Читать книгу Wanda und Wendelin - Gerti Gabelt - Страница 13

CHRISTIAN

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Die Hälfte der Stufen hat sie hinter sich und plötzlich hört sie ungewohnte Laute, ein Wimmern. Jemand weint, röchelt. Das kommt von der oberen Treppe, die zur zweiten Etage führt. So schnell es geht steigt sie weiter die nächsten Stufen hoch. Nun sieht sie eine Gestalt am dem Boden liegen.

Es ist Christian. Er lebt seit achtzehn Jahren hier. Von der Schwester hatte Wanda erfahren, dass Christian bei der Geburt eine irreparable Schädigung des Gehirns davongetragen hatte.

Seine Mutter hatte ihn sehr geliebt und vor ihrem Tode mit Schwester Anja die Vereinbarung getroffen, den nächsten Platz für ihren Sohn zu reservieren. Das war vor achtzehn Jahren geschehen. In einer Behinderten Werkstatt hatte er einige handwerkliche Fähigkeiten erworben, die er hier anwenden konnte. Er half in der Waschküche, ordnete im Keller die Regale und beim Service in der Küche. Alle mochten ihn. Er war hilfsbereit und fröhlich und dankbar für ein gutes Wort. Zigaretten liebte er. Für seine kleinen Dienste wurde er mit seiner „Lieblingsnahrung Schokolade“ von den Bewohnern entlohnt. So hatte er seine feste Position im Seniorenheim.

Endlich erreicht sie ihn. Verzweifelt versucht Christian mit einer Hand nach einem Halt zu greifen. Atemlos kniet Wanda neben Christian nieder, nimmt seine Hand in ihre und hält sie ganz fest.

Spontan wird ihr bewusst, dass hier ein Mensch, Christian, im Sterben liegt und Hilfe braucht. Was kann sie tun? Verzweifelt sucht sie jemanden, der sich um ihn kümmern könnte. Niemand ist da.

Das Wimmern von Christian, den sie nur durch wiederholte Begegnungen kennt, löst eine Aktivität in ihr aus und lässt sie unbewusst handeln.

„Christian, ich bin bei dir. Sei ganz ruhig. Alles wird gut.“ Sie streicht ihm übers Haar, das ihm in nassen Strähnen in die Stirn fällt. Dann streichelt sie auch über sein Gesicht. Mit angstgeweiteten Augen schaut Christian sie an. „Christian, ich bin ja da.“

Dann versucht Wanda Hilfe herbei zu rufen. „Hilfe! Bitte helfen sie! Hilfe. So helft mir doch.“

Niemand rührte sich. Niemand hört ihre Rufe.

‚Was kann ich nur machen?’ flüstert Wanda leise. Dann redet sie ruhig auf Christian ein. „Alles wird gut. Christian, kannst du mich hören?“

„Lass mich nicht allein. Bleib bei mir“, es war nur ein leises, mühevolles Flüstern.

„Christian, ich bleibe bei dir. Alles ist gut. Christian, ich bin bei dir.“ Wanda bettet seinen Kopf auf ihren Schoss. Dann nimmt sie seine Hand in ihre. Sie streicht über sein Gesicht.

Die Hand von Christian entspannte sich. Doch Wanda hält sie fest als könne sie ihre Energie auf Christian übertragen.

Wanda legt ihre Finger an die Halsschlagader um seinen Puls zu tasten. Vergeblich. Dann legt sie ihre Hand auf seine Brust. Ein letzter tiefer Seufzer, sein Herz hat aufgehört zu schlagen. Alles Leben hat seinen Körper verlassen. Seele und Körper haben sich getrennt. Christian ist tot. Und obwohl sie das spürt, will sie es nicht wahr haben. Umständlich zieht sie ihre Jacke aus und deckte ihn zu. Vorsichtig hebt sie seinen Kopf und schiebt ihren Schal als Kissen darunter. Sie steht auf und schaut sich suchend um, aber niemand ist zu sehen. Dann kniet sie neben Christian streicht noch einmal über sein Gesicht und seine Hand.

Leise betet sie, dass die Engel ihn geleiten, ins Licht, in die andere Dimension.

Um diese Zeit ist so etwas wie Rushhour im Haus. Die Schwestern und Helferinnen führen die Bewohner, die alleine nicht gehen können, zu den Tischen. Dann helfen sie beim Essen. Alle Bewohner und das Personal befinden sich im Speiseraum.

Für die Bewohner hier besteht Essen zu einem der wenigen Highlights des Tages. Während des Essens kann man der Einsamkeit im Zimmer entfliehen, bevor der Tag zu Ende geht.

