann ich für Sie tun?“

„Sie könne tatsächlich etwas für unser gemeinsames Interesse tun. Sie kennen doch die Nachrichten aus Brüssel, die sich mit der Privatisierung von Wasserwerken beschäftigen.“

„Selbstverständlich. Das ist ein sehr bemerkenswerter Vorstoß, der augenscheinlich mit der Finanzkrise in Zusammenhang gebracht worden ist. Man weiß ja nie genau, wessen Interessen wirklich hinter solchen Vorhaben stehen.“

„Das sehen Sie richtig. Es ist auf jeden Fall sehr aktuell. Und damit bin ich schon bei meinem heutigen Thema. Können Sie eine Artikelserie über die Wasserversorgung vorbereiten? Der Tenor sollte etwas kritisch sein, um die Aufmerksamkeit der Bürgerinnen und Bürger auf das Thema zu lenken. Sie könnten da ruhig ein wenig schwarzmalen. Denken Sie auch an die Verseuchung des Grundwassers, den Sauren Regen und die defekten Infrastrukturen. Das Thema hat eine starke politische Dimension. Die Regierungspartei neigt dazu, den Empfehlungen der EU zu folgen. Das ist wegen der bevorstehenden Wahlen von äußerst besonderer Bedeutung. Zielsetzung sollte sein, den denkbaren Widerstand gegen eine Privatisierung zu erweichen.“

„Sie meinen, dass Übertreibung anschaulich macht?“

„Ja, so in der Art. Zunächst ja, dann wird die Botschaft positiv. Seien Sie durchaus ein wenig kritischer als sonst. Sie erhalten von mir per E-Mail ein paar Informationen, die Sie gerne verwenden sollten.“

„Ich verstehe. Sie erhalten danach kurzfristig mein Konzept zu dem Themenkreis.“

„Es kann durchaus eine kleine Serie sein. Noch eine Anmerkung. Wenn wir dieses Thema gut aufbereiten, könnte ich mir vorstellen, dass sich das Fernsehen dafür interessieren würde. Ich kann mir vorstellen, entsprechende Kontakt aufzubauen.“

„Das wäre natürlich großartig. Ich danke Ihnen und starte sofort.“

„Bis bald!“

Erik lehnte sich leicht zurück, strich sich mit beiden Händen über seinen kurz behaarten Kopf, durchsuchte seine Stichwortdatei, welche er mit einem elektronischen Zettelkasten eingerichtet hatte und entwarf einen ersten Artikel:

Wasser ist Leben

Ohne Frage, Trinkwasser ist ein Lebenselixier und für unser Leben von essenzieller Bedeutung. Und dennoch für jeden selbstverständlich. Da sich der gesamte Wasservorrat der Erde in einem ständigen Kreislauf bewegt, gibt es keinen Verbrauch – anders als bei anderen Rohstoffen. Von der Verdunstung über den Niederschlag bis hin zum Abfluss als Grund- und Flusswasser – unser wichtigstes Lebensmittel wird nur vorübergehend gebraucht und fließt danach in den großen Kreislauf zurück.

Aber für den menschlichen Verzehr ist gebrauchtes Wasser nicht mehr geeignet. Um wieder neues Trinkwasser aufzubereiten, muss unser technologisches und umweltorientiertes Wissen eingesetzt werden. Nur so kann ein Trinkwasser von besonders hoher und stetiger Qualität zu Verfügung gestellt werden.

Wenn die für die Sicherung dieser Qualität vorhandenen Randbedingungen gestört oder unzureichend sind, können Probleme entstehen, deren Beseitigung alle Bürger betreffen könnte.

In den Folgeartikeln wollte er sich mit Problemen beschäftigen, welche entstehen würden, wenn sich Fehler in der Wasseraufbereitung einschleichen könnten. Das könnte das Rohrleitungssystem betreffen oder Zutaten oder unzureichende Kontrolle. Zur Kontrolle gehört auch das Steuerungssystem der Versorgungszentrale, das rein theoretisch gehackt werden könnte. Diese möglichen Fehlerquellen würden nur auftreten können, wenn die finanzielle Lage der Stadt im Ungleichgewicht wäre. Und hier fand Schuch einen Ansatz, auf den er vor einiger Zeit von einem Freund in der Stadtverwaltung hingewiesen worden war: Die Finanzierung der Stadt Rostock war etwas aus den Fugen geraten. Das könne schließlich ja auch irgendwann die Sicherung der Wasserversorgung betreffen.

