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Kapitel 3 AN DER ZUKUNFT SCHNUPPERN Tagebucheintrag 25. Oktober 2016
ОглавлениеNun bin ich in Belize gelandet und sitze am Strand. Meine gemietete Unterkunft für die nächsten zehn Tage ist keine fünf Meter vom Meer entfernt. Trotz all meiner Reisen habe ich so eine Art von Urlaub direkt am Strand und ohne andere Menschen noch nie erlebt. Die folgenden Tage werden zeigen, ob ich mein Leben endgültig und im wahrsten Sinne des Wortes in den Sand gesetzt habe. Oder ob das Stück Korallenfelsen mit Mangroven es wert ist, alles in Österreich aufgegeben zu haben.
Das Ankommen am Flughafen in Belize City war bereits aufregend. Bis vor wenigen Jahren hatte ich noch eine ziemlich ausgeprägte Flugangst und wäre auch nie in einem karibischen Staat in ein Mietauto gestiegen. Seit meinen Suizidversuchen hat sich das alles geändert. Ich habe vor nichts mehr Angst, auch nicht vor dem Sterben. War der Tod doch lange mein sehnlichster Wunsch, um keine Schmerzen mehr fühlen zu müssen. Diese Gelassenheit gegenüber dem Tod macht das Leben wesentlich entspannter. Vor allem lebt man anders, wenn nicht alles darauf ausgerichtet ist, möglichst alt zu werden und jedes Risiko so lange abzuwägen, bis man sich nicht mal mehr über die Bettkante traut. Wie ich in einer echten lebensbedrohlichen Situation reagieren würde, weiß ich natürlich nicht.
Dieses Planen und Risikoberechnen hat mich in so vielen Dingen gebremst. Ein gutes Beispiel dafür sind meine früheren Urlaube. Bereits zu Beginn des Urlaubs war ich bereits geistig etwas gestresst in der Planung des Abreisetages. Aber nicht nur der Abreisetag selbst beschäftigte mich vom Tag der Anreise an, sogar der Tag vor der Abreise war in meinen Gedanken präsent. Um am Abreisetag selbst, alles perfekt organisiert zu haben. Was für ein verkrampftes Leben. Gleichzeitig habe ich mich aber für Abenteuer begeistert, war leidenschaftlicher Hobby-Rennfahrer und ebenso gerne bin ich mit meinem Surfbrett bei Sturm über den Neusiedlersee oder den Atlantik vor Fuerteventura gefetzt.
Beim Aussteigen aus dem Flugzeug in Belize City war ich erstmals nicht in der Erwartung, von meinem Reisebüro den sämtlichen weiteren Ablauf in den Popo geschoben zu bekommen. Ich habe mich selbst um alles gekümmert und entgegen meiner Gewohnheit nicht alles bis ins letzte Detail geplant. Alles, was von mir vorbereitet wurde, sind Mietauto und Unterkunft. Dank meiner Facebook-Recherchen war ich mir sicher, für den Rest gewappnet zu sein. Und so war alles vom Ablauf her dennoch oder gerade deswegen überraschend unaufgeregt. Ich wusste, was ich bei der Grenze für Dokumente ausfüllen müsste. Selbst die Information, eigene Kugelschreiber mitzunehmen, hatte ich. Und ich besaß alle Informationen, wie das mit der Autovermietung ablaufen würde. Also eigentlich doch wieder ziemlich viel geplant.
Worauf man sich im Internet und auf Facebook jedoch unmöglich vorbereiten kann, sind jene Sinneseindrücke, die durch Lesen nicht zu erfassen sind und in jedem Teil der Erde anders auf uns einprasseln. Belize ist, wie erwähnt, zudem keine Insel, sondern liegt am Festland. Und vieles ist anders, als ich es von meinen abgeschotteten All Inclusive Urlauben in der Karibik in Erinnerung habe. Die intensiven Gerüche bereits nach dem Aussteigen zum Beispiel. Die Luftfeuchtigkeit ist viel höher als in Kuba oder der Dominikanischen Republik. Alles riecht hundertmal intensiver. Die Erde, die Pflanzen, der gerade abgeklungene Tropenschauer, selbst die Autoabgase scheinen hier eine andere Note zu haben. Wobei eine heimische olfaktorische Erinnerung nicht abzustreiten ist. Das Tropenhaus im Tiergarten Schönbrunn. Dort riecht es faszinierender Weise genauso, wie hier. Vermutlich weil in dem Tropenhaus auch eine sehr hohe Luftfeuchtigkeit simuliert wird und die gleichen Pflanzen zu finden sind.
