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ALLE LEBEWESEN ALS UNSERE MÜTTER ERKENNEN

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Nachdem wir eine unvoreingenommene Sicht von allen fühlenden Wesen entwickelt haben, sind wir bereit, sie alle gleichermaßen als unsere ehemaligen Mütter zu sehen. Das ist die stabile Grundlage, auf der der höchst altruistische Geist des Bodhichittas aufbaut. Wie ist es aber möglich, alle Wesen als unsere Mütter zu erkennen? Was sind die Gründe, die zum Glauben führen, daß wir mit allen Wesen ein enges Mutter-Kind-Verhältnis gehabt haben?

Um diese Fragen zu beantworten, ziehen wir die folgende Argumentation in Betracht. Die Frau, die wir gegenwärtig als unsere Mutter kennen, ist unsere Mutter, weil wir aus ihrem Mutterleib in diese Welt hinein geboren wurden. Das ist aber nicht das erste und nicht das einzige Mal, daß wir geboren wurden. Unser Geisteskontinuum reicht unendlich weit zurück, und unsere Geburten waren zahllos. Da wir zahllose Male geboren wurden, müssen wir folglich zahllose Mütter gehabt haben. Deshalb gibt es kein einziges Wesen, dem wir begegnen, das nicht irgendwann einmal in der unermeßlichen Dimension der anfangslosen Zeit unsere Mutter gewesen wäre. Wenn wir uns von der Logik der oben angeführten Argumentation überzeugen lassen, kann uns trotz der veränderten Form und Erscheinung der Wesen, die wir antreffen, und trotz der Unzulänglichkeit unseres begrenzten Erinnerungsvermögens nichts daran hindern, alle Wesen mit der gleichen Wärme zu betrachten, die wir jetzt mühelos für unsere gegenwärtige Mutter empfinden.

Obwohl die beschriebene Argumentation in sich logisch ist, ist es offensichtlich, daß sie überhaupt keine Überzeugungskraft besitzt, wenn wir nicht an die Existenz früherer und zukünftiger Leben glauben oder dieses zumindest vorläufig akzeptieren lernen. Solange wir diese Möglichkeit ablehnen - das heißt solange wir glauben, daß die Geburt und der Tod dieses Lebens die äußersten Grenzen unserer Existenz kennzeichnen - wird es ganz und gar unmöglich sein, alle Wesen als unsere Mütter zu erkennen, außer im metaphorischen Sinne. Das volle Verständnis vieler anderer wichtiger Dharma-Themen, wie zum Beispiel die Beziehung von Ursache und Wirkung, hängt davon ab, die Existenz vergangener und zukünftiger Leben in Betracht zu ziehen. Obwohl dieses Thema einigen Menschen ganz besondere Schwierigkeiten bereitet - insbesondere den Menschen im Westen - ist es wichtig, offen dafür zu sein und die Frage mit sowenig Vorurteilen wie möglich zu untersuchen.

Der Kern des Problems liegt in unserem Verständnis der Natur des Geistes. Denn durch die Erkenntnis, daß unser Geist ein formloses Kontinuum und dieses Kontinuum anfangslos ist, werden wir die Existenz früherer Leben verstehen lernen. Eine Methode, wie man darüber meditieren kann, ist die folgende: Wir können den gegenwärtigen Strom von Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühlen - alle Faktoren, die wir als «geistig» identifizieren - betrachten und zum Geistesstrom der vorherigen Momente, Minuten und Stunden zurückverfolgen. Dann können wir diesen Geistesstrom sogar noch weiter zurück zum gestrigen Tag, zur letzten Woche und zum letzten Jahr verfolgen. Je nach Stärke unseres Gedächtnisses können wir diesem Geistesstrom Jahr für Jahr bis zurück zu unserer Geburt nachgehen. Selbst wenn wir diesen Geistesstrom bis zur Zeit im Mutterleib oder bis zum Moment der Zeugung zurückverfolgen können, können wir nie einen Zeitpunkt finden und sagen: «In diesem Moment ist mein Geist entstanden.»

Einige Menschen, die diese Meditation des Zurückverfolgens praktizieren, können tatsächlich über den Moment der Zeugung hinausgehen und sich an den Geistesstrom am Ende eines früheren Lebens erinnern. Da aber diese Erfahrung nicht von sehr vielen Menschen geteilt (und oft angezweifelt) wird, können wir diese Erfahrung fairerweise nicht als Beweis für das anfangslose Kontinuum des Geistes verwenden. Daher ist es viel besser für uns, die Vertrautheit mit unserem eigenen Geist zu vertiefen und unsere Auffassung von seiner Natur und seinem Ursprung zu hinterfragen.

Bei dieser Untersuchung können uns die folgenden nützlichen Fragen und Beobachtungen helfen. Wenn wir nach dem Ursprung unseres gegenwärtigen Körpers suchen, kommen wir schließlich zur Vereinigung von Sperma und Eizelle unserer Eltern. Kann das auch der Ursprung unseres Geistesstromes sein? Wenn wir diese Frage mit Ja beantworten, dann ergeben sich viele Schwierigkeiten. Wie können wir die erheblichen Unterschiede zwischen unserem eigenen Geist und dem Geist unserer Geschwister und Eltern erklären? Wenn unser Geist zu Sperma und Eizelle unserer Eltern zurückverfolgt werden kann, was ist dann die Beziehung zwischen diesen Zellen und dem Geist der Eltern? Ist der Geist etwas, was letztlich auf eine körperliche Ursache reduziert werden kann? Da der Geist aber dem Wesen nach formlos ist, muß er nicht eine eigene nichtstoffliche Ursache haben, völlig getrennt von der Ursache unseres physischen Körpers?

