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Kapitel 7 EIN MEER VON TRÄNEN Tagebucheintrag 3. Januar 2017

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Wieder sitze ich im Flugzeug, wieder geht es nach Belize. Diesmal für immer. So richtig bewusst wurde mir das erst jetzt. Ich habe keinen einzigen Schlüssel mehr. Keinen Autoschlüssel, da ich kein Auto mehr besitze. Keinen Wohnungsschlüssel, da es kein Zuhause mehr gibt und ich den Schlüssel zu meinem bisherigen Heim wenige Stunden zuvor an den neuen Besitzer übergeben habe. Es befindet sich auch kein Büroschlüssel mehr in meiner Tasche, da ich keine Arbeit mehr habe, kein Fahrradschlüssel. Nicht mal die kleinen blöden Schlüssel am Schlüsselbund, die man mal vor Jahren an den Schlüsselring gesteckt hat, und nun nicht mehr weiß, wozu sie eigentlich gut waren.

Ich habe nichts mehr. Ich besitze nichts mehr. Alles, was ich habe, sind zwei Koffer, die das Wichtigste aus zweiundvierzig Jahren Lebenszeit beinhalten. Sowie zwanzigtausend US-Dollar Bargeld für den Baubeginn. Und einen Felsen im Meer. Einiges habe ich meiner Mutter zum Aufbewahren gegeben, darunter auch sämtliche Originaldokumente, wie Geburtsurkunden und Ähnlichem. Mitgenommen habe ich nur Kopien. Kleidung benötige ich nicht mehr viel. Daher habe ich nur ein paar T-Shirts mitgenommen, zwei Shorts, zwei Badehosen, ein Paar Socken, Unterwäsche und das Paar Schuhe, das ich für den Flug trage. Das war es. Der Rest war technischer Kram, da ich bereits wusste, vieles in Belize nicht bekommen zu können. Meine Drohne hatte ich letztes Mal bereits in meinem Gepäck dabei und bei einer Bekanntschaft aus Facebook in Belize zur Aufbewahrung hinterlassen. Das war ein enorm wichtiger Planungsschritt, denn jetzt benötigte ich in meinen beiden Koffern jeden Kubikmillimeter Platz für all den anderen Technikkram.

Aber mir machen emotional ganz andere Dinge zu schaffen. Immer wieder verstecke ich meinen Kopf unter der Gratis-Flugzeug-Decke. Möglichst unauffällig, damit niemand mitbekommt, wenn ich weine. Ich kann es einfach nicht fassen, von meinen beiden Schätzen, meinen Söhnen, zehntausend Kilometer davon zu fliegen. Ich liebe sie über alles, sie waren mein Lebenselixier und ich hatte vor, alles für sie zu machen, um sie glücklich zu sehen. Die Schmerzen, meine Kinder nun im Stich zu lassen, sind unermesslich. Die Begeisterung vom ersten Belize-Besuch konnte ich sehr gut mit nach Österreich tragen, bald waren aber auch die Schmerzen über den kommenden Verlust meiner Kinder ebenso dominant. Und so kommen die letzten Minuten unseres gemeinsamen Lebens immer wieder hoch.

Als ich von meiner ersten Belize-Reise nach Österreich zurückgekehrt war, versuchte ich die verbleibende gemeinsame Zeit mit den Kindern ohne zu viel Fokus auf den Abschied zu genießen. Wir verbrachten viele Tage in der Weihnachtszeit zusammen, aber die dunkle Wolke des Abschieds hing stets über uns. Wir spielten auf der X-Box Fußball, fuhren mit unseren Force-Feedback-Lenkrädern um die Rennstrecken der Welt, und obwohl meine Jungs nun schon zwölf und vierzehn Jahre alt waren, wurde etwas mehr gekuschelt, als sonst. Ich kann dies gerade kaum niederschreiben, so weh tut es. Dann kam er. Der letzte Tag. Die letzte Stunde. Die letzten Minuten, bevor ihre Mutter sie abholen würde. Bis das Signal da war, das Handy-Läuten der Mutter zum finalen Good-Bye. Mein Herzschlag zerriss mir den Körper. Unser vierzehnjähriger Sohn Yannick verabschiedete sich recht schnell. Wir drückten uns und er huschte umgehend durch die Wohnungstüre. Mit meinem zwölfjährigen Sohn Kimi war es viel intensiver, und ich kann kaum die richtigen Worte für all diese Emotionen finden. Wir drückten uns, hielten uns gefühlte Minuten lang lieb, weinten und schluchzten. Kimi war immer schon der Sensiblere und ich wusste, wie ich ihm möglicherweise einen unverzeihlichen Schaden für das ganze Leben und einen unbeschreiblichen Verlust hinterlassen würde. Niemals im Leben dachte ich, jemals zu so etwas fähig sein zu können. Nun ließ ich meine beiden Kinder im Stich und verließ sie. Das Wichtigste in meinem Herzen, den Sinn meines Lebens.