Aber auch die akustischen Eindrücke faszinieren mich. Ich bin zum ersten Mal in einem englischsprachigen karibischen Land. Bisher war ich nur im nördlichen Teil der Karibik und ausschließlich in Ländern, wo Spanisch gesprochen wurde. Nun bin ich zum ersten Mal in Mittelamerika. Mittelamerika. Das ist doch dort, wo die Drogenkartelle sind, wo das Kokain über die Straßen weht und Konflikte herrschen? Kindheitseindrücke von TV-Reportagen kommen immer wieder hoch, ganz besonders jene, wie ich als wirklich kleiner Knirps mit meinen Großeltern die Bildungssendung „Panoptikum“ auf ihrem damals brandneuen Farbfernseher gesehen habe. Sehr eingeprägt hatte sich bei mir ein Bericht, wo für meine Großeltern unvorhergesehener Weise - damals gab es noch keine Warnhinweise - gezeigt wurde, wie Paramilitärs in Nicaragua einen gefesselten Zivilisten von hinten mit einem Kopfschuss töten. Dieses Bild habe ich jahrelang nicht mehr aus meinem Kopf bekommen und habe es heute noch vor mir. Das war für mich Mittelamerika. Doch inzwischen sind vierzig Jahre vergangen und Belize ist eben ganz anders. Und bis vor wenigen Monaten wusste ich ja nicht einmal, wo Belize liegt.
Zurück zu den akustischen Eindrücken. Die Sprache ist Englisch und in meinen Recherchen im Internet habe ich somit auch alles auf Englisch gelesen. Im Kopf „hört“ man die geschriebene Sprache so, wie man sie gewohnt ist, oder wie man sie selbst ausspricht. Mein Englisch ist sehr von dem europäischen Pharmakonzern geprägt, für den ich seit siebzehn Jahren arbeite. Daher ist das Englisch in meinem Sprachzentrum hauptsächlich mein eigenes Englisch. Gleichzeitig ist es durch meine spanischen, italienischen und französischen Kollegen geprägt. Und dann klingt alles auf einmal ganz anders, als man es gewohnt ist. Denn Englisch ist zwar die Amtssprache, in Wirklichkeit sprechen die Belizianer aber Kreol. Und das versteht man zuerst mal überhaupt nicht mit seinem europäischen Lehrbuch-Englisch.
Bereits bei den ersten Wortwechseln mit der Einwanderungsbehörde am Flughafen, wo es ja noch gar nicht um meine Übersiedlung, sondern nur um eine Art Urlaub für elf Tage ging, kam ich ganz schön ins Schwitzen. Es war mir fast unmöglich, zu verstehen, was man mich fragen oder mir mitteilen wollte. Zu allem Überfluss hatte ich auch Probleme mit dem Druckausgleich bei der Landung und eines meiner Ohren war komplett zu. Aber ganz abgesehen von der einseitigen Schwerhörigkeit bis Taubheit, dieses Kreol klingt auch ein bisschen aggressiv. Es erinnert mich ein wenig an die jungen Verkäufer mit Wurzeln aus dem Nahen Osten, die auf dem Wiener Naschmarkt ihre Waren anbieten. Im ersten Moment weißt du nicht, ob sie dir ein Brot verkaufen wollen, oder gerade gedroht haben, dich windelweich zu prügeln.
