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DAS MÄRCHEN VON DEM HÄSSLICHEN ENTLEIN
Оглавление„Die Erntezeit nahte und die Feldarbeiter brachten das Korn ein. Die ersten welken Blätter fielen von den Bäumen und unten am Fluss saß eine Entenmutter in ihrem Nest unter dem Schilfgras verborgen und brütete ihre Eier aus. Eines nach dem anderen schlüpften die Entenjungen aus ihren Eiern und watschelten unstet dem Ufer entgegen, wo sie in ihrem Element waren. Nur ein Ei blieb still wie ein Stein im Nest liegen und wollte nicht aufbrechen. Es war größer als die anderen. Manchmal kam es der Entenmutter vor, als hätte es einen ungewöhnlichen Farbton. Eine ältliche Entendame flatterte quakend herbei, um der Mutter zu ihrer frisch ausgeschlüpften Brut zu gratulieren, aber dann sah sie das übergroße Ei im Nest liegen, schüttelte den Kopf, dass die Wassertropfen flogen und verkündete:
„Man hat dir ein Putenei untergeschmuggelt, meine Liebe, das sehe ich sofort. Du darfst es auf keinen Fall ausbrüten, denn Puter können nicht schwimmen. Und überhaupt…“ Die alte Ente wusste wovon sie sprach. Auch sie hatte selbst einmal versucht, einen Truthahn auszubrüten.
Aber die Entenmutter hatte nun schon so lange auf dem Ei gesessen, dass es ihr nicht gefiel, all ihre Mühe sollte umsonst gewesen sein. Also blieb sie weiter auf dem Ei sitzen und brütete. Und siehe da, eines Tages erzitterte es und ein großes unansehnliches Geschöpf pickte sich den Weg ins Leben frei. Seine Haut war von rot/blauen Blutgefäßen durchzogen, seine Augen schimmerten rosarot und seine Füße hatten eine ungesunde blässliche, grauviolette Farbe.“ -
Später, es war Frühling geworden, kamen die Dorfkinder zum Teich. Sie sahen es zuerst. Sie schwenkten die Arme, liefen aufgeregt hin und her und riefen immer wieder, bis das ganze Dorf es wusste:
„Oh, schaut doch, schaut, ein Schwan! Ein neuer weißer Schwan ist zu uns gekommen.“
Nahezu eine Stunde dauerte das Märchen.
Nach einer Pause – es herrschte atemlose Stille – sagt Wanda: „Manchmal benötigt es einen langen Weg, zum Ziel zu kommen.“
Dann spricht Wanda noch das Anderssein an, das jeder Persönlichkeit anhaftet, ja, erst zur Persönlichkeit werden lässt: „Die Problematik des Ausgestossenseins steht im Mittelpunkt zahlreicher Märchen und Mythen. Die Helden solcher Geschichten müssen oft ohne eigenes Verschulden, unter den Folgen eines Ereignisses außerhalb ihrer Kontrolle leiden, meistens, weil ein wichtiges Detail aus Ignoranz, Naivität oder purer Bosheit von der Umwelt ausgehend, übersehen wird. In dem Märchen von Dornröschen wird die dreizehnte Fee vergessen und nicht zur Taufe des Königskindes eingeladen, woraufhin das Neugeborene mit einem Zauberspruch behaftet wird, der sämtliche Mitglieder des Königshauses in einen hundertjährigen Zustand symbolhafter „Eingeschlafenheit“ versetzt. Würdet ihr nun wollen, dass ich Euch – vorausgesetzt es wäre mir möglich – in junge Menschen verzaubern könnte?“
Diese Fragestellung ergibt eine lebhafte Diskussion verbunden mit der jeweils eigenen Rückblende, angestoßen vom soeben gehörten Märchen. Selbst die älteren Menschen, deren Geist zeitweise verwirrt scheint, haben in diesem Augenblick ein klares Erinnerungsvermögen, Gelebtes wird lebendig.