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Kapitel 6 DIE LETZTEN JAHRE DER UNSCHULD Rückblick 1987 - 1993
ОглавлениеNach den dunklen Monaten im Kollegium Kalksburg, wo ich mit Bomben und Granaten in jedem Fach durchfiel, wechselte ich in eine neue Schule mit der Bezeichnung „Anton Krieger Gasse“ in Wien. Der Schulweg war weiterhin kurz, aber die Schule war so, wie ich Schule gekannt hatte. Hell, modern, tolle Lehrkräfte und wieder ganz viele Mädchen. Dieses Institut war noch dazu ein Schulversuch mit deutlich progressiveren Methoden des Lehrens und Lernens. Schule machte plötzlich wieder richtig Spaß. Schnell verlor ich die unnötig angefressenen Kilos, betrieb wieder Sport, spielte in der Schulmannschaft Basketball und hatte neue Freunde. Nach dem Drill im Kollegium Kalksburg fiel mir das Lernen mit einem Mal unglaublich leicht. Dies war das einzig Positive, das ich von der merkwürdigen Schule in den kalten Klostergemäuern mitnahm.
Es gab in der neuen Schule viele hübsche Mädchen. Die meisten waren deutlich reifer als ich, denn ich war immer noch infantil und mehr Kind, als Teenager. Wenn die tollen Mädchen von Partys sprachen, hatte ich keine Ahnung, wovon die eigentlich redeten. Mit meinen neuen Freunden hatte ich wieder Spaß wie früher und das weibliche Geschlecht war einfach eine andere Liga. Und eines war weiterhin klar. Meiner Lea konnte sowieso niemand das Wasser reichen, sie war einfach zu perfekt. Wenngleich ich andere Mädchen durchaus zunehmend interessant fand und auch die ein oder andere Verliebtheit spürte. Dennoch waren alle gefühlsmäßig erwachsen, ich hingegen noch immer wie ein kleines Kind.
Im zweiten Schuljahr, genauer gesagt in der vierten Klasse Unterstufe der neuen Schule, passierte ein Unfall mit bemerkenswerten Nebenwirkungen. In der Früh warteten wie üblich alle Schüler – manchmal braver, manchmal weniger brav – in einem Art Vorraum zur Schüler-Garderobe. Es war ein vor Regen und Schnee geschützter Raum, aber nicht besonders groß. Manchmal wurde es in diesem Warteraum daher ziemlich eng, wenn alle Schüler darauf warteten, dass der Schulwart die Türen öffnet. Eines Morgens hatten wir in diesem Vorraum beim Warten unsere üblichen kleinen und lustigen jugendlichen Reibereien.
Einer der Schüler, welcher deutlich größer und muskulöser war, als ich, nahm mich an den Füßen und hielt mich in die Höhe, sodass mein Körper und mein Kopf nach unten baumelten. Angeblich war es bis dahin sehr lustig für alle, auch für mich. Aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich rutschte aus seinen Händen und knallte mit dem Kopf auf die Steinfliesen. Das Einzige, woran ich mich an diesem Tag erinnern kann, ist mit schrecklichen Kopfschmerzen am Gang eines Krankenhauses aufgewacht zu sein. Ich hatte zudem keine Ahnung, was passiert war. Viel schlimmer noch, ich erkannte absolut niemanden. Nicht einmal meine Eltern. Sie kamen mir bekannt vor, aber ich konnte sie nicht einordnen. Ebenso wenig meinen süßen kleinen Bruder, der mit seinen vier Jahren ganz vergnügt sein Matchbox-Auto über meine Beine fahren ließ. Das Unvorstellbare an dieser Situation war aber, dass ich mich an meine erste Schule erinnern konnte. Viel mehr noch, ich dachte, ich wäre noch in dieser Schule ein Schüler und meine einzige Sorge war, wann ich wieder fit genug sein würde, um dorthin zurückzukehren und meine Lea wiederzusehen. Nach und nach wurde mein Kopf über Stunden klarer. Die Realität kämpfte sich zurück und es war wie ein böses Erwachen aus einem Albtraum, bei dem es kein Wiedersehen mit Lea geben würde. Während meiner Benommenheit ging ich davon aus, Lea gerade noch in meiner ehemaligen Klasse gesehen zu haben. In Wirklichkeit hatte ich sie bereits seit zwei Jahren nicht mehr gesehen.