Sprachmelodien sind je nach Kultur und Herkunft eben sehr unterschiedlich und wenn man etwas nicht gewöhnt ist, kann es sehr schnell bedrohlich klingen, sofern man sich keinen offenen Geist bewahrt hat. Und mein Geist ist so offen, wie noch nie in meinem Leben. Ich will alles neu lernen, neu entdecken und mich selbst vielleicht zum ersten Mal in zweiundvierzig Jahren richtig kennenlernen. Oder den letzten Suizidversuch erfolgreich durchziehen, wenn mein Vorhaben nicht funktioniert, alles weg ist und meine Depressionen ihren letzten Siegesmarsch einläuten. Auch das ist immer noch im Hinterkopf.
Wobei ich vorher meine Wohnung erfolgreich verkaufen müsste, um die Schulden bei meinem Freund Bonelli abzuzahlen, der mir den Inselkauf vorgestreckt hat. Aber ich habe ja meine Medikamente. Beruhigungsmittel, Mittel zum Schlafen, Mittel zum Aufwachen, Mittel zum Durchhalten, Mittel für den Antrieb. Was für ein schäbiges erbärmliches Leben. Aktuell bin ich interessanterweise positiver gestimmt als schon sehr viele Jahre nicht mehr, und so begegne ich den ersten Kommunikationsschwierigkeiten mit jeder Menge Humor.
Eines darf ich jetzt schon feststellen. Wenn Belizianer offensichtlich eines gut können, dann ist es laut und herzhaft lachen. Neben all dem Dauergrinsen, das man überall auf den Straßen sieht. Jeder scheint ständig gut drauf zu sein. Das Entgegennehmen des Mietautos war bereits mein erstes Erlebnis mit der karibischen Gemütlichkeit. Es war fast vorbereitet. Eine Stunde später war es dann wirklich einsatzbereit. In der Zwischenzeit hatte ich meinen Vorsatz umgesetzt, vor nichts und niemandem Angst zu haben. Ich wusste von meiner Recherche, dass Belize weltweit zu den Staaten mit der höchsten Mordrate gehört. Aber ich hatte mich auch mit den Details beschäftigt, und während der südliche Teil des Landes sehr friedlich ist, geschehen die meisten Morde in Belize City und weiter nördlich. In Belize City bin ich nun und noch immer am Leben. Denn der Teufel steckt im Detail, auch wenn man sich Mordraten ansieht. Die meisten Morde geschehen im Drogen- und Dealer Milieu, während Touristen so gut wie nie Mordopfer sind. Außerdem war es heller Tag und die meisten Verbrechen finden nachts statt.
Also hielt mich nichts davon ab, Johnny Cool heraushängen zu lassen, und so zu tun, als ob ich das schon tausendmal zuvor gemacht hätte. Einfach ein bisschen an der Straße entlang gehen und nach Essen suchen. Am Flughafen gleich um die Ecke war auch bereits ein kleiner Stand. Wie ich später gesehen habe, auch der einzige Stand in dreißig Minuten Gehreichweite. Im Flughafengebäude selbst hätte es auch ein Restaurant gegeben, aber ich wollte ganz bewusst etwas von der Straße, von den Einheimischen, vom echten Belize. Es konnte nicht dreckig und heruntergekommen genug sein, um meine Eignung für das zukünftige Leben zu testen. Und der Stand enttäuschte nicht. Er war nicht viel mehr als ein wackeliger Holztisch am staubigen Straßenrand und das Dach eine flatternde Plane. Neben mir ausgehungerte Hunde, die traurig nach Essen suchten und wann immer ein Auto vorbeifuhr, blies einem der Wind den Sand in die Augen. Dennoch, die Ausrüstung des Essens-Standes erfüllte seinen Zweck und die Regeln und Vorschriften der Europäischen Union in Bezug auf Lebensmittelsicherheit schienen so weit entfernt zu sein, wie der nächste McDonalds mit seinen Bestell-Touch-Screens. Die Sonne war brütend heiß, was sich zusammen mit der hohen Luftfeuchtigkeit wie eine unbarmherzige Sauna anfühlte und den Schweiß auf der Haut in eine Treibsandmischung verwandelte.