Einige Menschen behaupten, daß der Geist bei der Geburt - abgesehen von wenigen vorgeburtlichen Eindrücken - einer unbeschriebenen Tafel gleiche. Sie sagen, daß das, was wir Geist nennen, lediglich ein durch Erziehung und Entwicklung erlerntes Verhalten sei. Kann uns diese Theorie zufriedenstellen? Erklärt sie die Unterschiede im Temperament zwischen den Menschen, Unterschiede, die sogar Neugeborene in der gleichen Familie aufweisen können? Erklärt sie die Komplexität des geistigen Verhaltens, das ganz normale Kinder zeigen, ganz zu schweigen von den besonderen Fähigkeiten und Begabungen, die hochbegabte Kinder aufweisen?

Wenn wir die Natur des Geistes wirklich verstehen und herausfinden wollen, ob er ein anfangsloses Kontinuum ist oder nicht, dann müssen wir diese Frage sorgfältig überdenken. Tatsächlich haben die meisten Menschen, sogar gebildete und solche, die sich beruflich mit geistigen Phänomenen befassen, oftmals nicht mehr als eine sehr vage Vermutung darüber, was der Geist ist. Wenn unser eigener Standpunkt genauso unbestimmt ist - wenn wir keine schlüssige Theorie haben, die die Beziehung zwischen der materiellen Form und dem immateriellen Geist erklärt-, dann ist es nicht weise, die Theorie, die auf Logik, Beobachtung, Erfahrung sowie auf den Aussagen erleuchteter Wesen gründet, kurzerhand abzulehnen. Zumindest sollten wir aufgeschlossen bleiben und das Thema ohne Vorurteile prüfen.

Gemäß buddhistischem Denken war der Bewußtseinsstrom schon beim Fötus vorhanden. Noch weiter zurück, im Moment der Zeugung drang dieser Geistesstrom in die embryonale Zelle ein, die aus der Vereinigung des väterlichen Spermiums und der mütterlichen Eizelle gebildet worden war. Vor dem Eintritt war dieses Bewußtsein oder Geisteskontinuum das Bewußtsein eines früheren Lebens. Überdies entstand das Bewußtsein jenes Lebens wiederum aus dem Leben, das diesem voranging, und so weiter zurück bis zur Unendlichkeit. Selbst Buddha Shakyamunis allwissender Geist sah keinen Anfang dieses Prozesses. Wenn das Geisteskontinuum anfangslos ist, müssen wir folglich zahllose Wiedergeburten und demzufolge auch zahllose Mütter gehabt haben. Daher gibt es kein einziges fühlendes Wesen, das nicht zu irgendeiner Zeit unsere Mutter gewesen ist.

Wenn dem so ist, weshalb erkennen wir nicht intuitiv, daß andere Wesen unsere Mütter waren? Der Grund ist der, daß die traumatischen Erlebnisse des Todes und der Wiedergeburt uns üblicherweise der Erinnerung an vergangene Leben berauben. Dazu kommt, daß es wegen der sich ständig ändernden Form der Lebewesen schwierig für uns ist, sie wiederzuerkennen. Wenn beispielsweise unsere gegenwärtige Mutter sterben und als Hund wiedergeboren würde, wären wir nicht in der Lage, sie wiederzuerkennen, auch wenn sie unser Haustier wäre. Deshalb sind wir, trotz gegenteiliger Erscheinung, von unzähligen Wesen umgeben, die alle unsere Mutter waren.

Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, daß nicht allen Wesen die Fähigkeit fehlt, sich an frühere Leben zu erinnern. Viele Yogis erlangen die Fähigkeit, sich an ihre früheren Leben zu erinnern, als Resultat der meditativen Praxis, die die groben Verdunkelungen des Geistes schrittweise ausmerzt. Auch einige gewöhnliche Menschen, insbesondere kleine Kinder, haben aufgrund von besonders klaren Prägungen im Geist oftmals Erinnerungen an vergangene Leben. Die Tatsache, daß die meisten von uns diese Fähigkeit nicht besitzen, ist aber eigentlich nicht erstaunlich, denn schließlich reichen schon die Verworrenheiten dieses Lebens und die allgemeine Dumpfheit unseres Geistes aus, daß wir viele Ereignisse aus der frühen Kindheit, der Säuglingszeit und der Zeit im Mutterschoß vergessen.

Wenn wir über Begründungen, wie sie oben dargelegt wurden, nachdenken, d.h. wenn wir genau untersuchen, ob sie logisch, ohne Widersprüche, vernünftig und für uns anwendbar sind, nennt man diesen Prozeß analytische Meditation. Aus diesem Untersuchungsprozeß entsteht eine Schlußfolgerung. In diesem Fall ist es ein starkes Gefühl, daß alle Wesen tatsächlich unsere Mütter gewesen sind. Der nächste Schritt besteht darin, dieses Gefühl oder diese Schlußfolgerung kraft unserer Achtsamkeit zu halten und einsgerichtet darauf zu verweilen. Dieser Prozeß wird verweilende Meditation genannt. Durch die fortgesetzte Praxis der verweilenden Meditation entstehen echte Realisationen in unserem Geist. Wenn sich die Erkenntnis gefestigt hat, daß alle fühlenden Wesen tatsächlich unsere Mütter gewesen sind, dann hat man die Realisation der ersten der sieben Stufen zur Entwicklung von Bodhichitta erlangt.

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