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Kapitel 4 ABSTURZ Rückblick 1986
ОглавлениеIch war nun in der dritten Klasse des Realgymnasiums und dreizehn Jahre alt. Nach wie vor betete ich meinen Engel Lea an. Nach wie vor hatte ich keinen blassen Schimmer von Sex oder Ähnlichem. Gleichzeitig verschlechterten sich meine Noten, da mir wesentlich mehr an meinen sportlichen Freizeitaktivitäten lag als an der Schule. Nach und nach bekam ich das Gefühl, in mehreren Fächern komplett den Anschluss zu verlieren. Ich hatte selbst nach sechs Monaten keinen blassen Dunst von Latein und meine Hausaufgaben erledigte ich ausschließlich zehn Minuten vor Schulbeginn, indem ich von meinem besten Freund abschrieb. Dass das nicht mehr lange gut gehen konnte, war mir klar, aber ich war so ahnungslos vom aktuellen Lernstand, dass ich gar nicht wusste, wie ich das aufholen könnte.
Noch immer träumte ich jede Nacht von Lea und wünschte mir so sehr, sie später heiraten zu dürfen. Und wie meine Großeltern ein ganzes Leben zusammen zu bleiben. Noch immer war da nicht mehr als dieser eine Liebesbrief aus der ersten Klasse und meine verstohlene Antwort „ich Dich auch“. Das müsste reichen, um darauf zu warten, dass wir uns irgendwann näherkämen. An andere Buben, die mir meine Lea „wegnehmen“ könnten, dachte ich nicht. Aber ich bekam zunehmend Angst, den Schulanforderungen nicht gewachsen zu sein und die dritte Klasse wiederholen zu müssen. Was bedeutet hätte, meine Lea zu verlieren.
Ebenso wurden in meinem Zuhause Spannungen zwischen meinen Eltern immer spürbarer. Es gab zunehmend lautstarke Streitigkeiten, der Grund war mir aber nicht bekannt. Was mir schon auffiel, war im Gegensatz zu anderen Vätern, dass mein Vater nicht sehr oft zu Hause war. Soweit ich es verstand, hatte er mehrere Berufe gleichzeitig. Ich dachte mir damals dennoch, wenn ich einmal Kinder haben würde, dann sollte meine Frau möglichst keinen Finger rühren müssen. Ich würde sie auf Händen tragen und würde jede Sekunde mit ihr und meinen Kindern verbringen.
Sorgen um unsere Familie machte ich mir nicht, denn meine Eltern waren ja verheiratet. Ich hatte gerade erst ein kleines Brüderchen bekommen, das nun zwei Jahre alt war und das ich über alles liebte. Dennoch war irgendwas komisch, es lag zunehmend eine unerklärbare Hektik in unserem Zuhause in der Luft und meine Mutter war sichtlich gezeichnet. Fremde Menschen besichtigten unser Haus. Teilweise sah es so aus, als ob sie es kaufen wollten, andere wiederum wollten Dinge mitnehmen, die uns gehörten. Meine Eltern diskutierten mit ihnen, wie dies zu verhindern sei. Ich war so unendlich naiv, so unwissend und gleichzeitig hatte ich tiefstes Vertrauen darin, wie meine Eltern mich informiert hätten, wenn wir ernsthafte Probleme hätten.
Und dann kam es. Unsere Nachbarn sahen sich unsere Wohnung an und dann hörte ich, wie über einen Kaufpreis gesprochen wurde. Meine Welt brach zum ersten Mal zusammen. Es war ein Vertrauensbruch ungeahnten Ausmaßes. Man hatte hinter meinem Rücken entschieden, unser Zuhause zu verkaufen und niemand hatte auch nur ein Sterbenswörtchen zu mir gesagt. Zuerst blieb ich stundenlang weinend in meinem Zimmer versteckt, wenngleich mir das Ausmaß der Änderungen, die auf mich warteten, noch gar nicht bewusst war. Irgendwann hatte meine Mutter dann gemerkt, dass ich für längere Zeit nicht zu sehen war und kam in mein Zimmer. Noch immer war ich in Tränen aufgelöst und ich konnte auch meine Wut nicht mehr unterdrücken. Zum ersten Mal in meinem jungen Leben schrie ich meine Mutter an.
