Читать книгу Atlantis wird nie untergehen - Giorgos Koukoulas - Страница 9

6. EINE SONNE ZUVOR …

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„Ich werde seine Hoheit den Pharao sofort nach meiner Rückkehr unterrichten, mein Bruder, und dafür sorgen, dass euch so rasch wie möglich Hilfe gesandt wird.“

Er streckte beide Arme aus und legte seine Hände voller Zuneigung auf die Schultern Andrions, der um etliches größer war als er. Die Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, besonders in den letzten Tagen, hatte sie in aufrichtiger Freundschaft und gegenseitiger Achtung zusammengeschmiedet. Der junge Priester, der sich als Botschafter auf Strongyle aufhielt, befürchtete, dass sie sich vielleicht nicht wiedersehen würden.

„Hab Dank, Sonchis. Möge Poseidon auf der Heimreise dein Beschützer sein. Ich werde versuchen, dein Schriftgut in Sicherheit zu bringen und es dir dann von Knossos aus zusenden, sobald es möglich ist.“

Der General war gefühlvolle Abschiede nicht gewohnt, und ihm war unbehaglich zumute. Sonchis spürte es und versuchte, sich kurzzufassen. Es war jedoch seine Pflicht, seinen Freund noch einmal zu warnen.

„Andrion, du musst sehr vorsichtig sein. Du weißt, die Weissagung hat sich noch nicht erfüllt. Gib besonders acht, solange du in Akrotiri bist!”

„Um mich brauchst du keine Angst zu haben, mein Freund, die Götter entscheiden, und ich beuge mich immer ihren Beschlüssen.“

Aus seinem Beutel nahm er ein Stück weißen Stoff und gab es dem Priester, zusammen mit seinen letzten Ratschlägen.

„Die giftigen Gase verbreiten sich mit dem Wind in geringer Höhe. Wenn sich die Windrichtung ändert, können sie auch bis zu euch auf das Schiff gelangen. Sieh zu, dass du dein Gesicht bedeckst und dich so gut wie möglich schützt. Sage es auch den Seeleuten weiter. Es gibt Berichte über führerlose Schiffe mit toten oder bewusstlosen Besatzungen.“

„Ich werde mich vorsehen, Andrion. Möge Thoth, der Gott der Weisheit und des Mondes, dich zur sicheren Rettung geleiten.“ Er sprach den Abschiedsgruß mit brüchiger Stimme. Sacht nahm er die Hände von den Schultern seines Freundes und begab sich mit einem kleinen Sprung an Bord des Schiffes, das ihn in die Heimat bringen sollte.

„Pass auf dich auf, Ägypter!”, rief Andrion ihm nach und lächelte schwach wie jedes Mal, wenn er ihn scherzhaft mit dem Namen seiner Herkunft ansprach.

Für kurze Zeit verfolgte er, wie sich das Schiff aus Zedernholz mit dem hohen, spitz zulaufenden Bug, einem ebensolchen Heck und dem tiefen einteiligen Kiel entfernte. Diese Bauart sicherte den Schiffen von Strongyle zusätzlichen Schutz vor den Wellen. Sonchis setzte sich vor den rechteckigen Aufbau der Kapitänsbrücke, direkt unter den aufrecht stehenden Steuermann, der den doppelten hölzernen Ruderarm mit fester Hand führte. Etwas weiter unten hatten vor ihm die fünfzig Männer begonnen, gleichzeitig die Ruder in den Dollen zu bewegen, während vier Matrosen das farbenfrohe viereckige Segel am mittleren Mast hissten. Die Dollen, eine Halterung für die Ruder, waren eine Erfindung der minoischen Seeleute. Das Rudern ging dadurch leichter und machte die Schiffe schneller, was entscheidend zur Überlegenheit der minoischen Flotte beitrug. Die Befehle an alle Kapitäne lauteten, aus ihren Schiffen die höchste Geschwindigkeit herauszuholen. Niemand konnte genau wissen, wie groß der Sicherheitsabstand zur Insel sein musste.