An der Verkaufstheke des kleinen Essenstandes war genügend Platz für drei belizianische Spezialitäten. Rice and Beans, also Reis und Bohnen, stew beef und stew chicken, übersetzt gedünstetes Rindfleisch und gedünstetes Hühnchen. Ich entschied mich für alle drei Gerichte, denn ich war enorm hungrig. Und die Portionen in Belize sind offensichtlich nicht besonders groß. Außer den Rice and Beans. Daher war es eine gute Entscheid-ung, gleich alles zu bestellen. Das Essen schmeckte hervorragend, ich war satt und für die mit Zecken und Flöhen übersäten Hunde gab es dann als Belohnung für ihre süßen Blicke ein paar Rinderknochen.
Nach Entgegennahme meines Mietwagens saß ich wider Erwarten in einem nigelnagelneuen Auto mit gerade mal fünfhundert Meilen am Tacho. Ja, Meilen. Das wird mich wohl noch sehr viel beschäftigen, da das imperiale Mess-System so enorm anders ist, als unser metrisches System. Erneut musste ich über mich selbst schmunzeln, denn obwohl ich das Planen ablegen wollte, bereitete ich bereits die GoPro-Kamera für die Windschutzscheibe vor. Ich wusste, sobald ich die Hauptstadt Belmopan erreichen würde, müsste ich unbedingt die Fahrt auf der Freilandstraße „Hummingbird-Highway“ filmen. Sie sollte absolut einzigartig durch tropenbewachsene Berge und Hügel führen. So ging die Fahrt ins Ungewisse. Oder wie ich annahm, ins Gewisse. Ich fuhr nun tatsächlich mit einem Mietwagen dreieinhalb Stunden durch ein mittelamerikanisches Land. Durch verschlafene Orte, vorbei an verfallenen Blech-hütten, an ausgetrockneten Bäumen und saftig grünen tropischen Palmen. Ich passierte alle paar Meilen kleine zuckersüße Kinder, die mir selbstgepresste Säfte in Plastiktüten oder Früchte vom Straßenrand verkaufen wollten, sah Schilder, die vor dem Überfahren von Tapiren und Jaguaren warnten und befand mich in einer Umgebung, die ich wirklich nur aus Dokumentationen kannte. Ich war nun wirklich hier.
Und was man weder in Bildern, Videos und auch nur sehr schwer in Schriftform wiedergeben kann, sind die atemberaubenden Eindrücke auf dem Hummingbird Highway. Die erste Stunde Fahrt davor war eher staubig und holprig. Und wie ich bereits gewusst hatte, musste ich entweder im Slalom den unzähligen Schlaglöchern ausweichen oder meinen Kopf gegen die Kopflehne pressen, wenn man vor den oftmals nicht markierten Bremsschwellen, den sogenannten „Speed Bumps“ eine Notbremsung vom Feinsten machen muss. Ansonsten würde man den Unterboden samt Kronjuwelen auf den teilweise zwanzig Zentimeter hohen Bremsschwellen als Souvenir zurückzulassen.
Nach einer Stunde Fahrt gelangt man dann von Belize City aus in die Hauptstadt Belmopan. Mit seinen 23.000 Einwohnern hat Belmopan eine deutlich geringere Einwohnerzahl als Belize City, wo 63.000 Menschen leben. Belize City liegt an der Küste und war bis zum Jahr 1970 die Hauptstadt von Belize, beziehungsweise seinem Vorgänger-staat British Honduras. Allerdings wurde Belize City im Jahr 1961 durch den katastrophalen Hurrikan „Hattie“ fast vollständig zerstört und die Regierung auf lange Zeit handlungsunfähig gemacht. Dement-sprechend entschloss man sich im Jahr 1970 die Hauptstadt in das Landesinnere zu verlegen, wo sie durch Berge und die Distanz zur Küste relativ gut geschützt ist. Im Jahr 1980 hatte Belmopan, welches als Kunstwort aus Belize und dem Mopan-Fluss kreiert wurde, nur knapp 3.000 Einwohner. Inzwischen wächst die Stadt immer mehr, wenn-gleich man sie nicht mit unseren Städten vergleichen kann. Es gibt nach wie vor keine Ampeln und Staus kennt man hier nicht. Ebenso wenig gibt es Geschwindigkeitskontrollen, weder Radarboxen noch Polizisten mit mobilen Laser-Geschwindigkeitsmessgeräten. Die Höchstgeschwindigkeit außerhalb von Ortschaften beträgt fünfundfünfzig Meilen oder neunzig Kilometer pro Stunde. Autobahnen, wie wir sie in Europa kennen, gibt es nicht. Was auch nicht notwendig zu sein scheint, bei den paar Fahrzeugen, die hier unterwegs sind. In Belmopan montierte ich dann meine GoPro an die Windschutzscheibe des Mietwagens und bereits nach zwei Minuten hatte ich die Hauptstadt schon wieder verlassen. Man muss sich das vorstellen. Die Hauptstadt eines ganzen Landes durchquert man in zwei Minuten. Unfassbar.