„Es ist eine ungünstige Zeit, zum Sterben, Christian.“

Plötzlich denkt Wanda an Wendelin. Wo ist er geblieben? Er musste doch längst sein Auto abgestellt haben und ins Haus gekommen sein.

Sicher hatte er den Lift genommen.

Noch einmal streicht sie über Christians Wangen.

Dann geht alles sehr schnell. Sr. Anja und Sr. Paula stehen plötzlich neben ihr. Sie hat das Kommen der Beiden nicht bemerkt. Sie ist weit weg, bei Christian.

Behutsam nimmt Sr. Anja die Hand von Wanda und führt sie in ihr Zimmer während Paula sich um Christian kümmerte. Wanda setzt sich auf einen Stuhl. Langsam lässt die Spannung nach und ein erlösendes Weinen lässt ihre Muskeln entspannen. Nach einer Weile kehrt Wanda wie aus einer Ohnmacht zurück ins Hier und Jetzt.

„Tief einatmen, ja das hilft. Sie haben einen leichten Schock erlitten. Ganz ruhig“, wohltuend hört sie die Stimme von Schwester Anja.

„Soll ich Ihnen etwas zum Essen besorgen?“

Schwester Anja bringt Tee und eine Scheibe Brot mit Käse.

„Sie können mich aber nun alleine lassen. Ich bin okay. Danke für alles, Schwester Anja.“

„Meine Gedanken begleiten ihn auf seinem Weg. Das habe ich ihm versprochen.“

Schwester Anja drückte die Hand von Wanda. „Er war ein Kind Gottes, so haben wir ihn immer gesehen.“ Mit diesen Worten und einem beruhigen Lächeln verlässt Schwester Anja das Zimmer.

Sie spürt, dass Wanda jetzt alleine sein will. Sr. Anja hat seit über vierzig Jahren ältere Menschen begleitet, ist ihnen nahe gewesen. Hat die Angehörigen oft getröstet, wenn Mutter oder Vater gestorben waren. Dabei hat sie eine Sensibilität entwickelt, die es ihr ermöglicht, in entscheidenden Situationen einfühlsam zu reagieren.

Wanda schiebt einen Stuhl in die Nähe des Sessels, um ihre Beine darauf zu legen. Sie setzt sich hin und schließt die Augen.

Was für ein Tag.

Es war das erste Mal gewesen, dass sie den Tod so nahe erlebt hatte. Jacob war im Krankenhaus gestorben und so hatte sie sein Sterben, sein Letztes auf dieser Welt, nicht erlebt. Er hatte mehrere Tage im Koma gelegen und sie war tagsüber und viele Nächte bei ihm gewesen. Sie hatte neben seinem Bett auf einem Sessel geschlafen. Die Ärzte hatten gesagt, sie solle nach Hause gehen und sich ausruhen. Eine Stunde nachdem sie gegangen war, war er dann gestorben. Vielleicht hatte er es so gewollt.

Vorhin hat sie dem Tod von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden. Sie hatte ihn direkt erlebt. Nun empfand sie das Sterben anders.

Plötzlich glaubt sie ein Geräusch zu hören. Sie öffnete die Augen. Vor ihr steht Wendelin und nimmt sie ganz fest in seine Arme. Sie hat sein Klopfen nicht gehört.

„Wanda, soviel ist geschehen, seit wir uns verabschiedeten. Und doch sind erst weniger als hundert Minuten vergangen.“

„Oh Wendelin, ich hatte mir vorhin so gewünscht, dass du kommst.“

Wanda setzte sich auf die Couch und Wendelin nimmt im Sessel, ihr gegenüber Platz.

„Wenn du nicht zu müde bist, würde ich gerne erfahren, wie und was alles geschehen ist.“

„Ich hole uns einen Wein?“

Wendelin nickt zustimmend.

Unbemerkt, wie selbstverständlich, waren sie zum Du übergegangen. „Auf Christian, dass er eine gute Reise hat.“

„Es ging alles sehr schnell. – Ich glaube, es war gut, dass ich bei ihm war. Er wollte nicht alleine sein.“

„Ich habe ihn kaum gekannt da ich ja noch nicht so lange hier bin. Er hatte eine Behinderung, wie ich hörte.“

„Er war ein ‚Kind Gottes’ wie Sr. Anja es nannte. Das ist wohl eine sehr passende Formulierung, denn er war ein fröhlicher Mensch.“

„Nun endet dieser erste gemeinsame Tag mit einem so traurigen Ereignis.“

„Es ist eigentlich nicht so traurig. Christian ist seiner Bestimmung entgegen gegangen. Wir beide sind uns näher gekommen. Lass’ es uns von dieser Seite sehen. Alles hat eine Bedeutung. – Es ist mir bestimmt gewesen, heute bei Christian zu sein, damit er nicht alleine war. Und das gibt mir ein gutes Gefühl. Es ist größer als Traurigkeit. Ich kann in seinem Tod sogar etwas wie Freude für ihn empfinden, Freude darüber, dass er sein Ziel erreicht hat. Er hat nun keine Angst mehr.“

