Читать книгу Atlantis wird nie untergehen - Giorgos Koukoulas - Страница 4

1. Die Vulkaninsel

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Das Linienschiff folgte einem schnurgeraden Kurs und schnitt die Meeresbucht zwischen den hoch aufragenden schwarz-roten Felsen in zwei Teile. Die Steilwände bildeten eine gewaltige Krateröffnung, die zu einem der größten Vulkane der Erde gehörte. Ganz benommen wachte er aus einem kurzen, aber erholsamen Schlaf auf. In seinem Dämmerzustand nahm er die unwirkliche, wilde Schönheit der Landschaft noch stärker wahr. Mit jeder Sekunde, die verging, erschienen ihm die imposanten Felsklippen des Vulkans, die auf ihn zukamen, immer bedrohlicher und zogen ihn vollkommen in ihren Bann.

Ergänzt wurde das Bild durch blütenweiße Häuser, die, der Schwerkraft und der Höhe zum Trotz, am Rand des Abgrunds zwischen Meer und Himmel hingen. Wie die letzten Schneereste auf Berggipfeln, kurz bevor sie durch die warme Berührung der Frühlingssonne wegschmelzen. Als sich das Schiff dem Hafen näherte, konnte er auf der linken Seite deutlich die ersten Ortschaften der Insel erkennen. Zunächst den Ort Ia mit seinem berühmten Sonnenuntergang. Dann entlang der Steilhänge verstreute Häuser wie kleine weiße Flocken bis hin nach Imerovigli, dem nächsten Dorf. Durch den ungezügelten Bauboom auf Santorin geht Ia beinahe in die Inselhauptstadt Fira über. Nur ein geübtes Auge kann noch zwei getrennte Orte ausmachen. Weiter nach rechts, am Rand der kreisförmigen Caldera, eine ebenso zauberhafte Landschaft. Vereinzelte Gruppierungen weißer Häuser auf dem Gipfel des Vulkans. Auf der gegenüberliegenden Seite der Insel steht der letzte erkennbare weiße Fleck für das Dorf Akrotiri. Minuten vergingen, bis er sich von den eindrucksvollen Bildern lösen konnte, die sich beim langsamen Dahingleiten des Schiffes vor ihm auftaten.

Alexandros kam nicht umhin, sich die Ereignisse noch einmal vor Augen zu führen, die ihm dieses erstaunliche Schauspiel beschert hatten. Alles begann vor zwei Tagen mit dem Anruf seines verehrten, doch – wie es bei allen Beziehungen ist, bei denen es keine gemeinsamen Berührungspunkte mehr gibt – vergessenen Archäologieprofessors Nikodimos. Die Dinge entwickelten sich unerwartet schnell im Vergleich zum gleichförmigen Rhythmus der alltäglichen Routine, dem er sich seit Langem ergeben hatte.

Er hatte den Professor in seinen letzten beiden Jahren an der Hochschule kennengelernt und war sofort zu dessen Lieblingsstudenten geworden. Alexandros war sich noch immer nicht darüber im Klaren, warum er sich für Archäologie als zweiten Studiengang entschied, nachdem er seinen Abschluss an der Fakultät für Physik der Universität Athen gemacht hatte. Drängte es ihn damals wirklich, Kenntnisse auf diesem Gebiet zu erwerben, oder wollte er einer beruflichen Sackgasse entkommen? Von klein auf hatte er den Wunsch gehabt, sich mit den Sternen zu befassen; alles, was den Weltraum betraf, faszinierte ihn über alle Maßen. Als er älter wurde, entschied er sich für das Physikstudium, um eine Laufbahn im Bereich der Astronomie einzuschlagen. Doch der Griff nach den Sternen wollte nicht gelingen, und eine harte, prosaische Wirklichkeit holte ihn auf den Boden der Tatsachen. Die ständigen Ermahnungen und Hinweise von Familie und Freunden, die ihm zu einer fundierten und gesicherten beruflichen Karriere rieten, warfen Alexandros aus der Bahn seiner ursprünglichen Pläne. Am Ende landete er an Nachhilfeschulen in seinem Viertel und gab Unterricht zur Prüfungsvorbereitung auf das Physikexamen. Seine einst wohlhabende Familie hatte in den letzten Jahren mit starken wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Das kleine Familienunternehmen seines Vaters konnte mit den modernen Erfordernissen des Marktes und den rasanten technologischen Entwicklungen im Computerbereich nicht mithalten. Der einträgliche Elektronikladen mit angeschlossener Reparaturwerkstatt aus den Achtzigerjahren gehörte inzwischen der Vergangenheit an. Die Firma kämpfte nunmehr täglich darum, ihre Kosten zu decken, und hatte längst den ungleichen Wettbewerb gegen die modernen multinationalen Unternehmen verloren.

