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DIE METHODE DER SIEBENFACHEN URSACHE UND WIRKUNG

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Die Unterweisung der siebenfachen Ursache und Wirkung ist eine Methode, die die schrittweise Entwicklung von sieben Realisationen beinhaltet:

1. Alle Lebewesen als unsere Mütter erkennen

2. Sich an die Güte aller Mutterwesen erinnern

3. Die Güte aller Mutterwesen erwidern

4. Zuneigungsvolle Liebe entwickeln

5. Großes Mitgefühl entwickeln

6. Höhere Absicht entwickeln

7. Der Erleuchtungsgeist - Bodhichitta

Diese Methode wird die Unterweisung der siebenfachen Ursache und Wirkung genannt, weil diese sieben Realisationen eine Kette von Ursachen und Wirkungen bilden, die zur endgültigen Realisation von Bodhichitta führen. Zum Beispiel dient die Realisation der zuneigungsvollen Liebe als Ursache für die Entwicklung des Großen Mitgefühls.

Bevor wir mit der Meditation über die Unterweisung der siebenfachen Ursache und Wirkung beginnen, ist es hilfreich, über Gleichmut zu meditieren. Gegenwärtig ist unser Geist unruhig und voreingenommen. Statt alle Wesen gleich und mit den Augen des Mitgefühls zu betrachten, sehen wir einige als Freunde, andere als Fremde oder sogar als Feinde. In diesem unausgeglichenen Zustand ist es sehr schwierig, alle Wesen als unsere Mütter zu erkennen, was die erste der sieben Realisationen von Ursache und Wirkung ist. Wenn unsere Meditation also erfolgreich sein soll, müssen wir zuerst versuchen, unsere Vorurteile durch die Entwicklung der Geisteshaltung des Gleichmuts zu entfernen.

Es folgt nun eine kurze Erklärung, wie Gleichmut entwickelt wird: Zuerst sollten wir uns drei Personen vergegenwärtigen, die wir jetzt gerade jeweils als unseren Feind, als unseren Freund und als Fremden einstufen. Dann sollten wir uns fragen, weshalb wir sie auf diese Weise einordnen. Wenn wir es untersuchen, werden wir feststellen, daß die Person, die wir als Feind betrachten, von uns so eingestuft wird, weil wir durch sie in der Vergangenheit irgendeinen Schaden erlitten haben. Dieser Schaden kann klein oder groß, wirklich oder auch nur vorgestellt, körperlicher oder geistiger Natur sein. Wenn wir aber zurückdenken, dann können wir uns oftmals an Situationen erinnern, wo dieselbe Person uns große Güte entgegengebracht hat. Könnten wir in vergangene Leben zurückschauen, dann würden wir zweifellos entdecken, daß dieser sogenannte Feind in mehreren Fällen unsere selbstlose gütige Mutter war, die uns mit ihrer eigenen Milch ernährt und uns vor Angst und Schaden beschützt hat. Auch ohne frühere Leben in Betracht zu ziehen, können wir erkennen, wie vorübergehend der Status «Feind» ist und wie leicht er verändert werden kann. Wenn wir morgen unerwartet Hilfe, Lob oder auch nur ein gütiges Wort von dieser Person erhalten, würden wir sie dann noch immer als Feind ansehen?

Die gleiche Überlegung kann auch auf die Person angewendet werden, die wir jetzt als unseren guten Freund ansehen. Obwohl sofort ein warmes Gefühl in unserem Herzen entsteht, wenn wir den Freund erblicken oder auch nur an ihn denken, so war dies nicht immer so. Früher in diesem oder in vergangenen Leben gab es Zeiten, da war dieser Freund oder Verwandte unser größter Feind und hat uns großes Leid zugefügt. Und es braucht nicht viel, eine kleine Meinungsverschiedenheit, ein unüberlegtes Wort oder eine unbedachte Handlung, und sofort haben wir uns der Person entfremdet, an der wir jetzt so stark hängen.

Genauso war uns der Fremde nicht immer gleichgültig, und er wird es auch in Zukunft nicht bleiben. Es gab Zeiten - im Moment so unsichtbar für uns, daß wir kaum an ihre Existenz glauben - in denen diese Person unser Todfeind war; und es gab andere Zeiten, in denen er unser liebster Freund und Beschützer war.