Direkt nach der Stadtgrenze beginnt er, der berühmte Hummingbird Highway. Diese malerische Landstraße startet sanft mit Hügeln, und das Grün um einen herum wird mit jeder Minute dichter und intensiver. Bergauf, bergab, Kurven und egal ob man nach links, rechts oder nach oben blickt, überall dichtes sattes tropisches Grün von unendlich hohen Palmen und exotischen Bäumen. Sowie Brücken, die über tropische Flusslandschaften führen, die sofort an Indiana Jones erinnern. Die Palmenwälder sehen nicht wie an den Urlaubsstränden aus, sondern erinnern ebenfalls an die wildesten Abenteuerfilme und Dokumentationen, wo sich Menschen durch dicht bewachsenen Dschungel durchkämpfen müssen. Bewusst verzichtete ich auf die angenehme Kühlung der Klimaanlage und öffnete Fahrer- und Beifahrerfenster, um die Umgebung intensiver spüren zu können. Vogelgesang wie aus Tierfilmen, Gerüche, die ich selbst im Tropenhaus von Schönbrunn noch nicht wahrnehmen konnte, und ein Licht, das wie eine Mischung aus der tropischen Luftfeuchtigkeit von Gorillas im Nebel und der intensiven weißen Strahlung des Wüstenplaneten aus Star Wars erschien.
Nach einer knappen Stunde wurden die Hügel und Berge dann flacher und ich wusste, ich würde mich meinem Ziel, der Halbinsel von Placencia, nähern. Placencia Village liegt ganz am Ende im Süden der gleichnamigen Halbinsel Placencia. Bevor man Placencia Village erreicht, passiert man noch die beiden Orte Maya Beach und Seine Bight. Der Kontrast dieser drei Orte kann nicht stärker sein. Maya Beach ist ein sehr ruhiger Ort mit offensichtlich größerer Anzahl von Auswanderern aus den USA, abgeschotteten Häusern der Hauptstraße entlang und gepflegtem Erscheinungsbild.
Komplett im Gegensatz zu dem Ort Seine Bight mit seinen verfallenen Holzhütten und durchgerosteten Blechdächern, wohin das Auge reicht. Seine Bight ist etwas schwierig auszusprechen, wenn man den Namen nur liest. Am ehesten könnte man es auf deutsch wie „Sejn bait“ lautschriftlich beschreiben. Seine Bights Einwohner gehören hauptsächlich der Gruppe der Garifuna an, eine Volksgruppe mit Wurzeln der ehemaligen afrikanischen Sklaven in der Karibik aus der Kolonialzeit. Als ich durch Seine Bight langsam hindurch rollte, wirkte es wie ein anderer Planet im Vergleich zu Maya Beach. Das Leben in Seine Bight pulsiert, augenscheinlich teilweise auch sehr promillehaltig, aber nicht auf eine übermäßig ungute Weise. Auch in Seine Bight sind alle Hautfarben zu sehen, wenngleich der Anteil der Garifuna dominierend ist. Überall laute ungehemmte Musik und das Leben spielt sich an beiden Rändern der Hauptstraße ab. Der ganze Ort scheint durchgehend zu feiern.