Es war sieben Uhr morgens, als sein Handy klingelte. Derartig frühe Anrufe war er nicht gewohnt. Er wunderte sich noch mehr, als er sah, dass auf dem Display kein eingespeicherter Name erschien, sondern zehn nichtssagende Zahlen blinkten. Neugierig fragte er sich, wer ihn so früh am Morgen störte und was man wohl von ihm wollte. Doch dann fiel es ihm nicht schwer, die stets enthusiastische, lebhafte Stimme seines verehrten Professors wiederzuerkennen. Nachdem Nikodimos in Windeseile die förmlichen Fragen und Antworten hinter sich gebracht hatte, die sich gehören, wenn man über ein Jahr nicht mehr miteinander telefoniert hat, kam er direkt zur Sache.

„Alexandros, ich brauche deine Hilfe.“

Die Lebhaftigkeit seines Tonfalls hatte sich verloren und war in den Ernst übergegangen, der den Professor auszeichnete, wenn er sich während seiner Vorlesungen mit kritischen Fragen befasste. Vorlesungen, die stets in einem voll besetzten Hörsaal stattfanden, selbst wenn die restliche Fakultät leer war - wegen Streiks, Wahlen, Feiertagen und einem Dutzend anderer Gründe, die die Universitäten häufig in ausgestorbene Gebäude verwandeln. Der Professor fuhr fort.

„Ich kann es dir nicht am Telefon erklären, aber du bist der Einzige, dem ich vertraue. Du musst unbedingt sofort nach Santorin kommen. Sofort, hörst du?“ Seine Worte klangen nun stockend und zeugten von seiner inneren Erregung. „Ich bin einer sehr großen Entdeckung auf der Spur … einer außerordentlich großen Entdeckung.“ Nach seinen letzten Worten entstand eine kleine Pause - der Professor versuchte, sich zu sammeln. „Ich erwarte dich morgen, spätestens übermorgen. Die Angelegenheit erlaubt keinen Aufschub, ruf mich an, sobald du weißt, wann du genau ankommst.“

Der anhaltende Signalton an seinem Ohr zeigte an, dass das Gespräch abrupt beendet worden war. Ein Monolog, bei dem Alexandros keinen Augenblick die Möglichkeit hatte, ‚nein‘ zu sagen.

Das Schiff war endgültig in die Caldera von Santorin eingelaufen. Die Häuser auf den Anhöhen waren jetzt deutlich sichtbar. Rechts fuhren sie an zwei kleinen schwarzen Inseln in der Mitte des Kraterbeckens vorbei. Junge Inseln, die ausschließlich aus Lava bestehen, die erstmals vor zweitausend Jahren ausgeströmt war. Seitdem haben sich ihre Größe und ihre Formen häufig gewandelt, ganz nach den Launen des Vulkans. Das letzte Mal hatte er vor dreihundert Jahren beschlossen, seine Morphologie zu verändern, und damals tauchten inmitten von Erdbeben und Eruptionen aus dem Meeresgrund nach und nach neue Stücke Land auf. Diese verbanden sich allmählich miteinander und bilden heute die zweite der beiden Inseln mit dem sprechenden Namen Nea Kameni – die Neue Verbrannte.