Die Situation war verzweifelt. Unser Sportgeschäft in der Südstadt lief ganz toll, aber mein Vater hatte aufgrund des Erfolges mit dem ersten Geschäft ein zweites Sportgeschäft in Wien eröffnet. Während das Geschäft in der Südstadt eine Goldgrube war, war das Sportgeschäft in Wien ein Millionengrab. Wir waren pleite, alles musste verkauft werden, auch unser Segelboot am Neusiedlersee, wo ich jede Minute genoss und wir dort auch oft übernachteten. Das Segelboot war eine Oase der Ruhe, denn beide Eltern hatten Zeit und mussten nicht den Millionen anderer Dinge nachgehen, die sie sonst für mich nicht greifbar machten. Es kam aber noch dicker, wir würden nicht in der Südstadt bleiben, wir müssten uns ein Heim weiter weg suchen, weil dort die Mietpreise günstiger seien.
Von da an ging es mit mir nur noch bergab. Wir zogen zwanzig Kilometer entfernt weg, in der Schule machte ich überhaupt nichts mehr und der Schulweg war für mich viel zu umständlich. Ich benötigte zwei Stunden, um rechtzeitig in der Klasse zu sein und es zeichnete sich ab, dass es ohne Schulwechsel nicht mehr ging. Und so kam es auch.
Ich hatte meine Lea verloren. Sie war weg. Ich war weg. Ich denke, zu diesem Zeitpunkt hatte ich zum ersten Mal einen Anflug einer Depression entwickelt. Ich beendete jegliche sportlichen Aktivitäten und verwandelte mich innerhalb von Wochen von einem drahtigen muskulösen Buben in ein schlabbriges Stück Fett. Ich aß, was ich nur finden konnte und nahm mit Sicherheit zehn Kilogramm zu. Im Vergleich zu anderen Kindern war ich noch nicht wirklich übergewichtig, aber es war so dramatisch, dass meine Mutter mich am ersten Badetag des nächsten Frühlings mich in meiner Badehose nicht mehr erkannte.
Die neue Schule war alles andere als hilfreich für meinen psychischen Zustand, genauer gesagt, es war die schlimmste Hölle, die ich mir vorstellen konnte. Ich kam von einer modernen Schule mit gleichem Anteil Buben wie Mädchen. Es war überall hell und die Lehrkräfte waren allesamt moderne freundliche Menschen. Von dieser Wohlfühlatmosphäre wechselte ich nun in eine dunkle kalte Höhle mit Relikten der pädagogischen Vergangenheit als Lehrkräften. Die neue Schule, die nahe zu meinem gewechselten Wohnwort lag, nannte sich „Kollegium Kalksburg“. Eine Privatschule in einem Kloster mit zwanzig oder dreißig Meter hohen Kirchenräumen als Klassenzimmern, zumindest war das mein kindlicher Eindruck. Jedes Wort hallte durch die kargen Steinwände, wie das letzte Gebet vor dem Sterben. Ein Teil der Belegschaft waren Mönche, der andere Teil irgendwelche abgedrehten Typen, die am liebsten die Kinder noch mit dem Rohrstock verprügelt hätten. So schien es mir zumindest.
Es gab auch keine Mädchen mehr, meine Klasse war eine reine Bubenklasse und die Schüler kamen mir genauso pervers vor, wie die Lehrer. Lauter kranke Gehirne, die von einem lustigen und kindlichen Leben keine Ahnung hatten. Sehr wohl aber von Sex. Ständig war ich mit perversen Witzen konfrontiert, deren Inhalt ich kaum verstand. Gleichzeitig war der Schulstoff in dieser „Eliteschule“ so weit von mir weg, dass ich nicht mal im Ansatz eine Ahnung hatte, worum es ging. Ich schaffte es, in allen Fächern durchzufallen, außer in Sport.
In dieser fürchterlichen Zeit, die mich in jeder Sekunde zutiefst unglücklich und verzweifelt in dunkle Gedanken tauchte, war Lea in meinen Erinnerungen weiterhin mein Stern am Himmel. Wenn ich die Augen schloss, war sie stets bei mir. Meine Lea, mein Licht. Nach diesen überstandenen Monaten der Hölle in einem Klostergebäude war die Kirche für mich abgehakt. Ich konnte an dieser Institution absolut nichts Positives mehr sehen. Zum Glück sollte das nächste Schuljahr in einer neuen Schule wieder Licht in meine Dunkelheit bringen.