Mit Beispielen aus unserer eigenen Erfahrung, aus der Erfahrung anderer und durch die Anwendung logischer Gedankenfolgen können wir zur Überzeugung gelangen, daß es sehr kurzsichtig und letztlich ein Irrtum ist zu denken, jemand sei dauerhaft oder inhärent unser Freund, Feind oder ein Fremder. Wenn es der Fall ist, daß diese drei Positionen nur vorübergehend und wechselhaft sind, wer ist dann das richtige Objekt unserer Anhaftung oder unseres Hasses? Wenn wir uns berechtigt fühlen, gegenüber unserem jetzigen Feind Haß zu empfinden, dann müßten wir diesen Haß auf alle Wesen richten, weil wir in der Vergangenheit alle zu irgendeinem Zeitpunkt als unsere Feinde betrachtet haben. Und wenn es richtig wäre, gegenüber unseren Freunden eine bevorzugende und anhaftende Haltung einzunehmen, weil sie uns vor kurzem geholfen haben, dann sollten wir eigentlich die gleichen Gefühle für alle Wesen haben, da sie alle zu irgendeiner Zeit in der Vergangenheit sehr gütig zu uns gewesen sind und sogar unsere Mütter waren.

Wenn wir uns durch intensive Meditation mit den obengenannten Gründen und Beispielen vertraut machen und versuchen, die Menschen auf andere Weise zu betrachten, dann werden wir erkennen, wie engstirnig es ist, einzelne Menschen stark zu bevorzugen, während wir anderen gegenüber gleichgültig oder sogar feindlich eingestellt sind. Statt wie bisher einer harten und schnellen Klassifizierung in Freunde, Feinde und Fremde zu folgen und damit voreingenommen zu sein, können wir wahren Gleichmut entwickeln. Er ist die Grundlage für die Liebe und das Mitgefühl, die notwendig sind, um den kostbaren Bodhichitta zu erzeugen und die Erleuchtung zu erlangen. Da dieses Ziel so außergewöhnlich lohnend ist, sollten wir unsere gegenwärtigen Vorurteile nicht ungeprüft lassen, sondern in der beschriebenen Art und Weise untersuchen.

An dieser Stelle könnten aufgrund der Meditationstechnik, die eben beschrieben wurde, Zweifel entstehen. Es hieß, daß der Zweck der Entwicklung von Gleichmut darin bestünde, uns darauf vorzubereiten, alle Wesen als unsere Mütter zu betrachten. Wir könnten uns deshalb fragen: «Wenn es richtig ist, alle Wesen als meine Mütter zu betrachten, weil sie angeblich in der Vergangenheit meine Mütter gewesen sind, dann wäre es doch genauso richtig, sie alle aus dem gleichen Grund als meine Feinde zu betrachten?» Um den Trugschluß dieser Behauptung zu erkennen, müssen wir verstehen, daß die Gründe, die dazu führen, jemanden als unseren Feind zu betrachten, im Grunde wenig stichhaltig und das Resultat einer illusorischen Vorstellung unserseits sind. Die Gewohnheit, andere - unsere sogenannten Feinde - für unsere Probleme und Leiden verantwortlich zu machen, ist eine verblendete Denkweise, eine Denkweise, die nicht erkennt, daß letztlich unser eigener Geisteszustand und nicht irgendein äußerer Umstand für alle unsere Leiden verantwortlich ist.

Die Ursache für den Entschluß, jemanden als unseren Feind zu betrachten, ist eine falsche Projektion unseres Geistes, eine fehlerhafte Vorstellung der Ereignisse. Wir betrachten den Schaden, den wir durch jemand anderen erleiden, als berechtigten Grund, diesen als Feind zu betrachten und ihm mit Feindseligkeit entgegenzutreten. Dabei vergessen wir die Güte und elterliche Fürsorge, die wir früher von ihm erhalten haben, und sind uns unserer eigenen Schuld an unseren Leiden nicht bewußt. Obwohl wir dies ständig tun, ist es in Wirklichkeit völlig verblendet und unhaltbar. Wie im nächsten Kapitel erklärt wird, ist es andererseits nicht falsch oder verblendet, alle Wesen als unsere Mütter zu betrachten. Das ist wahr und nachprüfbar und öffnet nicht nur das Tor zur weiteren spirituellen Entwicklung, sondern bringt uns sofort Glück und Wohlbefinden.

Das Ziel der Meditation über Gleichmut ist es, alle voreingenommenen Geisteshaltungen zu entfernen, um damit alle Wesen ohne Unterschied als unsere Mütter betrachten zu können. Das wird uns wiederum motivieren zu überlegen, wie wir ihre unendliche Güte erwidern können. Wenn wir infolge dieser Meditation sogar unseren ärgsten Feind als unsere Mutter betrachten können, dann sind wir bereit, eine Realisation der ersten Stufe der sieben Ursachen und Wirkungen zu erlangen, die zur Entwicklung von Bodhichitta führen.

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