Nachdem Andrion sich vergewissert hatte, dass sein Freund gefahrlos auf dem Heimweg war, bestieg er rasch sein Pferd und ritt im Galopp zur Hauptstadt. Die dringenden Befehle aus dem Palast zwangen ihn, die Aufsicht über das Einschiffen der Bevölkerung vorzeitig abzubrechen. Vor seinem Aufbruch aus Akrotiri hatte er noch dafür gesorgt, Theomenes, einem seiner besten Offiziere, den Oberbefehl zusammen mit den entsprechenden Anweisungen zu übergeben. Auf der ganzen Strecke kamen ihm verstreute Gruppen seiner Mitbürger entgegen. Sie liefen neben Pferdewagen her, auf die sie ihre wertvollsten Besitztümer geladen hatten. Ebenfalls beförderten sie damit Verletzte und andere, die keine weiten Wege laufen konnten. Schweigend zogen sie vorüber. Er erkannte die ausdruckslosen Gesichter von Menschen, die auf der Flucht sind. Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung zeichneten sich auf ihnen ab und dazu die Ungewissheit über das, was ihnen der morgige Tag bringen würde.

Er ritt über die erste Brücke und kam zum Landring, der zwischen der Hauptstadt von Strongyle und dem Rest der Insel lag. Dieser von Meer umgebene natürliche Ring lag zwischen der Stadt und der äußeren Insel und verband sie an vier sorgfältig ausgewählten Stellen durch jeweils zwei Holzbrücken. Das Meer in der Bucht veränderte unaufhörlich seine Farben. Von giftgrün wurde es rötlich und danach hellgelb. Ein übler Geruch stieg aus den Tiefen des Wassers auf. Als er zum Ende der zweiten Brücke ans Ufer der Hauptstadt kam, bot sich ihm ein grauenhafter Anblick. Leichen lagen aufeinandergehäuft auf dem unbebauten Gelände vor dem zerstörten östlichen Hafen wie Seelen, die zum Trocknen ausgebreitet waren. Es war das Bild des Todes selbst. Der Wind trug ihm den schweren Geruch des Blutes zu, das die Erde getränkt hatte. Wenn die Zeit und die Erdbeben es erlaubten, würden Arbeiter auf Befehl des Minos von Strongyle die Begräbnisse der Leichen an Ort und Stelle vornehmen.

Die Gasdämpfe, die an verschiedenen Stellen der Stadt aus der Erde aufstiegen, waren in vielen Fällen tödlich, wobei es besonders hohe Verluste unter Alten, Frauen und Kindern gab. Viele, die dem Tod entronnen waren, erblindeten vorübergehend. Diese Schrecken überzeugten auch die größten Zweifler unter den Bewohnern davon, dass es angeraten sei, ihr Zuhause zu verlassen. Die Schiffe, die von der einst stolzen, unbesiegbaren Flotte von Strongyle noch verblieben waren, hatten Zuflucht im Hafen von Akrotiri gesucht, von wo aus die Massenräumung der Insel durchgeführt wurde. Atlas, der Minos von Strongyle, hatte sich mit den anderen neun Königreichen in Verbindung gesetzt und sie gebeten, Maßnahmen für die Aufnahme seines Volkes zu treffen und für vorübergehende Unterkunft und Verpflegung zu sorgen. Er hatte Wert darauf gelegt, die Bevölkerung so zu verteilen, dass keiner der Bestimmungsorte übermäßig belastet wurde. Das Hauptziel der Schiffe war die Insel Kreta. Die Reiche von Malia, Phästos, Knossos und Zakros hatten bereits Vorbereitungen für den Empfang der Flüchtlinge getroffen.