Wenn der Hansen recht hat und ein Weg ins Fernsehen möglich sein würde, dann muss ich die Qualität der politischen Führung in Zweifel ziehen. Schließlich ist die Initiative der EU auch unter diesem Aspekt zu sehen. Der Leitgedanke sollte sein, dass eine Führungsriege gleich welcher Ebene, die noch nicht einmal die Wasserversorgung sicherstellen kann, nicht in der Lage sein würde, die Kommunen, Länder oder die Republik zukunftsorientiert zu regieren. Vielleicht kann ich mir da einen Namen machen.

Erik las seinen ersten Artikel noch einmal durch, mailte ihn dem Chefredakteur der OstseeZeitung und rief ihn wenig später an.

Nach der Schilderung seines Konzeptes hörte er dessen Kommentar:

„Das ist der Start für eine starke Kampagne. Wasser geht ja schließlich jeden etwas an. Da können schon ein paar Artikel erscheinen. Das schadet auch der Auflage nicht, im Gegenteil. Wir könnten es so einrichten, dass es in den Ablauf der politischen Auseinandersetzung für die bevorstehenden Wahlen passt. Schicken Sie mir bitte das Konzept auch schriftlich. Der einleitende Artikel, der sich generell mit der Bedeutung von Wasser beschäftigt, ist ein guter Auftakt. Den Startzeitpunkt für die Folgeartikel stimmen wir mit den Ereignissen des bevorstehenden Wahlkampfes ab. Noch einen schönen Tag.“

Schuch machte sich sofort an die Arbeit und erstellte eine Liste mit den Titeln der Artikel, die in der geplanten Reihe vorkommen sollten. Das fasste er als Konzept zusammen. Den ersten Artikel Wasser ist Leben las er noch einmal durch. Er war mit sich zufrieden.

Es dauerte nicht lange, bis er vom Chefredakteur die Bestätigung erhielt, dass sein Konzept akzeptiert sei und die Artikelserie erscheinen würde.

Hansen bat Naschneiner um die Bestätigung der versprochenen Schaltung von Anzeigen in der Ostseezeitung. Er erhielt eine Mail mit einem Plan zur Schaltung von Anzeigen verschiedener Firmen.

Am nächsten Morgen studierte Ferdinand die von seiner Sekretärin täglich vorbereiteten Auszüge von Tageszeitungen aus verschiedenen Regionen des Landes. Die Kanzlei hatte einen großen Klientenkreis aus vielen Bundesländern. So auch Auszüge von der OstseeZeitung. Als er die Schlagzeile Stadt an der Ostsee gerät in Wassernot las, nickte er und schrieb auf seinem Tablet eine kurze verschlüsselte Meldung: Mister can.

Wenige Minuten später erhielten europäische Nachrichtenagenturen eine Mitteilung über Wassernot in Großstädten und die damit verbundenen Gefahren bis hin zu sozialen Unruhen. Im Umweltministerium war man über diese als gefährlich eingestufte Nachrichten erschrocken, weil es keine Vorzeichen für eine solche Entwicklung gab.

Marie Naschneiner-Schuch wurde gebeten, sich der Angelegenheit anzunehmen. Ihre Mitarbeiter und sie recherchierten nach den Quellen dieser Nachrichten und waren nach kurzer Zeit überzeugt, dass es sich nicht um eine Finte handelte. Marie bat den zuständigen Mitarbeiter für Kommunikation zu sich:

„Stellen Sie bitte fest, ob es zu diesem Thema weitere Veröffentlichungen geben kann, zum Beispiel in Rundfunk oder Fernsehen.“

„Die zuständigen Redaktionen werden sofort befragt.“

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