„Welch ein Zufall, dass du die Treppe genommen hast und nicht den Lift. Wahrscheinlich hätte man ihn erst gefunden, als er schon tot war.“

„Ich glaube nicht an Zufälle. Damit kann ich nichts anfangen. Alles hat einen Sinn, alles unterliegt einer Bestimmung. Oder man kann auch sagen, es war eine meiner Aufgaben in diesem Leben, Christian beim Abschied zu begleiten. Ich habe ein so gutes Gefühl im Nachhinein, dass ich es sein durfte, die bei ihm war. Es gibt mir ein friedvolles, dankbares Gefühl.“

Sie schweigen beide.

Wanda ist plötzlich sehr müde. Sie hebt ihr Glas. „Wendelin, trinken wir auf diesen Augenblick, den wir gemeinsam erleben.“

Wendelin hebt sein Glas und leert es. Dann verabschiedet er sich. Es war ein erlebnisreicher Tag. Auch er spürt nun, nachdem er mit Wanda gesprochen hat, eine kaum zu unterdrückende Müdigkeit aufsteigen. Beide schlafen ganz bald ein. Jeder in seinem Zimmer und doch spüren beide die Nähe des anderen.

Im Traum geht Wanda durch einen langen, dunklen Tunnel. Sie sieht das Licht am Ende des Tunnels. Aber sie muss umkehren. Es ist nicht ihr Weg. Noch nicht. Sie läuft zurück, immer schneller. Plötzlich ist es kein Tunnel mehr. Es ist ihr Strand. Sie steht vor ihrem Haus in Fort Lauderdale. Die Türe ist angelehnt und sie geht hinein. Aus dem großen Spiegel im Eingang lächelt ihr eine junge Frau entgegen. Welcome at home.

Unruhig dreht sie sich im Bett. Sie schläft wieder ein. Sie träumt erneut. In einem Boot fährt sie durch eine enge, dunkle Schlucht zwischen zwei Felsen hindurch. Ein Jeep hält auf der anderen Seite der Felsen. Ein Mann kommt auf sie zu. Das offene Meer liegt vor ihr. Sie verlässt das Boot und geht über schwarzen Kies. Bis zu den Fußgelenken versinkt sie im Wasser. Sie schaut sich um. Einer der beiden Männer, die mit dem Jeep kamen, versinkt im schwarzen Kies. Nur noch sein Kopf schaut heraus. Sie hat Angst, läuft immer schneller bis sie einen steilen, grasbewachsenen Hang erreicht. Mühevoll zieht sie sich an den Grasbüscheln hoch. Oben ist eine Straße. Dort muss sie hin. Menschen in indischen Gewändern gehen lachend über diese Straße. Sie muss diese Straße erreichen. Dort kann sie leben. Nur nicht zurück, dort unten ist der Tod. Mühevoll versucht sie, sich die letzten Meter hoch zu ziehen. Doch die Grasbüschel reißen. Nun versucht sie rechts neben sich andere Grasbüschel zu fassen. Ihre Finger umklammern ein Stück Holz, das fest im Boden steckt. Es ist eine Wurzel. Sie hält sich daran fest. Es ist einfacher, seitwärts höher zu steigen. Noch einmal nimmt sie die verbleibenden Kräfte zusammen. Nur nicht nach unten schauen. Die Gedanken arbeiten fieberhaft. Hoch, ich muss hoch. Nur Zentimeter trennen sie vom Straßenrand. Ich muss dort oben einen Halt finden. Den Fuß zwischen Wurzel und Boden klemmen. Sie erwacht. Ihr Puls rast. Sie wäre so gerne dort oben angekommen!

Noch lange liegt sie wach – - – Sie ist müde von der Anstrengung, denn es war ein energieraubender Weg.

Sie steht auf und macht sich kurze Notizen über den Traum. Auf dem Tisch steht ihr Glas vom Abend. Den letzten Schluck Wein trinkt sie aus, und dann legt sie sich erneut ins Bett. Sobald sie den Kopf auf das Kissen legt, den Geruch ihres Haarsprays auf dem Kissen riecht, kehren die Bilder des Traumes wieder, etwas schwächer jetzt, aber doch noch deutlich genug, um sie am Einschlafen zu hindern. Sie riecht das Gras. Wird sie in einem neuen Traum die Straße erreichen?

Was ist geschehen?