Als Andrion an seinen unglückseligen Mitbürgern vorbeiritt, konnte er nicht unterscheiden, ob der Gestank von den toten Körpern oder von den Gasen stammte, die unaufhörlich aus den Tiefen der Erde aufstiegen. Er trieb sein Pferd zu schnellerem Galopp an, während er nun auf einer der gepflasterten Hauptstraßen, die zum Palast führten, durch dichter bewohnte Gegenden der Stadt ritt. Es ging bergauf, und das gutwillige Tier hatte Mühe, seine Geschwindigkeit unvermindert durchzuhalten.

Auf der gesamten Strecke hatten die Erdbeben der beiden vergangenen Wochen ihre Spuren hinterlassen. Besonders an den mehrstöckigen Häusern gab es umfangreiche Schäden. Viele Bewohner waren durch große Steinbrocken oder Holzbalken, die sich von Wänden und Decken gelöst hatten, ums Leben gekommen. Unter ihnen war auch Arsinoe.

Er dachte an sie, als er an ihrem halbzerstörten Elternhaus vorüberkam. In der Seitenwand klaffte eine Öffnung, durch die das Wandgemälde im Erdgeschoss zu sehen war, eine Landschaftsdarstellung mit bunten Lilien. Ein Gerüst zeugte von den anfänglichen Bemühungen der Arbeiter, das Haus zu retten. Nach den ersten großen Beben war die Erde sieben Tage lang ruhig geblieben, und Handwerker hatten begonnen, die Häuser mit den größten Schäden auszubessern. Als der Vulkan jedoch beschloss, sich mit Macht wieder in Erinnerung zu bringen, wurden alle Wiederaufbauarbeiten endgültig abgebrochen, und die Räumung der gesamten Insel hatte begonnen.

Arsinoe und ihre Schwester Euterpe waren Töchter des Adligen Zesson, des königlichen Zahlmeisters. Andrion hatte sie bei seinem letzten Aufenthalt auf Strongyle während der Prozession zu Ehren des Gottes Poseidon kennengelernt. Sofort hatten sich beide Schwestern in ihn verliebt, wie übrigens die Hälfte der weiblichen Bevölkerung der Insel. Als er eines Tages ihren Vater wegen Anschaffungen für das Heer aufsuchen wollte, war dieser nicht zu Hause. Seine Töchter ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen. Sie lockten ihn in die Frauengemächer des Hauses und drängten ihn, sich eine von beiden auszuwählen. Arsinoe war größer als die meisten Frauen, die er kannte. Die Natur hatte sie mit ausgeprägten Gesichtszügen bedacht, einem mandelförmigen Augenpaar und dunkler Hautfarbe. Gesicht und Körper hatten klare Linien, und volles, glattes schwarzes Haar umrahmte ihr ebenmäßiges Antlitz. Sie war sehr schlank, was ihre hochgewachsene Gestalt noch unterstrich. Euterpe war ganz anders, zierlicher, niedlicher und rotblond. Die Götter hatten sie mit anderen Reizen versehen. Sie erinnerte an saftige süße Feigen, die auch den verwöhntesten Genießer befriedigen konnten. Ihr üppiger Busen in einem offenherzigen Ausschnitt und zwei grüne Kulleraugen rundeten den verführerischen Anblick ab.

Andrion hatte nie Hemmungen in Liebesdingen gehabt, zumal die Freizügigkeit auf diesem Gebiet einer der bestimmenden Werte ihrer Gesellschaft war. Er erklärte den Mädchen, er sei nicht in der Lage, sich für eine von ihnen zu entscheiden, da er sie beide gleichermaßen aufregend fände. Ihre verschmitzt lächelnden Gesichter gaben ihm die verblümte Antwort und boten auch gleichzeitig die Lösung seiner heiklen Lage an. Euterpe kam mit langsamen kleinen Schritten auf ihn zu und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihre Lippen sanft auf seinen Mund zu pressen. Gleichzeitig begab sich ihre große Schwester hinter seinen Rücken. Mit geschickten Bewegungen löste sie den weißen Mantel von seiner rechten Schulter, legte den Arm um ihn und streichelte seine nackte Brust. Wie gut, dass ihr Vater nicht vorzeitig zurückkam. Doch bestimmt hatte er seine Töchter schon lange nicht mehr so glücklich und einmütig gesehen, als er spät abends heimkehrte.