Alexandros war nicht das erste Mal auf Santorin. Insel der Liebe … die Kykladeninsel war für alle frisch verliebten Paare das Traumziel schlechthin. Auch er konnte diesem Mythos, oder besser dem Trend der Zeit, nicht entgehen. Erinnerungen an einen Ausflug zu diesen kleinen schwarzen Inseln überkamen ihn, den er vor sechs Jahren am zweiten Urlaubstag zusammen mit Afroditi unternommen hatte. In der Broschüre des Reisebüros stand mit riesigen roten Lettern:

AUSFLUG ZUM VULKAN

Es sollte einige Tage dauern, bis ihm bewusst wurde, dass eigentlich jeder Tag auf dieser Insel ein Ausflug zum Vulkan war. Ohne sich entsprechend zu informieren und auf die Unternehmung und ihre Erfordernisse vorzubereiten, starteten sie zu dieser kleinen Odyssee. Alexandros dachte die ganze Zeit an nichts anderes, als mit seiner Partnerin heftig zu flirten. In den geheimen Windungen seines lüsternen Gehirns tickte ein Countdown bis zu ihrer nächsten sexuellen Begegnung. Zum ersten Mal im Leben musste er die Erfahrung machen, wie quälend das Verlangen nach dem Körper einer Frau sein kann.

Der Ausflug erwies sich als totaler Reinfall. Mit jedem Schritt, den er auf dem unebenen Boden tat, gelangten die heißen schwarzen Steinchen schmerzhaft zwischen seine Fußsohlen und die Flipflops. Da war ihm klar geworden, warum alle Touristen der Ausflugsgruppe – und durch einen gemeinen Zufall auch seine Begleiterin – mitten im Sommer Socken und Sneakers trugen! Wie es sich herausstellen sollte, und zwar wiederholt während dieser Zeit, beanspruchte er die Mehrheit seiner grauen Zellen für den erotischen Countdown, ohne in seinem Hirn für weitere Funktionen Platz zu lassen. Doch das Martyrium ging weiter, als sie den Pfad hinaufstiegen, und inzwischen hatte seine missliche Lage sogar die ungezügelte imaginäre Zeitschaltuhr für den nächsten Sex außer Kraft gesetzt: Sollte er sich blamieren und zugeben, welche Qualen er bei jedem Schritt durchmachte, oder sollte er den Weg fortsetzen wie ein neuer Feuerläufer, nur nicht zu Ehren Gottes, sondern um der Liebe willen? Sein schmerzverzerrtes Gesicht und sein unbeholfener Gang befreiten ihn schließlich aus der Zwangslage. Es war ausgeschlossen, dass die anderen Mitwanderer nichts bemerkten. Der Führer der Gruppe, ein sonnengebräunter, nahezu verkohlter Einheimischer, kam schließlich und kniete sich vor ihn hin. Er öffnete seinen Rucksack und holte ein Paar bräunliche Socken heraus, die sicherlich beim ersten Tragen einmal weiß gewesen waren. Alexandros konnte sich noch genau an die Worte des Führers erinnern:

„Zieh die an, dann geht es dir ein bisschen besser. So etwas passiert nicht zum ersten Mal, aber ich kann ja wohl schlecht auch noch Schuhe in verschiedenen Größen mit mir herumschleppen.“

Sein Angebot wurde von einem leicht ironischen Lächeln begleitet. Das Ganze verschlimmerte sich noch, als sich das Lächeln in ein geiles Grinsen verwandelte, während er aufdringlich seine Freundin Afroditi betrachtete, die direkt neben ihm stand. Wie peinlich! Jetzt eine Tarnkappe, das war sein einziger Gedanke. Eine Tarnkappe, die ihn just in diesem Moment unsichtbar machen würde. Sein einziger Trost war das Schwarz der Landschaft, das mittlerweile hundertprozentig zu seiner Stimmung passte.