Nach diesem Erlebnis fragte ich mich noch viele Jahre, warum ich so auf dieses Mädchen fixiert war. War es eine Krankheit? War es nur eine verrückte Liebes-Spinnerei? Für mich gab es in meiner Märchenwelt von Helden und Prinzessinnen nur eine Erklärung: es gibt nur einen einzigen Traumpartner, den man mit Glück in seinem Leben finden kann. Den passenden Deckel für seinen Topf, die einzig wahre Liebe, die wie bei mir wie eine Bombe eingeschlagen ist, die selbstverständlich Liebe auf den ersten Blick ist und ewig währt. Entweder ist es so und man kann den Menschen nie wieder aus seinem Kopf bekommen oder es ist eben keine Liebe.
In den folgenden Jahren verliebte ich mich immer wieder ein wenig, mal heftiger, mal weniger, aber nie war es so wie bei Lea. Und nie passierte etwas. Bis zu meiner Matura kein einziger Kuss, von Sex ganz zu schweigen. Ich blieb Kind. Bis ich 18 war. Dann ging alles Schlag auf Schlag!
Die Zeit in meiner neuen Schule war – nach meiner schweren Gehirnerschütterung – durchgehend eine angenehme. Ich war zwar der faulste Hund, den man sich vorstellen kann, aber immer, wenn es darauf ankam, lernte ich gerade so viel, dass ich keine Klasse wiederholen musste.
Ich erinnere mich noch gut an den Zorn, den ich mir aufgrund meiner minimalistischen Einstellung durch meine Englisch- und Russisch- Lehrerin zuzog. Meine arme Frau Professor Vogl. In der vorletzten Schulstufe besaß ich bereits den Führerschein. Es gab für mich nichts Schöneres, als am Neusiedlersee im malerischen östlichsten Bundesland Österreichs – dem Burgenland - Windsurfen zu gehen. Es war meine Leidenschaft. Der Wind konnte nie stark genug sein. Lautlos über das Wasser brettern, nur die Kraft des Sturmes in den Händen. Das Auto gab mir eine neue Freiheit und meine Mutter war stets so großzügig, mir ihren kleinen weißen Renault Clio so oft wie möglich zur Verfügung zu stellen.
Nun war es so, dass ich in Russisch eigentlich durchgefallen war und die 7. Klasse wiederholen hätte müssen. Ein Jahr vor der Matura. Da die Lehrerkonferenz aber zu der Erkenntnis gelangte, ich sei prinzipiell in allen anderen Fächern gut genug, die Klasse nicht wiederholen zu müssen, gaben mir meine Lehrer die Freigabe zum Aufstieg in die 8. und letzte Klasse der Oberstufe. Somit war der Weg frei für die Matura, oder wie es in Deutschland heißt, dem Abitur.