Kimi drehte sich noch einmal um, bevor er ein letztes Mal aus der Haustüre schritt, jener Türe, die für so viele Jahre genau das Gegenteil von Schmerz bedeuteten. Wann immer er durch diese Türe kam, fiel ihm augenscheinlich eine riesengroße Last von den Schultern und er begann vor Entspannung zu schweben. Meist zog er sich als erstes das T-Shirt aus, wechselte in eine Schlabberkleidung und begann von der ersten Sekunde unseres Zusammenseins ohne jeglichen Stress und ohne Konflikte, die Zeit bei mir zu genießen. Es waren wundervolle Zeiten, das Schönste, was sich ein Papa wünschen kann. Und nun ging er. Denn ich ging.

Seit diesem Zeitpunkt konnte ich eigentlich kaum mehr aufhören, zu weinen. Auch jetzt noch im Flugzeug. Natürlich habe ich tausend Gedanken bezüglich meiner Insel im Kopf, aber der Schmerz über den Verlust meiner Kinder überlagert einfach alles. Tausende Male bin ich im Kopf durchgegangen, was es bedeuten würde, wenn ich gehen würde. Tausende Male habe ich alles abgewogen, den Schaden für mich und den Schaden für die Kinder. Tausende Male habe ich auf unterschiedlichsten Wegen versucht, mein Spielfeld zu beeinflussen. Bis ich schließlich aufgegeben habe. Was musste alles nur passieren, dass es so weit kam? Immer wieder habe ich mir die Faktoren über die letzten Monate vor Augen geführt, immer wieder alles analysiert. Letztendlich bin ich zu dem Schluss gekommen, es würde einfach keinen anderen Ausweg mehr geben. Zumindest keinen, in dem ich überleben durfte.

Der Flug ist lange genug, um sich zusätzlich auch noch die Sorgen über das neue Leben zu machen. Hat Rodrigo alle Genehmigungen bekommen? Wenn nicht, bin ich im Arsch, denn meine finanziellen Mittel sind so kalkuliert, nach wenigen Monaten ein fertiges Haus auf der Insel stehen zu haben und mit der Vermietung zu beginnen. Wenn es auch nur wenige Wochen Verzögerung gibt, geht sich das Geld bei den hohen Lebenskosten in Placencia nicht aus und das Projekt ist zu Ende, bevor es begonnen hat. Finde ich möglichst schnell ein günstiges Auto, das nicht sofort zusammenbricht? Belize ist ein Entwicklungsland, das darf man nicht vergessen. Wie wird das mit meinem Boot? Fred hatte mir versprochen, dass ich ihm ein altes Boot abkaufen kann, ich hoffe, das funktioniert. Wo finde ich Arbeiter? Bekomme ich meine Kapitänslizenz?

Es gibt so viele offene Fragen, dennoch lasse ich mich auf dieses größte Abenteuer meines Lebens ein. In der Hoffnung, wieder gesund leben zu können. Hoffentlich keine Tabletten mehr, die mir Antrieb schenken müssen und mich schlafen lassen. Es heißt, Du kannst nicht einfach durch das Auswandern Deine Probleme loswerden, aber ich glaube, bei mir sieht es anderes aus. Mein Bauchgefühl sagt mir, dies wird funktionieren. Genau beschreiben kann ich nicht, warum ich das denke. In meinem Fall scheint großer geografischer Abstand die einzige Lösung zu sein. Und dann diese andere Form von Leben. Gesünder, mehr Licht, Sonne und Meer. Nicht mehr das halbe Jahr krank zu sein, all das erhoffe ich mir. Und schlafen können, wenn ich müde bin. Wer kennt das nicht, bereits morgens todmüde aufzuwachen, und sich irgendwie über den Tag zu hanteln. Das kann einfach nicht genug sein, wie wir in unseren Tretmühlen gefangen sind. Immer bis zum Umfallen zu arbeiten, um dann mit seinem Verdienst unnötige Sachen zu kaufen, die einen angeblich glücklich machen. Aber meine Gründe gehen ja viel tiefer, sie liegen in meiner Vergangenheit begraben und ich sehe einfach keinen anderen Weg, diesen permanenten Belastungen zu entkommen.

Die Hoffnungen, die ich habe, würden andere vermutlich als Hirngespinste und Träumerei abtun. Wer kauft schon eine Insel in der Karibik und glaubt ernsthaft, dort überleben zu können und seinen Depressionen entfliehen zu können? Ich. Ich bin mir sicher, es wird klappen. Auch wenn ich es nicht garantieren kann.


Mein Leben in zwei Koffern

Mein Leben von vorne

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