Das doppelte Tuten aus dem Schiffshorn riss ihn aus seiner kurzen Rückblende in die Vergangenheit. Auch Afroditi gehörte nur noch zu dieser Vergangenheit und zu seinen Erinnerungen. Sie näherten sich jetzt der Stelle, wo das Schiff unter den Anweisungen des Kapitäns mit dem Präzisionsmanöver beginnen würde, um in einem der schwierigsten und ungünstigsten Häfen der Ägäis anzulegen. Jeder Besucher ist bei seiner Ankunft in diesem Hafen von den gewaltigen schwarzen Felsmassen beeindruckt, die über ihm klaffen, als wollten sie ihn verschlingen. Einziger Ausweg eine gefährliche Straße, die sich, eingehauen in die abwechslungsreichen rotschwarzen Wände aus Vulkangestein, bergan schlängelt. Der Professor wohnte ganz auf der anderen Seite der Insel in der traditionellen Siedlung Ia, und Alexandros hatte nur zwei Möglichkeiten zur Auswahl, um dorthin zu gelangen. Es gab den Linienbus, der ihn zunächst in Fira, der Inselhauptstadt, absetzen würde. Von dort müsste er dann in den Bus nach Ia umsteigen. Die Alternative war, mit allen anderen verbliebenen Reisenden in der endlosen Schlange auf ein freies Taxi zu warten. Schließlich entschied er sich für den umständlichen Weg, die öffentlichen Verkehrsmittel auf der Insel zu benutzen.

Die stark behaarte, verschwitze Achsel einer beleibten nordeuropäischen Touristin war nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Gleichzeitig musste er bei jeder Steilkurve mit seinem Körper die Pfunde einer übergewichtigen Griechin neben sich abfangen. Die Dame mittleren Alters unternahm löbliche Anstrengungen, sich an den abgenutzten Haltegriffen des Busses festzuhalten, jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Das Martyrium dauerte etwa eine halbe Stunde. So lange, wie der Bus bei den häufigen Haltestellen brauchte, um seine Fahrt bis nach Fira zu Ende zu bringen.

Bei der zweiten Strecke, von Fira nach Ia, hatte er mehr Glück. Er erwischte einen bequemen Fensterplatz auf der linken Busseite, der ihm eine gute Gelegenheit bot, sich wieder an die seltene Morphologie der Insel zu erinnern. Gerade auf dieser Strecke sind die Gesteinswechsel beeindruckend. Das ist schon für den einfachen Betrachter außerordentlich interessant, umso mehr noch für jemanden, der sich wissenschaftlich mit Geologie beschäftigt. Denn es war eine Exkursion der Athener Fakultät für Geologie, bei der er zum ersten Mal mit Santorin in Berührung gekommen war. Es kam ihm vor, als sei es erst gestern gewesen, dass er den detaillierten Analysen Afroditis lauschte, die damals kurz vor dem Studienabschluss stand. Sie erklärte ihm alles über die verschiedenen Sedimentschichten aus Asche und Lava, die die Insel seit dem letzten gewaltigen Vulkanausbruch bedecken. Jede Veränderung in den Farbnuancen der Felswände repräsentiert ein anderes Mineral und ein unterschiedliches Entstehungsdatum. Eine komplette historische Präzisionskarte mit den geologischen Fingerabdrücken der Gegend aus einer Zeit, die Jahrmillionen zurücklag. Er war überrascht, dass er sich nach so langer Zeit, wenn auch vage, an einige grundlegende Informationen erinnerte. Er mochte Afroditi zwar bei den endlosen Lektionen, die sie ihm an jeder Stelle der Insel erteilte, ständig angeschaut und an ihren Lippen gehangen haben, doch hatte er dem Sinn des Gesagten wenig Beachtung geschenkt. Immer neue Erinnerungssplitter blitzten in seinem Kopf auf.