Wanda hat Wendelin in der letzten Woche nicht gesehen. Ohne eine Nachricht für sie, Wanda, zu hinterlassen, ist er verschwunden. Sicher könnte sie von der Schwester erfahren, wo er so plötzlich abgeblieben ist. Aber sie will keineswegs das Interesse der anderen auf sich lenken. Und trotzdem, sie muss etwas tun. Denn sie vermisst Wendelin. War er denn schon so wichtig geworden? Na gut, zuerst telefoniert sie mit Ihrer Freundin Anna. Sie verabredet sich zu einem gemeinsamen Nachmittag. Es gibt so vieles zu besprechen. Da ist die Sache mit Christian. Die hat Wanda zwar überwunden, aber mal sehen, welche Bedeutung Anna darin sieht. Dann müssen sie über Träume sprechen und Anna wird auch noch ihre Gedanken zu anderen Gesprächsbereichen einbringen wollen. Sie haben viel zu lange nicht miteinander kommuniziert. Die Zeit fliegt.

‚Aber zuerst möchte ich doch sehr gerne wissen, wo Wendelin sich aufhält. Sollte ich denn zu viel an weiblicher Erwartungshaltung eingebracht haben?’

Immer öfter denkt Wanda an Wendelin. Sie wünscht ihn herbei. Nicht, dass er Anna ersetzen könnte. Das sind zwei Menschen, die in unterschiedlicher Form wichtig sind. Sie ergänzen sich. Ja, für Wanda bedingen sie sich sogar in der Form der emotionalen Intelligenz. Die Gelassenheit, die Anna ihr vermittelt, braucht sie nun. Wendelin hat eine andere Bedeutung. Das Treffen mit ihm hat eine Seite in Wanda berührt, die eigentlich ganz unpassend zu ihrem Alter ist. Auch das muss sie mit Anna besprechen, ob es möglich ist, sich noch einmal verlieben zu können?

‚Wo Wendelin nur sein mag?’ Er ist so vertraut, als würde sie ihn aus einem anderen Leben kennen …

Das Klingeln des Telefons weckt Wanda aus ihren Gedanken.

„Wanda, ich bin in London. Es ist wegen meines Sohnes Marcel.“ Pause.

„Wendelin, was machst Du in London? Ich verstehe das nicht. Wieso warst Du plötzlich und ohne mir etwas zu sagen weg? Was ist geschehen?“ Als sie keine Antwort erhält, redet sie einfach weiter.

„Geht es Dir gut?“

„Ich komme morgen zurück. Der Flieger landet um 11.05 Uhr. Wir sehen uns dann.“

„Möchtest Du dass ich Dich abhole?“

„Ja, ich wünsche mir, dass Du mich abholst. Bis morgen dann.“

Eine fremde Stimme hat zu ihr gesprochen. Und doch war ein Hauch, ein Unterton, der vertraut war. Und ganz viel Traurigkeit. Unendliche Traurigkeit.

Wanda schaut dem Sekundenzeiger zu, wie er sich nur langsam vorwärts zu bewegen scheint. Es sind dies die Momente, da man glaubt, die Zeit habe aufgehört sich ihrer Gesetzmäßigkeit zu unterwerfen. Man glaubt, sie stehe still.

Heute Nachmittag wird Wanda den Bewohnern eine Geschichte vorlesen. Die Geschichte von den roten Schuhen. Hinterher wird es zu einem Gespräch kommen, das Wandas ganzen Einsatz fordert.

Dann wird es nur noch eine Nacht der Ungewissheit geben. Sie ist erleichtert. Obwohl sie ahnt, dass Wendelin sich einer schwierigen Sache in London stellen musste.

Wanda glaubt, einen weiteren Part ihrer Bestimmung erfüllen zu müssen. Mit dem Älterwerden hat sie gelernt, bestimmte Signale aus dem Unbewussten zu erkennen. Über die Meditation erlangt Wanda eine tranceähnliche Entspannung. Intuitiv reagiert sie. Blitzartig erlebt sie Visionen. Es dauert meist eine Weile bis sie diese einzuordnen in der Lage ist. Die Gewissheit, dass unser menschliches Dasein kosmischen Gesetzen unterliegt, lässt dem eigenen Entscheidungsraum dennoch einen Freiraum. Diese Visionen erfordern ihre ganze Energie, hinterher fühlt sie sich total erschöpft.

Dieses Spiel, in Form einer ständigen Herausforderung, wird niemals enden. Es gilt, jeden Augenblick bewusst zu leben. Die Schattenseiten in uns gehören zum Ganzen, machen den Menschen in seiner Persönlichkeit erst liebenswert. C.G. Jung hat darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, seine Schattenseiten anzunehmen.

Wanda und Wendelin

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