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KAPITEL 9: PERSONALITY CRISIS

Penny Arcade: Meine Eltern dachten, ich wäre ein Kind des Teufels. Als ich ungefähr siebzehn war, bin ich von zuhause abgehauen. Meine Mutter hatte Anzeige gegen mich erstattet, und ich habe in meiner Heimatstadt New Britain, Connecticut, eine Nacht im Knast verbracht. Meine Mutter kam am nächsten Morgen und hat mich aus dem Knast abgeholt, und als ich mit meiner Mutter nachhause gelaufen bin, bin ich einfach immer weitergelaufen. Nachdem ich nach Provincetown und Boston gegangen bin, bin ich schließlich im East Vil­lage hängen geblieben.

Das war in der Ära der sich verlagernden Fixertreffs, in denen man vorü­bergehend pennen konnte. Die Junkiekultur erstreckte sich damals vom Chel­sea Hotel bis zum Hotel Earle und vom Henry Hudson bis zum Seville. Irgend­jemand ging in ein Hotel, mietete eine Suite, und dann sind fünfzehn Leute dort eingezogen. Ständig versuchte irgendjemand, dich zu vögeln, dabei war ich damals nur ein Kind, das einen Platz zum Pennen gesucht hat.

Also begann ich in dieser Pizzeria an der Ecke Siebte Straße und Zweite Avenue rumzuhängen, wo ich diese Speedfreaks kennen lernte und auch der „A­Clique“ vorgestellt wurde, was die Abkürzung für „Amphetamin­Clique“ war. Das war eine ziemlich wilde Szene, keine Hippies, sondern ein Haufen kri­mineller, homosexueller, Drogen konsumierender, nach Spiritualität suchender künstlerischer Männer. Alles ziemliche Spinner. Trickbetrüger, Fassadenklet­terer. Legendäre Charaktere, die über Jahre ihr Ding durchgezogen haben. Und es sah so aus, als sei ich der Neuzugang in dieser langen Geschichte.

Brooklyn­Frankie, Short­Haired Sammy und Black Frank waren die A­Cli­que­Mitglieder mit Straßenniveau. Dann gab es da noch die höheren Ränge, Leute wie Ruby Lynn Rainer, den legendären Amphetamindealer Ondine, Vel­vet Underground und all die anderen Leute aus Andy Warhols Factory. Damals vermischte sich die Welt der Kunst mit der Welt der Drogen.

Zuerst habe ich nur mit der A­Clique rumgehangen, ohne Speed zu sprit­zen, weil ich ohnehin mühelos drei Tage ohne Schlaf auskommen konnte, aber nach einigen Monaten wollten sie, dass ich genauso high werde wie sie. Also fing ich an, Speed zu spritzen. Ich fand es wunderbar. Das war meine Droge. Ich kam ganz gut damit klar und mochte die Leute, die Speed nahmen.

Dann gab mir eines Tages, als ich mich in einem Coffeeshop in der Green­wich Avenue ein wenig runterbringen wollte, jemand einen Zettel, auf dem stand: „An das Mädchen im grünen Kleid. Wann hast du Feierabend?“ Ich schaute mir den Zettel an und fragte mich: „Was soll das denn?“ Der Zettel kam von Jackie Curtis, der an einem anderen Tisch saß und eine Einkaufstüte mit seinen Thea­terstücken und Zeitungsausschnitten und Gott weiß was noch dabeihatte.

Jackie kam an meinen Tisch, weil er mich kennen lernen wollte. Wir wur­den sofort Freunde und hingen den Rest des Tages gemeinsam rum. Er war damals noch ein Junge; er zog sich immer noch an wie ein Junge, und er nahm auch gern Speed, aber er spritzte es nicht. Er nahm nur Pillen. Ab da verbrachte ich viel Zeit mit Jackie, und kurze Zeit später entdeckte ich John Vaccaros Play­house of the Ridiculous Theater.

Leee Childers: Dieses skandalöse Undergroundtheater, das John Vaccaro, Char­les Ludlam und Tony Ingrassia in den Sechziger­und Siebzigerjahren betrieben, wurde als Merkwürdiges Theater bekannt, was eine ähnliche Bezeichnung war wie Absurdes Theater.JohnVaccaro und Charles Ludlam dachten beide,dass The Play­house of the Theater of the Ridiculous ihr Markenzeichen sei,aber es war zu einem Genre geworden, zu einer Theatergattung – zum Merkwürdigen Theater.