Was hatte diese wunderschöne junge Frau, die voller Leben steckte, nur an ihm gefunden? An einem jungen Studenten, damals bei seinem zweiten Diplom. Nicht sonderlich gut aussehend, mittelgroß, mit einem untrainierten, schlaffen Körper, ohne Berufsaussichten, mit finanziellen Engpässen. Eine geschmacklose, für sein Gesicht zu große Brille, war das Tüpfelchen auf dem i. Das war die brutale Antwort, die ihm sein Spiegelbild gab, das ihn jedes Mal aufs Neue anstarrte, egal wie viele Spiegel er ausprobierte, immer in der Hoffnung, einmal ein angenehmeres Gegenüber zu sehen.

Afroditi – der Name des Mädchens deckte sich perfekt mit der Göttin Aphrodite. Dieser Gedanke überwältigte ihn im ersten Monat ihrer Bekanntschaft. Eine Schönheitsgöttin wie ihre Namensgeberin aus der Runde der zwölf Götter des Olymps, die mit jeder ihrer Bewegungen Weiblichkeit verströmte. Ein munteres Gesicht mit hellem Teint und zwei tiefblauen Augen, das er stundenlang betrachten konnte. Ein blühender, wohlgeformter Körper machte dieses Bild perfekt, nicht besonders groß, aber üppig und voller Verheißung. Was die Mythologie anging, wurde sie ihrem Namen vollkommen gerecht. Die Identifikation mit der Göttin erstreckte sich aber auch auf die Astronomie. Der einzige Planet mit weiblichem Namen in unserem Sonnensystem ist die Venus, der römische Name für Aphrodite. Es ist außerdem kein Zufall, dass es auch der einzige Planet ist, der sich gegenläufig zu den anderen bewegt und sich dabei selbst der Herrscherin, der Sonne, widersetzt. Genauso verhielt sich auch Afroditi. Immer kontra zu allen Konventionen und Benimmregeln. Immer vorne weg bei allem Neuen und immer aufmüpfig. Der Inbegriff der Auflehnung gegen das Establishment.

Wo sie auch mitmachte, wo sie sich auch aufhielt, sie fiel auf. Es war unmöglich, sie nicht zu beachten. Mit ihrer Mischung aus Schönheit und einer starken, komplexen Persönlichkeit beherrschte sie jeden Raum. Genau wie der namensgleiche Planet. Schon in prähistorischen Zeiten hatten die Menschen bemerkt, dass die Venus das hellste Objekt am Nachthimmel war. Die alten Griechen nannten sie Morgenstern, also Vorbotin des Sonnenaufgangs. Am schönsten erschien sie aber als Abendstern, direkt nach Sonnenuntergang.

Jahrzehntelang waren sich die Wissenschaftler uneins darin, was unterhalb der Wolkendecke existierte, die diesen mysteriösen Planeten umgab. Was für eine Art von Oberfläche würden wir darunter finden? Mit Feuereifer forschte auch Alexandros und versuchte zu entdecken, was sich hinter der faszinierenden, geheimnisvollen jungen Frau verbarg, mit der er das Glück hatte, zusammen zu sein. Nur hatte er dabei die jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht bedacht. Moderne Weltraummessgeräte offenbarten eine Oberflächentemperatur von vierhundert Grad Celsius mit einem neunzigmal stärkeren Atmosphärendruck als dem auf der Erde. Ein heißer und ungastlicher Planet. Der Erde am nächsten gelegen und doch vielleicht am schwierigsten zu erreichen und zu besiedeln ...