Meine Russisch-Lehrerin hatte sich ebenfalls für mich eingesetzt, aber mir vor den Schulferien noch so richtig den Kopf gewaschen. Mehr als eindringlich beschwor sie mich, dass ich auf alle Fälle in den Sommerferien lernen muss und bei der pro forma Prüfung für Russisch eine glatte Eins schreiben soll. Diese Prüfung war trotz meiner Aufstiegsklausel vorgesehen, wenngleich der Ausgang der Prüfung nicht mehr dafür verantwortlich war, ob ich aufsteigen dürfte, oder nicht. Tja, was soll ich sagen. Es war ein traumhafter Sommer. Ständig wehte ein guter Wind und ich musste ja auch meine Fahrkenntnisse verbessern. Am Tag vor der Prüfung sagte der meteorologische Dienst dann einen Traumwind mit fünf bis sechs Beaufort voraus. Noch dazu aus Süden, was am Neusiedlersee hohe Wellen und hohe Sprünge bedeutete. Wo ich am Tag meiner Prüfung war, muss ich wohl nicht weiter beschreiben. Was war das für ein Theater ab dem ersten Schultag. Mehrere Tage konnte ich mich vor meiner Russisch-Lehrerin verstecken, bis wir wieder die erste Lehreinheit hatten. Ich habe noch nie einen Lehrer so wütend und auch enttäuscht gesehen. Während sie an einem herrlichen Sommertag auf mich wartete, war ich am See und hatte Spaß. Sie verzieh mir das die nächsten Wochen nicht und wir hatten immer wieder kleine Reibereien.
Aber etwas war anders in der achten Klasse. Alles wurde seriöser und sehr bald ging es eigentlich nur noch um die Matura. Schüler und Lehrkräfte bildeten ein Team, das mir bisher unbekannt war. Wir alle wollten die Matura schaffen und so war ich den letzten zwei Wochen um Häuser motivierter als sonst. Ja, die letzten zwei Wochen. Während andere bereits sechs Monate büffelten, was das Zeug hielt, ließ ich es wieder mal auf die letzte Sekunde ankommen. Auf die Schularbeiten in Russisch hatte ich wie üblich immer die schlechteste Note „5“ und meine Russisch-Lehrerin war mehr als nervös, ob ich die Matura schaffen würde. Gleichzeitig musste die Abschlussprüfung so gut sein, dass ich meine Gesamtnote von Fünf auf Vier senken konnte.
Diese letzten Wochen Lernen waren trotzdem ein großer Spaß. Wir bildeten im Zuhause von Sabine, einer Klassenkameradin und Freundin, die gleichzeitig die Freundin meines besten Freundes war, eine Lerngemeinschaft. Neben der damals populären Serie Baywatch mit David Hasselhoff lernten wir gemeinsam auch gerade nur so viel, wie es unsere Stimmung zuließ. Es war stets unglaublich lustig bei Sabine, auch weil sie eine äußerst jugendliche und relaxte Mutter hatte, die uns immer in Ruhe ließ. Ich war zwar schon sehr gespannt auf die Matura und träume selbst heute noch von den Ängsten, die Matura nicht zu schaffen, aber trotzdem war der Druck nicht hoch genug, um so richtig intensiv zu lernen. Zumindest nicht so, wie all die anderen Klassenkameraden dies seit Monaten taten. Ich war eben weiterhin ein fauler Hund, der versuchte, mit dem geringsten Aufwand das Maximum herausholen. Als es dann zur Matura ging, war ich zwar besser vorbereitet als die letzten Jahre, war mir aber dennoch nicht sicher, ob es reichen würde. Alle anderen Fächer machten mir keine großen Sorgen, aber in Russisch war sehr wohl eine gewisse Anspannung zu spüren.
Die Russisch-Prüfung bestand aus zwei Teilen, mündlich und schriftlich, beginnend mit dem mündlichen Teil, den ich mit meiner Lehrerin und einem Kontrollorgan durchführen musste. Als die Prüfung los ging, erkannte ich mich selbst nicht wieder. Ich sprach auf einmal fließend Russisch! Meine Lehrerin war sichtlich irritiert und ihr Gesichtsausdruck wechselte zwischen Unverständnis über meine jahrelange Faulheit und purster Verzückung. Es war wirklich lustig, für uns beide. Sowohl den schriftlichen als auch den mündlichen Teil bestand ich nahezu mit Bestnoten und so war ich nun nicht mehr Schüler, sondern bald Student. Ich hatte es geschafft!