Meiner Meinung nach war John Vaccaro allerdings wichtiger als Charles Ludlam, denn Ludlam orientierte sich am traditionellen Theater und setzte oft Männer in Frauenkleidern ein. Die Leute fühlten sich sehr wohl bei ihm. Jeder, der sich ein Theaterstück von Charles ansehen wollte, ging in der Absicht dahin, sich eine wirklich lustige, respektlose Slapstick­Transvestitenshow anzuschauen. Man fühlte sich nie peinlich berührt.

Bei John Vaccaro hingegen taten sich Abgründe auf.Sehr,sehr tiefe Abgründe. John Vaccaro war gefährlich. Er konnte auf den unterschiedlichsten Ebenen extrem peinlich sein. In seinen Stücken kamen Contergan­Babys vor und sia­mesische Drillinge, die am Arschloch zusammengewachsen waren. Ein Schau­spieler hatte einen Riesenpimmel aus Pappmaché aus dem Hosenschlitz hän­gen, der ihm bis an die Knie ging. Außerdem hatte er seine Verdauung nicht im Griff, und ihm lief ständig die Scheiße an seinen Beinen hinunter. Die Zuschauer liebten das. Die Leute liebten diese Art Theater der visuellen Kon­frontation. Und John Vaccaro benutzte tonnenweise Glitzerzeug. Das war sein Markenzeichen. Jeder trug dieses Glitzerzeug. Sein ganzes Ensemble war stän­dig mit diesem Glitzerzeug überzogen.

Die Leute haben lange Zeit dieses Glitzerzeug getragen, und die Transves­titen trugen es auf der Straße, aber ich glaube, dass dieses Glitzerzeug erst dann richtig in Mode kam, als John Vaccaro auf einem Einkaufsbummel diesen klei­nen Laden in Chinatown entdeckte, der all sein Glitzerzeug ausverkaufte. Er kaufte alles auf – gigantische Einkaufstüten voll von diesem Glitzerzeug in allen möglichen Farben.

John schleppte die Tüten ins Theater und ermunterte jeden, davon so viel wie möglich und ganz egal wo zu benutzen. Natürlich waren ihre Gesichter mit diesem Glitzerkram zugekleistert und die Haare auch. Die Schauspieler, die im Rentier vom Mond mitspielten, hatten ihre Körper von oben bis unten mit grü­nem Glitzerzeug angemalt. Bei Baby Betty, die ein Contergan­Baby spielte, kam das Glitzerzeug sogar aus der Möse raus – es ist also John Vaccaro zuzuschrei­ben, dass dieses Glitzerzeug zu einem Synonym für Peinlichkeit wurde.

Die ganze Bühne war mit dieser Glitzerkacke bedeckt. Das lag natürlich vor allem daran, dass die mit diesem Glitzerkram beschmierten Schauspieler stän­dig in Bewegung waren und tanzten und einander anrempelten und von irgendwelchen Sachen runtersprangen, sodass das Zeug überall in der Gegend rumflog. Die gesamte Atmosphäre auf der Bühne war ständig mit kleinen flie­genden Glitzerpartikeln erfüllt, was durch die Bühnenbeleuchtung sehr gut zur Geltung kam.

John Vaccaro: Ich habe nie an so etwas wie eine „Glitzerbewegung“ gedacht. Ich hatte dieses Glitzerzeug bei meinen Theateraufführungen bereits seit Mitte der Fünfzigerjahre benutzt. Aber im Grunde war ich nie an Manieriertheiten interessiert. Ich war auch nie daran interessiert, Homosexualität salonfähig zu machen. Meine Empfindungen haben mit Manieriertheit nicht das Geringste zu tun. Es gab zwei Kategorien: die Homosexuellen und die Theaterleute. Einige von diesen Homosexuellen machten etwas, das sie für Theater hielten – warum sollte man nicht in einen Nachtclub gehen und einen Travestieakt wie Ein Käfig voller Narren aufführen? Genau das war es. Aber es war kein Theater. Das hatte mit Theater überhaupt nichts zu tun.