Alexandros’ umfangreiche Kenntnisse auf dem Gebiet der Astronomie waren nicht genug, um ihn von seinem Unternehmen abzuhalten. Er entschied sich dafür, die letzten Entdeckungen im Hinblick auf den Nachbarplaneten zu ignorieren. Wie ein unerfahrenes, ehrgeiziges, aber naives Forschungsraumschiff versuchte er, die Naturgesetze zu besiegen und im Herzen seiner Venus-Aphrodite zu landen. Doch das Ende ihrer Beziehung war bereits vorprogrammiert und zeichnete sich in vorangegangenen Forschungsmissionen ins All ab. Auf eine wunderbare Reise voll intensiver Erfahrungen bis an den Rand ihrer Atmosphäre folgte ein plötzlicher glühender Eintritt, der mit einem heftigen Aufprall endete. Der Versuch war fehlgeschlagen, ohne die Gelegenheit, wissenschaftliche Daten zu erheben, was die Zusammensetzung, die Morphologie und das Verhalten des Himmelskörpers betraf. Und natürlich gab es keinerlei Überlebenschancen für das Weltraumforschungsschiff, das vollständig zerschellte. Alexandros hatte sich nie von ihrer Trennung erholt.

Der Professor war noch genauso, wie er ihn in Erinnerung hatte, mit seinem unverkennbaren weißen Vollbart, von mittlerer Statur, pausbäckig und mit einem sympathischen runden Bäuchlein. Ein idealer Kandidat für die Rolle des Nikolaus bei jeder Weihnachtsfeier. Wenn man ihn aber etwas besser kennenlernte, offenbarten sich - trotz seines vorgerückten Alters - ein funkelnder Blick und ein ungewöhnlicher Tatendrang. Schon als er ihm zum ersten Mal an der Uni begegnet war, wirkte der Professor, als liefe er ständig auf Hochtouren. Man hatte den Eindruck, dass das Getriebe seines Gehirns unaufhörlich an einer neuen Idee oder Entdeckung arbeitete.

Sie waren noch nicht dazu gekommen, sich eingehend zu unterhalten, da saßen sie auch schon in einem weißen VW-Käfer Cabrio auf dem Weg zur anderen Seite der Insel. Dem geliebten Auto des Professors, seiner ersten und ewigen Liebe, wie er bei jeder Gelegenheit und jedem Kompliment für den Wagen scherzend sagte. Es war vielleicht die einzige menschliche Schwäche, die Alexandros in der absoluten Hingabe des Professors an die archäologische Forschung ausgemacht hatte. Unter anderen Umständen hätte er sich wohl ziemlich geärgert, dass er die ganzen Strapazen auf sich genommen hatte, nach Ia zu gelangen, nur um dann sofort wieder den Rückweg anzutreten, genau dorthin zurück, von wo er aufgebrochen war. Doch die Freude über die erneute Begegnung mit seinem Professor besiegte, zusammen mit seiner nur mühsam gebändigten Neugier auf die Gründe für diese überraschende Reise, alle negativen Gefühle und die bisherigen Anstrengungen.

Die Straße war ziemlich gefährlich und unübersichtlich. Das hielt ihn davon ab, ein ausführliches Gespräch über die Entdeckung zu beginnen, die ihn hier hergeführt hatte. Auf der Busfahrt hatte er deutlich weniger Angst gehabt und sich unbewusst auf den Fahrer und dessen Berufserfahrung verlassen. Ganz anders jetzt. Beim Anblick des alten Professors am Steuer des VW-Käfers, der sich der fabrikmäßigen Höchstgeschwindigkeit näherte, und des Abgrunds, der in jeder Steilkurve lauerte, verbot es sich von selbst, den Fahrer durch anspruchsvolle Gespräche abzulenken. Stattdessen begann er, eigene Vermutungen darüber anzustellen, wodurch es zu dieser Auffrischung ihres Kontaktes gekommen war.