In dem anschließenden Sommer, ich wurde inzwischen neunzehn Jahre alt, ließ ich es so richtig krachen. Bisher fühlte ich mich noch immer wie ein Kind, hatte nach wie vor keine Freundin, keinen Sex, und war weiterhin viel zu schüchtern für Mädchen. Ich war der festen Überzeugung, völlig uninteressant für das andere Geschlecht zu sein. Aber ich begann mit Krafttraining und bereitete mich auf die Aufnahmeprüfung für das Studium der Sportwissenschaften vor. Eine beachtliche praktische Prüfung, wo man in so gut wie allen Sportarten gute Leistungen erbringen musste. Dank der Weltrekordler-Sport-Gene meiner beiden Eltern, meinen vielen erlernten Sportarten und meiner Jugend als Geräteturner samt Landesmeistertitel, verwandelte sich mein Körper innerhalb kürzester Zeit zu einem explosiven drahtigen und ansehnlichen Muskelberg. Nicht wie diese reinen Kraftkammer-Körper, denn die Muskeln mussten allen Anforderungen entsprechen: gedehnt, auf Schnellkraft ausgelegt, dynamisch und gleichzeitig ordentliches Volumen für jene Sportarten, wo pure Kraft gefragt war, wie Kugelstoßen.
Diese Transformation meines Körpers inklusive des plötzlich männlich aussehenden Gesichts zeigte Wirkung auf die. In meiner Wahrnehmung gab es auf einmal fast kein Mädchen, das sich nicht nach mir umdrehte und so legte ich meine Scheu gegenüber dem anderen Geschlecht ab. Wie erwähnt, noch nie zuvor hatte ich ein Mädchen geküsst. In unserem eingeschweißten Freundeskreis des Jahres 1993 ging ich nun auch in Clubs und auf Partys mit und wurde erwachsen. Ich konnte mit dem Finger auf die schönsten Mädchen zeigen, sie zu mir herbitten und keine zwei Minuten später hatte ich ihre Zunge tief im Hals stecken. Es war wie das Erwachen aus einem Dornröschenschlaf.
Und da begann es langsam, mich gedanklich nicht mehr ausschließlich an Lea als die einzige mögliche Frau in meinem Leben zu klammern. Diese anderen Mädchen waren auch wunderschön, manche doof, andere super intelligent und lustig, wieder andere flüsterten mir Sachen ins Ohr, die ich nur aus Pornofilmen kannte. Dennoch wollte ich die Sache mit dem Sex nicht überstürzen und war sehr zurückhaltend. Bis ich ein Mädchen namens Alexandra kennenlernte, die wiederum eine gute Freundin von Sabine war. Da passierte es dann. Erneut im Zuhause von Sabine, in deren Wohnzimmer am Fußboden. Und im Schlafzimmer. Vermutlich noch in anderen Ecken der Wohnung von Sabines Mutter. Es schien, als ob ich mit 19 Jahren nun zum ersten Mal eine Freundin haben würde. Eine bildhübsche noch dazu. Zum ersten Mal, seitdem ich zehn Jahre alt war, dachte ich nicht mehr, mein Leben würde nur ausschließlich mit Lea seine Erfüllung finden können. Ich begann mich langsam von meinem bereits neun Jahre dauernden Märchen-Traum zu lösen.
Alexandra und ich hatten ein paar sehr lustige Wochen. Sie kam auch manchmal zu mir nach Hause auf Besuch, wo ich als angehender Student noch bei meinen Eltern wohnte. Es war mir zu Beginn sehr unangenehm und peinlich, ein Mädchen mit nach Hause zu nehmen. So erwachsen war ich dann wohl doch noch nicht, und ich glaube, meine Nervosität amüsierte meine Eltern sehr. Als ich mit meinem Studium der Sportwissenschaften begann, sollte mir dann aber jemand über den Weg laufen, der mein Schicksal für immer ändern würde.