Der Höhepunkt des Theaters ist schon immer der gegen sich selbst gerichtete Mensch gewesen: Hamlet, König Lear, Willie Loman, Blanche DuBois. Und ich habe immer gedacht, der Höhepunkt des Theaters sei die Welt gegen sich selbst. Scheiß auf den„Menschen“. Ich habe mit dem„Menschen“ nichts mehr am Hut. Ich bin viel eher an der Welt interessiert. Nichtsdestotrotz gab es zwei Kategorien. Meine Kategorie hatte einen sozialen Inhalt, die andere hingegen nicht.

Das Glitzerzeug habe ich als eine Möglichkeit der Präsentation eingesetzt. Es stand synonym für die Kitschigkeit Amerikas, so habe ich es zumindest inter­pretiert. Und ich fand es hübsch. Dieses Glitzerzeug war Make­up. Ich habe es benutzt, weil es Amerika in amerikanischen Gesichtern reflektieren sollte. Es sollte die Protzigkeit des Times Square symbolisieren. Denn was bleibt vom Times Square übrig, wenn man dort alle Lichter ausschaltet? Nichts.

Leee Childers: Während der Proben zu Heaven Grand in Amber Orbit, einem Theaterstück, das Jackie Curtis geschrieben und in dem sie auch die Hauptrolle gespielt und bei dem John Vaccaro Regie geführt hat, geriet alles ein wenig außer Kontrolle. Es war äußerst schwierig, mit John Vaccaro zusammenzuarbeiten, weil er das Element Wut dazu benutzt hat, aus seinen Schauspielern das raus­zuholen, was aus ihnen rauszuholen war. Und Jackie war nun mal ein Speed­freak und extrem paranoid und immer sehr vorwurfsvoll – schon die kleinste Unstimmigkeit brachte sie total in Rage. Deshalb stritten sie und John Vaccaro ununterbrochen. Einmal hat er sogar all ihre Kleider in Fetzen gerissen und mit ihren Schuhen nach ihr geworfen. Und dann hat er sie gefeuert und die Treppe runtergestoßen. Er war berüchtigt für so etwas. Und dann hat Ruby Lynn Rai­ner die Hauptrolle übernommen.

Ein paar Tage nach dieser Auseinandersetzung stand Jackie Curtis vor mei­ner Tür und sagte, dass es zwischen ihr und John Vaccaro zum endgültigen Bruch gekommen und sie aus dem Stück ausgestiegen sei. Jetzt wollte sie, dass jeder in New York dachte, sie hätte Selbstmord begangen. Also wollte sie in mei­ner Wohnung bleiben, weil niemand auf die Idee kommen würde, dass sie sich bei mir aufhalten könnte, und somit davon ausginge, dass sie sich das Leben genommen hätte.

Ich fand die Idee fabelhaft. Ich liebte sie geradezu. Ich sagte zu ihr: „Komm rein!“ Am nächsten Tag stand Holly Woodlawn vor der Tür und war von Kopf bis Fuß in schwarzen Samt gehüllt und hatte schwarze Straußenfedern im Haar und meinte: „Ich bin in Trauer.“ Dann zog auch Holly bei mir ein.

John Vaccaro: Jackie Curtis war die untalentierteste Person, mit der ich je zusammengearbeitet habe. Jackie Curtis war ein Transvestit, der immer und überall seine Zeitungsausschnitte über sich in einer Einkaufstüte mit sich rum­schleppte. Das machten Leute wie er einfach – sie schleppten ihre Zeitungs­ausschnitte mit sich herum. Das gab ihnen angeblich Halt. Sie konnten nicht existieren, wenn sie dieses Zeug nicht mit sich rumschleppten.

Ich habe eines von Jackies Theaterstücken auf die Bühne gebracht, aber ich habe es nicht so inszeniert, wie Jackie es geschrieben hat. Jackie hat ein homo­sexuelles Theaterstück über eine Cafeteria in der Zweiundvierzigsten Straße und einen Kassierer namens Heaven Grand in Amber Orbit geschrieben. Das war der Name des Hauptdarstellers. Jackie hat für das Stück Namen benutzt, die sie auf Wettscheinen für Pferderennen entdeckt hatte.