Durch seine Diplomarbeit wusste er sehr gut, dass sich Nikodimos vor allem für die minoische Zeit interessierte, und zwar insbesondere für die Unklarheiten und Wissenslücken im Hinblick auf diese wunderbare vorgeschichtliche Kultur im frühen Griechenland. Im Gegensatz zur ägyptischen Zivilisation, die ungefähr in demselben Zeitraum in ihrer Blüte stand, gibt es zur minoischen Epoche nur spärliche, eher unerhebliche Daten. Die Ägypter, die über Papyri und Hieroglyphenschrift verfügten, hinterließen ihren Nachfahren eine Fülle von Informationen und historischen Angaben über ihre Kultur. Die Morphologie und die geografische Lage der Region, wo Generationen von Pharaonen ihre Glanzzeit erlebten, begünstigten den Erhalt archäologischer Funde. Die wichtigste Rolle spielte dabei die ununterbrochene Kontinuität der ägyptischen Kultur von 3500 v. Chr. bis zur ptolemäischen Zeit 30 v. Chr. Die Minoer dagegen kannten als Hauptschriftsprachen die Linearschrift A und B und verwendeten keine Papyri. Deshalb - und wegen des rätselhaften Verschwindens ihrer Zivilisation – gehören sie bis heute zu einem der geheimnisvollsten Kapitel der Menschheitsgeschichte. Auf dem Höhepunkt ihrer Blüte, und während man im weiteren helladischen Raum nach ihresgleichen suchen konnte, wurde ihre Kultur zerstört und verschwand für immer. Sie hinterließ nur erstaunliche Einzelbeispiele ihrer Überlegenheit. Der Schleier des Geheimnisses über der ersten glanzvollen Kultur, die sich in Europa entwickelte, war für den Professor die Quelle seiner Inspiration und Forschung. Nach Kreta liefert Santorin mit seinen archäologischen Funden den stärksten Beweis für die Existenz und die beste Möglichkeit zur Erforschung dieser glanzvollen Kultur.

Nikodimos glaubte, dass es auf Thera – so der offizielle Name der Insel – noch viel über die Minoer zu entdecken gab. Er war schon fast zu einem ständigen Einwohner geworden und verbrachte mit Dickköpfigkeit und Beharrlichkeit, fast schon Besessenheit zu nennen, viel Lebenszeit auf dieser kargen Insel. Vielleicht sogar mehr als viele Einheimische, besonders diejenigen, die im Tourismus arbeiten und die Insel gleich nach dem Ende der Sommersaison verlassen, um selbst in den eigenen Urlaub zu starten, gewöhnlich zu entfernten, tropischen und sündhaft teuren Reisezielen, wo der Sommer gerade beginnt.

„Sind wir bald da?“ Das war der erste Satz aus Alexandros’ Mund.

Der weiße Wagen näherte sich dem Dorf Akrotiri. Seine Geduld, die dank seines ruhigen Wesens normalerweise unerschöpflich war, wurde auf eine Zerreißprobe gestellt. Der Professor lächelte und nickte; er konnte die Erschöpfung seines Mitreisenden gut verstehen.

„Da wären wir!“, antwortete er gleich darauf.

Sie parkten vor einem der traditionellen weißen Kykladenhäuser mit ihren typischen gewölbten Dächern und den blauen, quadratischen Holzfenstern in den Wänden. Als sie auf die Hoftür zugingen, streckte der Professor gebieterisch seinen Arm aus und versperrte ihm den Weg.