Und dann war es so weit: ich kam in Placencia Village an. Wieder ein Kontrast zu allen Orten, die ich bisher gesehen hatte und es erschien mir wie die perfekte Mischung aus allem. Gäbe es Liebe auf den ersten Blick für einen Ort, dann durfte ich dies nun erlebt haben. Es zeigte sich eine bunte Mischung aus allem. Sowohl baulich wie auch ethnisch. Auf den ersten Blick sieht man Belize so, wie es in den Reiseführern beschrieben wird. Kulturen aus allen Erdteilen. Dunkelhäutige Menschen, hellhäutige, ein paar Mennoniten, welche eine Glaubensgruppe aus Europa mit deutschen Wurzeln darstellen, Asiaten, lateinamerikanische Gesichtszüge, die alle Breitengrade von Südamerika widerspiegeln und auch wieder Personen, die eindeutig wie US-amerikanische Auswanderer aussehen.
Die Gebäude erscheinen in ähnlich bunter Mischung. Noblere Häuser aus Beton mit Dachziegeln, Holzhütten mit Blechdach, richtige Fenster, ausgeschnittene Wände als Fenster, Dächer aus Palmen, gepflegte Gärten und Wildwuchs. Und alles zusammen sieht total schnuckelig und zum Liebhaben aus. Die Suche nach meiner Unterkunft, die ich via Airbnb gebucht hatte, stellte sich schwieriger heraus, als gedacht. Es gab keine Schilder und so folgte ich zu Fuß den Kartenanweisungen meines iPhones. Auch diesbezüglich hatte ich meine Planungskrankheit noch nicht ganz abgelegt und in Österreich alle Karten offline auf mein Handy geladen. Es war klar, in Belize vorerst keinen Internetzugang zu haben. Als ich dann endlich meine Unterkunft gefunden hatte, war ich völlig entzückt über die kleine Hütte direkt am Strand. Eine Hütte direkt am Strand, mit Klimaanlage und Kochnische, nur für mich allein. Was war ich nur für ein Esel all die Jahre, noch nie so einen Urlaub gemacht zu haben. Für 60 US-Dollar pro Nacht. Unfassbar.
Tja, und da bin ich nun. Und ganz plötzlich habe ich keine Lust mehr, eine Schlaftablette zu nehmen. Gleich nach meiner Ankunft in der kleinen Hütte am Strand sitze ich nun stundenlang am Meer und beobachte die Natur aus einem Blickwinkel, den ich in meinen Urlauben verabsäumt habe. Klar bewunderte ich stets das Meer und die Tropen, aber nun ist es anders, da es mein zukünftiges Zuhause werden sollte. Kurz nach meiner Ankunft rollte auch gleich ein imposanter tropischer Regenschauer über das Meer und zieht nun über mich hinweg. Ich bewundere die Palmen. Fest verankert in scheinbar lockerem Sand drehen und wenden sich die großen biegsamen Äste der Palmen und ihre gefächerten Blätter. Während die Baumwurzel allem zu widerstehen scheint, kann man eine sanfte Biegung des Stammes wahrnehmen, die dem Druck des Sturmes ein wenig die Kraft nimmt. Und je weiter man nach oben blickt, umso flexibler und wendiger werden die dünneren Teile dieser imposanten Pflanzen.
Als ich so darüber nachdenke, erinnert es mich an meine Situation. Die Kokosnuss, die irgendwann nach Erreichen Ihrer Reife vom Baum gefallen ist. Sie wurde eventuell hunderte oder tausende Kilometer über das Meer gespült. Bis sie hier an diesem Strand liegenblieb. Das Wasser in der Kokosnuss, das Menschen so gerne trinken, musste noch ausreichend vorhanden sein, um der wachsenden Pflanze Nährstoffe zu bieten. Denn erst viele Monate später, wenn die ersten Blätter ihre Aufgabe erfüllen können, Regenwasser in das Innere der Kokosnuss zu leiten und ausreichend Wurzeln auszubilden, kann die Pflanze sich optimal durch ihre Umwelt versorgen. Am Anfang noch fragil und leicht zu beschädigen, wegzutreten oder einfach davon zu spülen. Aber mit jedem Tag, jeder Woche und jedem Monat wird die Kokosnuss immer fester verwurzelt sein und dann mit der Flexibilität ihres Aufbaus den stärksten Wirbelstürmen standhalten. Wie sehr mich das doch an mich erinnerte, in mehrfacher Hinsicht. Auch ich musste reifen, auch ich musste mich von dem Stamm lösen, um nicht zu vertrocknen. Auch ich wurde hier angespült, auch ich muss es schaffen, rechtzeitig einen sicheren Strandabschnitt zu finden, bevor die Energiespiegel meines Antriebs aufgebraucht sein werden. Auch ich muss hier meine Wurzeln bilden und einen festen Stand finden, damit man mich nicht mehr wegtreten kann. Und gleichzeitig in dieser neuen Umgebung so flexibel und wendig wie möglich bleiben.