Ich habe den Schauplatz des Stücks in die Zirkuswelt verlegt. Bei mir tra­ten siamesische Drillinge auf. Ich habe daraus ein Musical und eine Nebenauf­führung gemacht – das Stück handelte von den Problemen der Welt und davon, dass es keine Kriege geben würde, wenn sich die Machthaber endlich einmal richtig ausscheißen würden. Während des gesamten Stücks saß eine Frau auf dem Klo und sprach den von ihrer Verstopfung diktierten Text. Ein anderer Schauspieler hatte einen Toilettenstampfer am Arschloch befestigt – all das kam in Jackie Curtis’ Stück ursprünglich gar nicht vor.

Leee Childers: Ich weiß nicht, ob irgendjemand tatsächlich dachte, dass Jackie Selbstmord begangen hatte, oder ob irgendjemand in New York wirklich wusste, wie die Dinge standen, aber für mich war es die fabelhafteste Lüge überhaupt. Es ging ungefähr sechs Wochen lang gut. Die totale Farce. Ein Event. Holly Wood­lawn kam in einem fantastischen Traueroutfit in das Hinterzimmer von Max’s Kansas City, mit Schleier und allem, was dazugehört, und trauerte um Jackie.Wir gingen alle immer noch jeden Abend ins Max’s, und jeder fragte jeden, ob er irgendetwas Neues von Jackie gehört habe. Und alle antworteten: „Nein.“

In der Zwischenzeit hatten wir Plastiktüten mit Lebensmitteln gefüllt und brachten sie Jackie. Und wenn Jackie und Holly zusammen in einer Wohnung leben, dauert es nicht lange, dass auch Candy Darling aufkreuzt. Am Ende leb­ten Jackie, Holly, Rio Grande, Rita Red, Johnny Patten, Wayne County und ich zusammen in meinem Einzimmerapartment in der Lower East Side.

Meiner Meinung nach waren Jackie Curtis und Holly Woodlawn und all die anderen die glamourösesten Menschen, die mir je begegnet sind. Das waren nicht bloß Transvestiten. Sie waren auch nicht verrückt. Das waren einfach nur Leute, die rund um die Uhr in Frauenkleidern und Omaschuhen durch die Gegend liefen. Jackie wusch sich nie und stank zehn Kilometer gegen den Wind. Holly war der totale Speedfreak, und es war ihr scheißegal, ob man von ihr wusste, ob sie ein Mann oder eine Frau oder ein Marsmensch war.

Mein Herd war im Nu vom Enthaarungswachs versaut, weil sie sich stän­dig ihre Gesichter mit diesem Zeug eingeschmiert haben. Damals entfernte man sich seinen Bart noch mit Enthaarungswachs. Was dabei herauskam, war aller­dings kein sehr femininer Look.

Man nahm heißes, geschmolzenes Wachs und klatschte sich das Zeug ins Gesicht, ließ es trocknen, und hinterher riss man sich das Zeug vom Gesicht. Dadurch wurde der Bart an den Wurzeln herausgerissen, mit dem Resultat, dass das Gesicht rot und total geschwollen und aufgedunsen und hässlich war. Dann schmierten sie sich dieses billige Make­up von Woolworth ins Gesicht. Etwas anderes konnten sie sich nicht leisten. Mit diesem orangestichigen Make­up von Woolworth haben sie sich ihre roten Gesichter zugekleistert und sind so auf die Straße gegangen! Es kam keiner auf die Idee, zu denken, dass sie Frauen wären, aber es dachte auch keiner, dass sie Männer wären! Es wusste keiner so genau, was sie waren! Und dann trugen sie ständig diese Altweiberklamotten. Als in der Wohnung neben mir eine alte Frau gestorben war, ist Jackie über den Fens­tersims in ihre Wohnung eingestiegen und hat ihre gesamte Garderobe geklaut. Diese Klamotten hat sie dann getragen. Die Klamotten von der toten alten Frau!

Holly zog immer einfach irgendwas an. Manchmal hat sie sich nur in ein Bettlaken gehüllt. Und irgendwann bekam Holly dann auch ziemlichen Stress mit der Wohlfahrtsbehörde. Sie lebte von der Wohlfahrt. Alle lebten von der Wohlfahrt. Sie trug Straußenfedern und falsche Wimpern, und in diesem Auf­zug ist sie dann in das Büro der Wohlfahrtsbehörde gegangen, um sich ihren Scheck abzuholen. Eines Tages wurde sie in ein Büro geführt, und dort sagte man ihr: „Sir, Sie befinden sich hier in der Wohlfahrtsbehörde, und Sie kom­men in Abendrobe und Straußenfedern. Die anderen Wohlfahrtsempfänger sind äußerst ungehalten über Ihre Aufmachung.“

