Читать книгу Wanda und Wendelin - Gerti Gabelt - Страница 7
DIE EHE MIT JACOB
ОглавлениеWanda war über dreißig Jahre verheiratet gewesen, genau 35 Jahre und 9 Monate. Dann starb Jacob. In ihrer Ehe war es im Anfang ganz schön turbulent zugegangen. Bis jeder von ihnen die Persönlichkeit des anderen anzunehmen gelernt hatte. Dann war Respekt die Basis, die Säule des Zusammenlebens geworden. Das Band ihrer Ehe hieß gegenseitiges Verständnis und Liebe. Später, als der Job als „semi-tired“ bezeichnet wurde, war es zwischen den beiden ruhiger geworden. Sie reisten viel, konnten kulturelle Veranstaltungen gemeinsam wahrnehmen. Das Interesse im geistigen und kulturellen Bereich bekam nun eine neue Bedeutung und hatte ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl stabilisiert. So war es durchaus nicht selten, dass Wanda am Samstagvormittag meinte, man könne doch mal eben nach Zürich fahren. Oder ein Wochenende am Genfer See verbringen. Brüssel bezaubert durch sein kulturelles Angebot und war nur eine Tagesreise entfernt. Und Brügge mit dem alten Markt, den hübschen Fachwerkhäusern, deren Giebeln ihr Gesicht dem alten Marktplatz zuwenden und an eine zeitüberdauernde Geschichte erinnern, die eine heimelige Atmosphäre verbreitet. Die Kathedrale bildet den Mittelpunkt des Marktes. In hübschen Boutiquen kann man hin und wieder ein Unikat entdecken. Bis zum Meer nach Knogge ist es nicht mehr weit.
Ob Jacob wohl diese Kurzreisen ebenso gemocht hatte wie sie? Ganz plötzlich kommen ihr diese Gedanken. Nie zuvor hat sie sich diese Frage gestellt. Sicher ist es unrealistisch, heute dieser Frage nachzugehen. Es bringt ihr kein gutes Gefühl.
Wanda steht auf. Sie will die Gedanken beenden. Sie geht zum Schrank und holt einen bunten Geschenkkarton heraus. Genau gesagt, handelt es sich um einen roten Schuhkarton. Edle, silberfarbene Satinschuhe hatte sie lange darin aufbewahrt. Als sie Königin gewesen war, im langen silberschimmernden Seidenkleid – dessen Rockweite sieben Meter betrug – hatte sie diese Schuhe getragen. Damals hatte Jacob bei der Schützenbruderschaft von 1545 die Königswürde erschossen. Eine Bruderschaft, die sich mit Stolz ihrer langjährigen Tradition bewusst war, deren Regeln minutiös und diszipliniert befolgt und gewissenhaft pflegend präsentierte. Mit vierunddreißig Jahren war sie für zwei Jahre Jacobs Königin, eine für die Männerbruderschaft ungewöhnlich junge Königin, geworden.
Mit allen Pflichten und Rechten, die eine historische Bruderschaft pflegte, war sie eine Majestät gewesen. Eine wunderbare Zeit hatten sie gemeinsam erlebt.
Also, nachdem Jacob seinen Weg gegangen war, und sie nun ihren Weg gehen muss, hat sie nun beim Räumen den Schuhkarton gefunden. Die Satinschuhe hatte ihre Nichte bekommen. Sie fand sie „echt geil“ und toll passend zu schwarzen Jeans.
Schon wieder abgerutscht in die Vergangenheit. Dabei hatte die „red box“, wie Wanda den Schuhkarton genannt und auch beschriftet hatte, eine ganz neue, wichtige Funktion.
Also, nun zur red box. Wanda räumt den Karton leer und breitet die Sachen auf eine weiße Decke auf den Tisch. Sie zündet eine Kerze und ein Räucherstäbchen an. Der „Indische Duft“ erfüllt den Raum. Wanda verliert sich ein wenig in mystischen Empfindungen. Dann nimmt sie einen bunten Seidenschal aus Indien und einen ungeschliffenen Rosenquarzstein. Sie entkorkt einen Medòc 2011 und lässt den dunklen Rotwein in das bauchige Glas fließen. Gerüche, gedämpftes Kerzenlicht, das Schattengebilde an der Zimmerdecke hüpfen lässt, und der Rotwein, vermitteln eine entspannende Gelassenheit, ja, etwas Vertrautes. Der Raum ist erfüllt mit positiver Energie.