Allein, dass ich mir jetzt diese Gedanken machen kann, zeigt mir, wie sehr ich in der bisherigen Welt der Probleme und Heraus-forderungen gefangen war. Mein Geist scheint plötzlich viel freier zu sein und ich spüre die unermesslich positive Energie in mir, die ich früher einmal hatte. Ob das ein gutes Omen für meine Zukunft ist? Auf jeden Fall fühle ich mich sauwohl und völlig unbelastet. Und es ist mir egal, ob ich müde werde, oder nicht, ganz anders als die letzten Jahre, wo ich nach dem überstandenen Tag nicht darauf warten konnte, schlafen zu gehen und nichts mehr spüren zu müssen. Auf einmal will ich alles spüren. Und leben.
Morgen treffe ich mich mit Fred, einem Auswanderer, der auf einer klitzekleinen Insel namens „Bird Island“ eine sensationelle Vermietung aufgezogen hat und die nächsten drei Jahre jeden Tag ausgebucht ist. Er wird mich mit seinem Boot zu meiner Insel bringen. Ich kann es kaum erwarten zu sehen, was ich da gekauft habe. Die Insel ist eine der größten hier im Süden des Landes und wird oftmals nur die „Range“ genannt. Eigentlich heißt sie Lark Caye, aber aufgrund ihrer Größe nennt man sie auch Lark Caye Range. In der Mitte von Lark Caye gibt es eine Lagune, auch wenn ich mir darunter noch gar nichts vorstellen kann.
Bei dem Wort Lagune in Verbindung mit der Karibik konnte ich bisher nicht anders, als mir Brooke Shields und Milla Jovovic halbnackt räkelnd in wundervoll blauen Gewässern vorzustellen. Diese Lagune dürfte anders sein, da sie entsprechend meinen Informationen innerhalb eines Mangrovenwaldes liegt. Auch unter Mangroven kann ich mir noch nicht viel vorstellen. Bäume mit vielen Wurzeln halb im Wasser. So oder so ähnlich wird es wohl aussehen. Von Milla und Brooke wird wohl nicht viel zu sehen sein. Generell weiß ich überhaupt nicht, was mich erwartet.
Was angeblich sehr schön ist, sollen die Korallen direkt vor meinem Grundstück sein. Ich habe erst einmal echte Korallen in Kuba gesehen. Damals habe ich mit meinen Kindern einen Schnorchelausflug gebucht. Wir waren in einer Gruppe von zirka einhundert Personen, die wie in einer langen Schlange durch das Wasser geschnorchelt sind. Inzwischen gehört mir ein Grundstück mit einem Korallenriff direkt davor, irgendwie unvorstellbar. Ich weiß auch nicht, wie viele Korallen dort sind, wird es schwer sein, sie zu finden? Kann man dort überhaupt hinschwimmen? Ich bin schon so gespannt. Fred kennt sich hier bereits sehr gut aus, er sollte mir das alles zeigen können. Hoffe ich zumindest. Auf Facebook habe ich ein paar Fotos von Fred gesehen. Er erinnert mich an mein Idol William Shatner, also Captain Kirk aus der Original Serie Raumschiff Enterprise. Allerdings ebenfalls bereits in seinen fortgeschrittenen Jahren. Was für ein Abenteuer, das da morgen auf mich wartet.
Typisches belizianisches Verkehrszeichen
Sonnenaufgang in Placencia