Holly antwortete nur: „Dann besorgen Sie mir doch Jeans. Ich würde sie schon anziehen. Und ansonsten gebe ich mein Geld aus, wie es mir passt, und ich gebe es nun mal gern für Straußenfedern aus.“

Penny Arcade: Beim Playhouse of the Ridiculous Theater konnte jeder mit ­machen. Die Schauspieler kamen alle von der Straße. Homosexuelle, Hetero­sexuelle, Lesben – das war völlig egal, es kümmerte niemanden. Es waren alles Außenseiter. John Vaccaro wollte mich ebenfalls engagieren, aber ich habe abgelehnt.

Aber dann haben sie mich doch rumgekriegt, so, wie mich immer alle rum­kriegen. Irgendjemand sagte zu mir: „John Vaccaro hat eben angerufen, und er braucht dringend jemanden, der ihm hilft.“ So bin ich nun mal. Wenn jemand Hilfe braucht, bin ich sofort zur Stelle. Mein Job war es, die Kostüme von Elsie Sorrentino zu halten, das war eine der Schauspielerinnen, die als Vorlage für die Figur Tralala in Hubert Selby Jrs. Letzte Ausfahrt Brooklyn gedient hat. Dann kam John Vaccaro eines Abends auf mich zu, nahm mir die Kostüme aus der Hand, schubste mich buchstäblich auf die Bühne und sagte: „GEH JETZT DA RAUS UND MACH IRGENDWAS!“

Leee Childers: John Vaccaro war berüchtigt für seine Gewaltausbrüche, seinen Größenwahn – und dafür, dass er anderen Gegenstände und Obszönitäten an den Kopf warf und all diese Teenager in seiner Theaterkompagnie demütigte, die alle schon auf Speed waren und immer bei irgendjemandem auf dem Fuß­boden schliefen und nicht einmal das Geld hatten, sich bei McDonald’s einen Hamburger zu kaufen. Er machte ihnen Angst, und ich glaube, das machte wie­derum ihm Angst, und das war wohl auch der Grund, weshalb er es manch­mal so extrem auf die Spitze trieb.

An irgendeinem Neujahrsabend hat John Vaccaro Candy Darling tatsächlich zwei Treppen runtergestoßen. Sie fiel sieben oder acht Stufen hinunter und wollte gerade wieder aufstehen, aber er stand direkt hinter ihr und schubste sie noch weiter die Treppe runter. Draußen tobte ein Schneesturm, und es lagen zehn Zen­timeter Schnee, und er schubste sie in ihrer eleganten Abendgarderobe in den Schnee. Aber damit es an dieser Stelle keine Missverständnisse gibt: Candy liebte es, in den Schnee geschubst zu werden. Sie liebte diese dramatischen Situationen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich bereits am nächsten Tag wieder blicken ließ und sich beim Tee mit ihm über den Vorfall der letzten Nacht unterhielt.

Man darf auch nicht vergessen, dass alle auf Speed waren, und da blieben natürlich die großen Dramen und Gefühlsausbrüche nicht aus. Die Auseinan­dersetzungen verliefen immer extrem dramatisch, und vor allem spielten sie sich häufig in der Öffentlichkeit ab – im Hinterzimmer vom Max’s wurden Ohrfei­gen verteilt, Drinks in die Gesichter geschüttet und Flaschen über die Schädel gezogen.

Penny Arcade: Jackie Curtis hatte ein Theaterstück mit dem Titel Femme Fatale geschrieben, das auf Gegebenheiten basierte, die Jackie Curtis, ich und ein Typ namens John Christian erlebt hatten. Aber John Christian entpuppte sich als Oberjunkie, der unter extremer Platzangst litt. Er weigerte sich strikt, seine Wohnung zu verlassen und in unserem Theaterstück mitzuspielen. Deshalb teilte mir John mit, dass dieses Mädchen da, Patti Smith, die Rolle von John übernehmen würde.

