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Kapitel 1 MEIN ERSTER FLUG NACH BELIZE Tagebucheintrag 25. Oktober 2016

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Es ist so weit. Ich sitze nun tatsächlich in jenem Flugzeug von Wien über Frankfurt, Amsterdam und Atlanta mit dem finalen Ziel Belize in Mittelamerika, das mir einen Blick in mein neues Leben gewähren wird. In zehn Tagen werde ich wieder zurück nach Österreich fliegen, aber nun werde ich zum ersten Mal meinen neuen Besitz zu begutachten.

Ich habe eine Insel gekauft. Ja, eine Insel. In der Karibik. Bin ich Millionär? Nein. Ich bin chronisch verschuldet, geschieden und Vater von zwei Kindern, der trotz eines guten Managergehaltes nie weiß, wie er die nächste Ratenzahlung für seine Eigentumswohnung berappen kann. Aber ich habe eine Insel in der Karibik gekauft. Mit dem vorgestreckten Geld einer meiner besten Freunde finanziert. Zurückzahlen kann ich meinem Freund Bonelli das nur mit dem Verkauf meiner Eigentumswohnung, was in wenigen Wochen über die Bühne gehen sollte.

Einer meiner Psychiater hatte mal den Gedanken geäußert, dass ich eine bipolare Störung haben könnte, was solch verrückte Aktionen begründen würde. Aber normalerweise kauft man da einen Computer, den man sich nicht leisten kann. Oder sogar ein Auto, oder Kokain. Aber sicher keine Insel in der Karibik. Ich hatte den Kauf mit Bonelli genau besprochen und das nicht nur, weil er mein Freund ist, sondern auch einer der besten Mediziner Österreichs. Er war der Möglichkeit einer bipolaren Störung in meinem Oberstübchen nie ganz abgeneigt, aber wir kannten auch die Gründe, warum ich die letzten Jahre zwischen halbwegs normalem Funktionieren und abgrundtiefer Dunkelheit hin- und herpendelte. Auch wenn ich Jahre brauchte, diese zu verstehen und zu analysieren. Und immer noch dabei bin, alles zu verarbeiten, was mich bis zu diesem Punkt in meinem Leben brachte. Momentan gehen mir aber andere Dinge durch den Kopf.

Meine Gedanken rasen um meine Kinder. Seit die beiden auf der Welt sind habe ich keine Flugreise mehr ohne sie gemacht. Außer Dienstreisen. Jede Sekunde mit meinen beiden Schätzen ist eine wundervolle Zeit und ein Geschenk. Wenn auch ein hart erkämpftes und mit weit mehr als nur Geld teuer bezahltes. Und nun fliege ich ohne sie und versuche mich abzulenken: „Findet Dorie“ gibt es auf meiner Unterhaltungskonsole von KLM zum Auswählen und „Star Trek Beyond“. Ich sehe mir die Filme an und beides lässt mich dann unter völligem Verfehlen des Zieles der Ablenkung sofort wieder über meine Kids nachdenken. Immer wieder muss ich mit den Tränen kämpfen, das nächste Mal „in echt“ weg zu sein. Ohne Rückkehr, maximal kurze Besuche der Kinder bei mir oder ich bei ihnen. „Findet Nemo“ hat unsere Familie, als die Kinder noch klein waren, bis zum Versagen der Bits und Bytes des Speichermediums angesehen. Natürlich immer ohne den Tod von Nemos Mama ganz zu Beginn. So wie meine Mutter den Tod von Bambis Mama immer weggelassen hat. Auch mit der Star Trek-Philosophie habe ich meine Kinder infiziert. Der Traum einer Welt, wo Wissen und persönliche Entwicklung wertvoller als Geld sind. Echte Fairness und Gleichberechtigung keine Religionen benötigen und globale Habgier nur auf einem Ferengi-Planeten geduldet werden. So viel wollte ich meinen Kindern noch mitgeben, sie sind ja erst am Anfang ihrer Reise. So wie ich am Anfang meiner Reise in eine neue Zukunft bin, wo ich alles neu lernen muss.