Wanda öffnet den roten Deckel des Kartons und sagte: „Ich gebe dir den Namen Red Box. Du hütest nun meine Geheimnisse, alle Erinnerungen und Geschehnisse, die der Vergangenheit angehören. Es hat dies alles gegeben für mich und es ist ein Teil von mir, durch das ich zu dem geworden bin, was ich heute sein kann. Das ist gut so. Mein Leben war so reich. Ich habe geliebt, habe getrauert, habe unendlich gelitten, habe die Grenzen der Endlichkeit gespürt, habe Unendlichkeit berührt. Ich habe unentschlossen an Wegkreuzungen gestanden. Habe mich, der Lehre Mahatma Ghandi folgend, für den Umweg entschieden. Ich bin Menschen begegnet, die Freunde wurden und habe sie später aus den Augen verloren. Sie waren sehr wichtig und haben immer noch eine große Bedeutung für mich. Ich habe das Leben gespürt.
Bevor Teile der Vergangenheit zum Ballast werden könnten, lege ich sie ab. Ich übergebe meine Schätze dir, Red Box und du, red box, hütest diese meine Vergangenheit. Denn ich will heute bewusst im Hier und Jetzt leben. Vergangenes kann nun nicht verloren gehen, aber auch nicht belastend werden.“
Am Tisch sitzend, den Kopf von den Händen tragend, spürt sie Stärken in sich aufkommend, die sie nie geordnet, nie hinterfragt, ja bewusst nie wahrgenommen hat. Wanda denkt zurück, erlebt sich in völlig neuem Licht, Abläufe aus ihrem Leben, genau gesagt, „Meilensteine“ in Granit gemeißelt. Langsam, sehr langsam, kommt Erlebtes zurück in ihr Bewusstsein.
So hat Wanda in einer Feierstunde der Red box ihre Aufgabe übertragen. Ein Bild von Jacob. In einer kleinen Fototasche gibt es noch Bilder von Menschen, die ihr sehr nahe gestanden hatten. Ein älterer Herr mit weißen Haaren und blauen, lustigen Augen, einem gütigen Blick. „Mein Kind“, so hatte er Wanda genannt.
Dann ein Herr mit Glatze und tiefbraunen, sehr lebendigen Augen, die sie immer noch voller Leidenschaft anschauen. – Wanda, das ist deine eigene Impression – Eine Vaterposition hatte er für Wanda bedeutet und für einige Zeit auch mehr.
Zu unters ein fast in Vergessenheit geratenes Foto. Pechschwarzes Haar umrahmt ein sonnengebräuntes, jungenhaftes Gesicht. Verträumt schaut Wanda in diese dunklen Augen, die die Unbeschwertheit, die Lebenslust und Sorglosigkeit der Jugend widerspiegeln.
Daneben ein Babyfoto, das einzige, was ihr blieb. Linus, der Australier.
Ihre unvergessene, erste Liebe, damals in Florida. So lange ist es her und immer noch so lebendig.
Ein kleines Kreuz aus Metall und ein weißer Engel.
Ein Seidentuch aus Indien, Kerze und Räucherstäbchen und ein kleiner Spiegel finden nun einen Platz in der Red Box. Sie symbolisieren alles was gewesen ist.
Wandas Augen füllen sich mit Tränen. Beim Blick in den Spiegel sieht ihr ein Gesicht voller Zweifel und Unentschlossenheit entgegen. Beim Lachen zeigen sich kleine Grübchen.
Wie kann ein Mensch nur so viele Gesichter haben? Ein Geschenk des Schöpfers an den Menschen. Die Möglichkeit der unterschiedlichen Gesichter ist in der Schöpfung angelegt.
Dann holt sie die Red Box. Ihre rechte Hand umschließt ganz fest den Rosenquarzstein, der eine beruhigende Wirkung vermittelt. Es sind ihre kreativen Zeiten in denen etwas Neues entsteht. Man könnte es mit einer Geburt vergleichen. Aus dem Suchen ergeben sich neue Gedanken, entstehen klare Formen. Sie hat den Rosenquarzstein noch immer in ihrer Hand, die sich nun leicht öffnete. Sie ist im Reinen mit sich selbst. Plötzlich ist alles ganz einfach.