Die meisten Leute fanden Patti ziemlich hässlich – als ob es eine Sünde wäre, hässlich zu sein. Aber sie war gar nicht so hässlich, sie sah einfach nur aus, wie damals kein Mensch aussah. Sie war wirklich sehr dünn und immer sehr merkwürdig angezogen. Sie hatte diesen Look, der absolut auf sie zugeschnitten war, und im Nachhinein betrachtet kann man sagen, dass sie die Vorläuferin der Punkbewegung gewesen ist. Sie trug immer diese espadrilleartigen Ringer­schuhe, hautenge schwarze Hosen und meistens ein weißes Herrenhemd, das sie in die Hose steckte, und darunter trug sie ein Herrenunterhemd. Sie trug nie einen BH und hatte ein sehr ausgemergeltes Gesicht und sehr schwarze Haare. Und nachdem sie schwanger geworden war, war ihr Bauch voller Schwanger­schaftsstreifen. Und da sie ihre Hose immer unterhalb der Hüften trug, konnte man immer diese Schwangerschaftsstreifen sehen.

Als Jackie und ich Patti zum ersten Mal trafen, warnte mich Jackie: „Trau diesem Mädchen nicht, sie ist eine soziale Aufsteigerin.“

Aber mir war das völlig egal. Während der Proben zu Femme Fatale wurde ich schwanger, und eine Abtreibung war natürlich illegal. Ich hatte gehört, dass es eine Fehlgeburt auslösen würde, wenn man sich ein Intrauterinpessar ein­setzen lässt. Das war natürlich ziemlich bescheuert und auch nicht ungefähr­lich, aber ich bin trotzdem zu meinem Gynäkologen nach Allenville gefahren und habe mir ein Pessar einsetzen lassen. Es ging mir richtig gut, und ich bin wieder zu den Proben erschienen. Dann hatte ich ein Blackout und bin aus den Proben ausgestiegen. Während ich zusammen mit Patti im Fahrstuhl hinun­tergefahren bin, hatte ich eine Fehlgeburt.

Patti fragte mich ständig: „Sehe ich aus wie Keith Richards? Wie sehen meine Haare aus? Sehen sie aus wie die von Keith Richards?“Ich antwortete ihr: „Ja, irgendwie schon“, weil es mir völlig schleierhaft war, weshalb alle wie Keith Richards aussehen wollten.

Ich bin am nächsten Tag nicht zu den Proben erschienen und habe mich auch nicht telefonisch entschuldigt, und als ich dann wieder zu den Proben erschien, waren alle stocksauer auf mich. Tony Ingrassia, Jackie Curtis und all die anderen schnauzten mich an:„Wieso bist du einfach nicht gekommen?“ Bla, bla, bla. Und während ich dastand und ihr Gekeife über mich ergehen ließ, kam Patti auf mich zu und gab mir diese rausgerissene Seite aus ihrem Tagebuch. Darauf stand: „Heute habe ich ein Mädchen namens Penny Arcade kennen gelernt, sie ist wirklich cool, und ich mag sie sehr, und ich fände es schön, wenn sie meine Freundin wäre.“

Also wurden Patti und ich Freundinnen. Ich glaube, dass sie damals eigent­lich mit Robert Mapplethorpe im Chelsea Hotel gewohnt hat, aber dann hat­ten sie sich eine eigene Wohnung gemietet, ein Loft, das ein paar Häuser vom Chelsea Hotel entfernt war.

Jayne County (die vor ihrer Geschlechtsumwandlung Wayne County hieß): Jackie Curtis war einfach umwerfend in Femme Fatale. Am Ende des Stücks wurde sie an einer IBM­Karte gekreuzigt. Wir hatten eine überdimensionale IBM­Karte, und an die haben wir sie angenagelt.

Nach der Aufführung von Femme Fatale haben wir in einem anderen Stück mitgespielt. Es hieß Island. In diesem Stück habe ich einen Transvestiten­Revo­lutionär gespielt und Patti Smith einen Speedfreak, der auf Brian Jones steht und sich auf der Bühne seine Schüsse setzt. Natürlich war es nur simuliert, dass sie sich Speed gespritzt hat. Gleichzeitig hat sie immer wieder geschrien: „Brian Jones ist tot!“

Das war Pattis große Stunde auf den New­Yorker Undergroundbühnen. Sie hatte an ihrem Arm ein kleines Klümpchen Kitt befestigt, sodass es aussah, als würde sie sich die Nadel wirklich in die Vene jagen. Und während sie sich ihre Schüsse setzte, schrie sie immer wieder: „Brian Jones ist tot! Brian Jones ist tot! Brian Jones ist tot! Seht, hier steht es, Brian Jones ist tot!“