Mit all meinen menschlichen Fehlern habe ich stets versucht, meinen Kindern die Welt, trotz oder gerade aufgrund unserer intensiven gemeinsamen Erlebnisse, weiterhin als ein Abenteuer zu beschreiben. Als etwas, das erforscht und enträtselt werden muss. Ich wollte sie dafür begeistern, ihr Leben als ständige Entdeckungsreise zu genießen, wo jeder Moment eine neue Erkenntnis bringt. Und so wie ich versucht habe, meinen Kindern auf der Suche nach Entdeckungen behilflich zu sein, haben sie durch ihre vielen Fragen meine Neugier auf Unbekanntes entfacht. Kinder lassen einen mit ihren oberflächlich betrachtet einfachen Fragen schnell erkennen, wie wenig man eigentlich über die einfachsten Dinge unserer Welt weiß. Dank Internet habe ich einerseits ständig dazugelernt, anderseits auch meinen Kindern gezeigt, wie sie selbst Antworten auf Fragen finden können. Jede Sekunde ihrer Kindheit wurde für mich zu einem Lern-Abenteuer, es war wundervoll.

Ach Du meine Güte, es tut so weh. Sehr schnell kämpft mein Gehirn wieder mit der Bürde, ob das die richtige Entscheidung war und ist, und ob ich mit diesem radikalen Schritt leben werde können. Ich weiß es nicht. Die Familie war alles für mich, alles wurde dem Glück meiner Familie untergeordnet. Nicht als Opfer oder als Märtyrer, sondern weil es das Schönste für mich war, ein Teil dieses Geschenks des Universums sein zu dürfen. Und dann bin ich doch glatt an dem Punkt angekommen, alles für einen Felsen im Meer, den ich noch nicht einmal gesehen habe, aufzugeben. Ich werde keine Krankenversicherung mehr haben, keine Altersvorsorge, einfach nichts. Mein jüngster Sohn Kimi ist erst dreizehn Jahre alt. Er hätte mich definitiv noch viel länger gebraucht. Aber es ging nicht mehr, es war zu viel für mich. Ich hatte alles probiert und konnte trotz all meiner jahrelangen und umfangreichen Bemühungen die Spielregeln nicht ändern.

Ich wollte nicht länger versuchen, in den Tunneln meiner Trübseligkeiten, Suizidgedanken und Burn Outs, Licht tief unter Tage zu finden. Oder mit Hilfe der kleinen Pillen eine diesige, nebelig-trübe Taschenlampe zu betreiben, um ständig weiter ohne Chance auf Erfolg einen Ausgang zu finden. Nein, ich habe mich dazu entschlossen, ein Loch in die Höhle zu sprengen und das Spielfeld zu verlassen. Wenn dich die Spielregeln von vornherein dazu verdammen, verlieren zu müssen, in die falsche Richtung zu graben und es gar keinen Ausgang gibt, dann musst du irgendwann ein neues Spiel beginnen. Selbst wenn die Partner in deinem Team die wertvollsten Menschen für dich sind und du für sie verantwortlich bist. So oder so wärst du bald nicht mehr da, weil du ewig tief unter Tage in einem Tunnel-Labyrinth herumirrst, bis deine Zeit abgelaufen ist. Und du aus dem Spiel gelöscht wirst. Also besser ein neues Spiel beginnen, als einfach gelöscht zu werden. Und zu hoffen, dass deine Team-Mitglieder es irgendwann verstehen.

Dennoch bin ich gespannt, ob mir die nächsten zehn Tage mehr Gewissheit oder oder doch mehr Unruhe in Bezug auf die Kinder bringen werden. Jedenfalls freue ich mich jetzt schon unermesslich darauf, sie nach meiner Rückkehr wieder in die Arme nehmen zu können. Und ich weiß überhaupt noch nicht, was mich in Belize erwarten wird. Ich war viele Male in der Dominikanischen Republik, danach mit meinen Kindern auch in Kuba auf Urlaub, aber das war es dann auch schon mit meinen Karibik-Kenntnissen. Und es war immer der typische abgeschottete Allinclusive Urlaub. Ich habe absolut keine Ahnung vom echten Leben in einem karibischen Land.