„Alexandros, ich möchte, dass du bei dem Hausbesitzer mit deinen Äußerungen sehr vorsichtig bist.“ Seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser. „Wie du sehr gut weißt, hat ein Eigentümer mit ernsthaften Schwierigkeiten zu rechnen, wenn auf seinem Grundstück und in seinem Haus archäologische Funde gemacht werden. Er läuft Gefahr, dass er seinen Besitz verliert oder dass dieser im günstigsten Fall bedeutend an Wert einbüßt“, setzte er seine Erklärungen fort, wobei er gleichzeitig rasche Blicke um sich warf, weil er offensichtlich mit dem Erscheinen des Hausbesitzers rechnete. „Alles begann mit ein paar Geschichten, die ich im vergangenen Februar zufällig in einem Kaffeehaus in der Nähe gehört habe. Es hat mich einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, bis mir dieser Santoriner die Tür zu seinem Haus, genauer gesagt, zu den Kellerräumen geöffnet hat.“ Er hielt inne und schaute seinen Schüler mit verschwörerischer Miene an. „Und ich habe mich nicht auf Worte beschränkt, um das zu erreichen“, fügte er hinzu und rieb mit erhobener Hand drei Finger aneinander, um so die Zahlung eines beträchtlichen Geldbetrags anzudeuten.

„Keine Sorge, Professor, ich werde schon aufpassen. Aber jetzt kann ich es bald nicht mehr aushalten. Können Sie mir nicht wenigstens einen kleinen Hinweis geben, um was es hier geht?“ Seine Neugierde hatte ihren Höhepunkt erreicht, und die Fragen sprudelten nur so aus ihm heraus. „Was gibt es in diesem Keller zu sehen? Was kann denn so wichtig sein?“ Er neigte sich zu ihm und ermunterte ihn mit seinem Blick, mehr zu sagen. Aber der Professor trat zurück und sagte laut:

„Ein neuer Stein von Rosette, mein Lieber!“ Sein Gesicht strahlte. So hatte Alexandros ihn noch nie erlebt, weder in den Hunderten von Vorlesungen, die er besucht, noch an den endlosen Abenden mit tiefgründigen Diskussionen, die er mit ihm verbracht hatte.

„Ein neuer Stein von Rosette!“, wiederholte er jetzt auch mit lauter Stimme. Er war sich ohnehin sicher, dass der große schlanke Mann mittleren Alters mit den grau melierten Haaren, der auf sie zukam, um die Hoftür zu öffnen, keine Ahnung von der Bedeutung dieser Wörter haben dürfte.

Im Jahre 1799 entdeckte ein französischer Offizier zufällig einen gemeißelten Stein in der Nähe einer Garnison im Norden der unterägyptischen Stadt Rosette. Eine steinerne Stele, die die Entzifferung der Hieroglyphen und den Schlüssel zur Erforschung der ägyptischen Zivilisation in sich barg. Auf dieser Tafel befanden sich Inschriften, die in drei Bereiche unterteilt waren. Die beiden ersten Abschnitte waren in unterschiedlichen Schriftformen der altägyptischen Sprache verfasst, die bis dato nicht entschlüsselt werden konnten. Der dritte Abschnitt war jedoch auf Griechisch. Darin stand ein Hinweis, dass es sich um ein Dekret des Ptolemaios, Herrscher über Ägypten, handelte, und zwar in drei Sprachen! Ein Stück Stein löste auf einen Schlag das Rätsel, das Archäologen, Sprachwissenschaftler und Historiker jahrhundertelang vergeblich zu entschlüsseln suchten.

Alexandros machte sich innerlich auf das gefasst, was wohl als Nächstes kommen würde. Sollte es möglich sein, dass er vor einer so bedeutenden Entdeckung stand? Ein Augenblick, von dem die Archäologen ihr ganzes Leben lang träumen, den sie aber nur selten erleben dürfen? Vielleicht war sein geliebter Professor ja blind geworden vor lauter Eitelkeit und Leidenschaft, Chimären hinterherzujagen? Hatten ihn vielleicht die Jahre ständiger Suche und Forschung schließlich an den Rand des Wahnsinns getrieben? Schon in wenigen Minuten würden seine drängenden Fragen vielleicht auf die Realität prallen wie gewaltige Wellen, die auf Wellenbrecher treffen ...


Atlantis wird nie untergehen

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