Leee Childers: Das Stück Island hatte eine wunderbare Besetzung – Cherry Vanilla, Patti Smith, Wayne County –, und es spielte auf Fire Island. Das Stück war episodisch und hatte keine eigentliche Handlung. Am Ende wurden alle getötet, weil die Regierung beschlossen hatte, Fire Island mithilfe von Schlacht­schiffen in die Luft zu jagen. Andy Warhol liebte das Stück. Seiner Meinung nach war es genial, und er sagte zu Regisseur Tony Ingrassia: „Ich habe Ton­bandaufnahmen gemacht …“

Das war natürlich nicht anders zu erwarten, denn Andy machte von allem Tonbandaufnahmen. Er stand immer mit seinem kleinen Tonbandgerät da und zeichnete jedes Telefongespräch und jedes einzelne Wort auf, das an ihn gerich­tet wurde. Deshalb hatte Andy unzählige Kartons mit Tonbandcassetten, und er sagte zu Tony Ingrassia: „Daraus lässt sich bestimmt ein prima Stück machen.“ Tony fragte ihn:„Ja, aber was soll ich damit anfangen?“ Andy gab ihm die Kartons und meinte: „Oh, ich bin mir sicher, dass du darin einiges an gutem Material finden wirst.“

Was Tony dann auch tatsächlich tat. Er ging die Cassetten durch und stieß auf einige sehr interessante Gesprächsfetzen, hauptsächlich aus Telefongesprä­chen, und nahm sie als Grundlage für ein Stück namens Pork. In dem Stück trat ein Schauspieler auf, der Andy Warhol darstellte und in einem öden weißen und sterilen Krankenhausflur im Rollstuhl saß. Um ihn herum waren die anderen Schauspieler gruppiert und telefonierten mit weißen Telefonen. Mit Pork war natürlich Brigid Polk gemeint. Die Vulva stellte Viva dar, und sie sollte am Tele­fon mit Andy sprechen und Sachen sagen wie: „Andy, hast du dir schon jemals Gedanken über Affenscheiße gemacht? Hast du eine Ahnung, wie Affenscheiße aussieht? Hat schon mal irgendjemand Affenscheiße gesehen? Ich denke, dass Zoowärter wissen, wie Affenscheiße aussieht. Ich habe bislang noch nie Affen­scheiße gesehen, aber was ist mit Kuhscheiße, ist Kuhscheiße nicht …“

Jayne County: In Pork ging es hauptsächlich um eine Figur, die Brigid Polk dar­stellte und sich ständig nur Speed spritzte und in einer Tour quatschte. Alle anderen Schauspieler liefen immer nur um sie herum und sprachen über ihren Fetischismus und ihre Perversionen. Jane Callalots, die ebenfalls in Heaven Grand in Amber Orbit mitgespielt hatte, verkörperte Paul Morrissey. Sie schob die Figur des Andy, die von Tony Zanetta gespielt wurde, auf einem gewöhnli­chen Stuhl, an dem Rollen angebracht waren, durch die Gegend. Er saß einfach nur auf diesem Stuhl und sagte ständig: „Ähem, aaah.“

Leee Childers: Ja, darum ging es hauptsächlich in diesem Stück. Ich habe bei beiden Inszenierungen als Regieassistent gearbeitet – das Stück lief sechs Wochen in New York und sechs Wochen in London. In London hat die Inszenierung allerdings einen Riesenskandal ausgelöst. Wir waren ja damals ziemlich naiv und hatten keinen blassen Schimmer von der Londoner Regenbogenpresse. Als Geri Miller für eine Fotosession vor dem Haus von Queen Mom posierte und plötz­lich ihre Titten rausholte, wurde sie auf der Stelle verhaftet. Das Foto wurde in allenKlatschblätternauf dererstenSeitegebracht:„PORNOSCHAUSPIELERIN VON PORK LÄSST VOR DEM HAUS DER KÖNIGINMUTTER DIE TITTEN RAUSHÄNGEN!“ Und dann wurde sie von allen Zeitungen zitiert:„WAS SOLL AN TITTEN SO SCHLIMM SEIN? DIE KÖNIGIN HAT DOCH SCHLIESS­LICH SELBER WELCHE!“