Wobei, ganz so stimmt das auch nicht. Seit Monaten folge ich auf Facebook den Menschen in Belize. Allen erdenklichen Gruppen, Einkaufs-Seiten, Verbrechens-Seiten, Bildungs-Seiten, Öko-Seiten. Ich wollte die Belizianer kennenlernen und ein Gefühl für das Leben in diesem kleinen karibischen Staat bekommen. In Bezug auf ganz banale Dinge, wie den besten Mobilfunkanbieter zu finden. Bis hin zu Leuten, die wissen, wie man auf einer Insel bauen kann. Auch auf überraschende bis beängstigende Lebensumstände bin ich gestoßen. Ein Facebook-User suchte verzweifelt nach jemandem, der eine Leiche abholen kann, denn „jetzt nach zwei Tagen riecht es echt schon übel bei mir Zuhause“. Oder jemand, der via Facebook anhand eines Röntgenbildes auf der Suche nach einer chirurgischen Schiene war. In der Abmessung so lange wie ein ganzer Unterschenkel und auf dem Röntgenbild mit zwanzig chirurgischen Schrauben implantiert: „Mein Arzt hat gesagt, wir benötigen so etwas, hat jemand eine gebrauchte Schiene, die ihm wieder herausoperiert wurde oder vielleicht von einem Toten?“. Facebook scheint in Belize alles zu sein. Von E-Bay über Amazon bis hin zur Rettung, Polizei und dem Leichenbestatter. Alles wird über Facebook abgewickelt.

Weniger spannend als gedacht, haben sich die Gruppen von Auswanderern, den sogenannten Expats, herausgestellt. Eines wurde mir sehr schnell klar. Es gibt viele US-Amerikaner in Belize. Sehr viele. Und die ticken ganz anders als wir Europäer. Wenn sie sich darüber beklagen, dass sie keine Einkaufs-Malls haben, keine McDonalds und keine Kinos, muss ich immer wieder schmunzeln und denke mir, warum zur Hölle seid Ihr eigentlich ausgewandert? Und ich hege bereits jetzt den Verdacht, dass die eventuell nicht ganz so gut auf ihr Auswandern vorbereitet waren, wie ich. Obwohl ich noch keinen Fuß auf belizianischen Boden gesetzt habe.

Denn mir ist ganz klar, worauf ich mich einlasse. Belize ist ein Entwicklungsland mit nur 350.000 Einwohnern. Englischsprachig. Und Belize ist keine Insel, wenngleich es am karibischen Meer liegt. Es beherbergt das zweitgrößte Barriere-Riff der Welt, sowie unzählige kleine Inseln, die wie Regentropfen im Sand erscheinen. Die sogenannten Cayes, in Belize ausgesprochen wie Schlüssel auf Englisch, also „keys“. Und eine dieser Inseln habe ich gekauft. Oder besser gesagt, einen Teil davon. Einen Felsen mit Mangroven. Dafür habe ich alles in Österreich aufgegeben. Aber ich habe mir etwas vorgenommen. Wenn ich schon die Vergangenheit hinter mir lasse, so möchte ich meine neue Zukunft so detailliert wie möglich festhalten. Und gleichzeitig mit dem Tagebuch der Gegenwart eine Erinnerung an die Vergangenheit anfertigen. Ich möchte damit festhalten, wer ich war, was aus mir wurde, wie ich mich verändert habe und warum ich diese verrückte Reise in eine ungewisse Zukunft angetreten habe.

In meinen vielen Management-Seminaren durfte ich immer wieder hören, wie schwierig es sei, die „Komfort-Zone“ zu verlassen. Dies war meist ein Schwerpunkt, wenn es um Umstrukturierungen im Konzern ging. Oder Mitarbeiter-Kündigungen anstanden. Die Komfortzone war dort der eigene Arbeitsplatz, die gewohnte Kaffee-Tasse und die Arbeitsschritte, die man seit Jahren in immer gleicher Weise vornahm. Das Zuhause zurückzulassen, die Familie, seine Freunde, seine Kinder. Das ist wohl etwas mehr, als nur die Komfortzone zu verlassen. Dies entspricht einem Level über der Panik-Zone. Mein Ziel ist es jedoch, keinen Stress mehr zu haben und endlich wieder glücklich zu werden. Also pfeif ich besser auf die Management-Seminare, sonst müsste ich sofort wieder zurückfliegen.

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