Wir waren wirklich das Medienereignis schlechthin und wussten es noch nicht einmal, aber Cherry Vanilla hatte die geniale Idee, dass wir uns als auf Rock ’n’ Roll spezialisierte New­Yorker Journalisten ausgeben könnten. Cherry war die Einzige, der klar geworden war, dass wir in London ein paar Betrüge­reien abziehen könnten. Sie kontaktierte einen der Herausgeber der Zeitschrift Circus, und der sagte ihr: „Okay, macht, was ihr wollt, und benutzt von mir aus meinen Namen, aber wenn mich jemand anruft, weiß ich von nichts.“

Also haben wir uns als Rock ’n’Roll­Journalisten von Circus ausgegeben – Cherry war die Schreiberin, ich war der Fotograf, und es funktionierte auf wun­dersame Weise. Wir kamen in jede Garderobe und bekamen jede Woche den New Musical Express und haben geschaut, wer wo Konzerte gab. Natürlich sind wir in alle Konzerte gegangen. Wir haben sie wirklich alle gesehen: Marc Bolan, Rod Stewart …

Dann habe ich eine winzige Anzeige entdeckt, kaum größer als zwei oder drei Quadratzentimeter: „David Bowie im Country Club.“ Ich hatte einen Arti­kel von John Mendelssohn über ihn gelesen, also erzählte ich, ich hätte gehört, er würde in Frauenkleidern durch die Gegend laufen.„Das ist ja geil, den Typen werden wir uns anschauen.“ Also riefen wir an und wurden auf die Gästeliste gesetzt – ich, Cherry und Wayne County. Es war ein winziger Club, und ich denke, es waren nicht mehr als dreißig Leute im Publikum. Mein erster Ein­druck von David Bowie war nicht sehr positiv. Ich dachte nur: „h Mann, was für eine Enttäuschung. Was für ein Langweiler.“ Er trug gelbe Schlaghosen und einen großen Hut.

Jayne County: Wir hatten gehört, dass dieser David Bowie angeblich androgyn sein soll, aber dann kam er auf die Bühne. Er hatte lange Haare und trug diese komischen Folkklamotten. Dann setzte er sich auf einen Stuhl und spielte Folk­songs. Wir waren alle total enttäuscht von ihm. Wir schauten ihn an und sag­ten: „Jetzt seht euch diesen alten Folkhippie an!“

Wir saßen im Publikum mit unseren schwarz lackierten Fingernägeln und unseren gefärbten Haaren. Damals gab es noch nicht diese grellen, leuchtenden Punkfarben, aber Leee Childers hatte diese Magic Marker entdeckt und sich damit seine Haare in allen möglichen Farben angemalt. Irgendwann sagte David Bowie: „Und die Leute von Andy Warhols Pork sind heute Abend auch hier. Steht bitte mal auf.“ Also mussten wir alle aufstehen – Cherry stand auf, zog ihr Oberteil aus und wackelte mit ihren Titten. Es war großartig. Wir sorgten über­all für einen Skandal.

Leee Childers: David war eine herbe Enttäuschung, aber wir liebten seine Frau Angela Bowie heiß und innig.Angie war laut, schwanger und völlig durchgeknallt. Sie fasste uns in den Schritt, lachte sich dabei kaputt und amüsierte sich.

Wir unterhielten uns die ganze Zeit über Angie, aber nicht über David. Bereits am nächsten Abend luden wir sie in diese Schwulenbar namens Yours and Mine in Highgrove ein, und bei der Gelegenheit lernten wir David ein wenig näher kennen und erkannten seinen Sinn für Humor, und dann wurde er uns ziemlich sympathisch. Als wir England dann schließlich verlassen muss­ten, mochten wir ihn wirklich sehr.

Jayne County: Natürlich haben wir David extrem beeinflusst, dass er sein Image ändert. Nachdem er uns kennen gelernt hatte, fing er an, sich anders zu stylen. Ich habe die rasierten Augenbrauen bei Jackie Curtis abgekupfert, und dann fing auch David an, sich seine Augenbrauen zu rasieren und seine Finger­nägel zu lackieren, er ging sogar mit lackierten Fingernägeln in die Nachtclubs, genau wie wir. Er hat sein Image total verändert und lief inzwischen ziemlich ausgeflippt herum.

Please Kill Me

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