Als er durch das Eingangstor des Palastes ritt, stellte Andrion fest, dass der einst so geschäftige, stets belebte Vorhof nun verödet war. Als er an den Außenanlagen mit den Lagerhäusern rechts und dem offenen Theater linkerhand vorbeikam, erhöhte er seine Geschwindigkeit. Eine vulkanische Gassäule hatte das Pflaster vor dem Theatereingang geschwärzt und in vier Teile gespalten. Der Anblick der vernachlässigten, von Unkraut überwucherten, einst kunstvoll angelegten Gärten rund um die Gebäude betrübte ihn. Die dichten Bäume und die bunten Blüten, die einst die Umgebung schmückten und nebenbei auch seine Liebesspiele mit den Mädchen des Hofes verborgen hatten, waren ihrem Schicksal überlassen worden. Ohne Pflege und Wasser - denn die letzten Erdbeben hatten die Bewässerungsanlagen zerstört - würden sie das gleiche Ende nehmen wie die Liebesbeziehungen, die am selben Ort aufgeblüht waren. Kurz darauf befand er sich im Haupthof vor den Marmorstufen, die zum Empfangssaal des Minos führten. Unter anderen Umständen hätte er bereits Dutzende von bekannten Adligen und Staatsdienern begrüßt, und die zahlreichen Wachen der Palastgarde hätten vor ihm salutiert. Sein heutiger Einzug erfolgte schweigend, und seine Begleitung bestand lediglich aus einem Rudel streunender Hunde. Er stieg die blütenweißen breiten Stufen hinauf und betrat die Vorhalle.

„Komm rasch, Minos Atlas erwartet dich bereits voller Ungeduld.”

Erymanthos, ein gebrechlicher kleiner Greis, der persönliche Berater und Freund des Königs, empfing ihn. Er hinkte ein wenig, sei es wegen einer früheren Verletzung, sei es aus Altersgründen, als er ihn ins Innere des Palastes führte, wobei er löbliche Anstrengungen unternahm, mit dem schnellen, ausladenden Gang des Generals Schritt zu halten. Als sie die Haupthalle durchquerten, knirschte der Sand, der von der Decke des oberen Stockwerks gerieselt war, laut unter ihren Füßen. Die vertraute Stimme des Minos hallte tief und fest im leeren Raum wider.

„Endlich, ich fürchtete schon, du würdest nie eintreffen!”

Er saß in ruhiger Haltung auf seinem Thron aus rotem Marmor. Vier eindrucksvolle Greife mit wallender Mähne zierten die Wände zu beiden Seiten, Fabeltiere mit Körper und Kopf eines Löwen und mit Adlerschwingen, die hoheitsvollen Häupter auf ihren König gerichtet. Die Decke der Halle ruhte auf zwei roten, sich verjüngenden Säulen mit viereckigen Sockeln. In den Ecken erhellten zwei auf hohen Porphyritblöcken befestigte Leuchten den Saal. Das flackernde Licht warf seinen zuckenden Widerschein auf die Greife. Ein plötzliches Aufleuchten ließ die Tiere lebendig wirken, als wollten sie sich geschmeidig aufrichten. Andrion trat näher an den König heran und erstattete Bericht über den Fortgang der ihm übertragenen Aufgaben.

„Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Durch die Aufsicht über das Einschiffen war für mich zwei Tage und Nächte an Schlaf nicht zu denken. Zum Glück ist mit den zusätzlichen Seglern, die uns die anderen Königreiche geschickt haben, die Verschickung der gesamten Bevölkerung möglich. Wir brauchen einfach mehr Zeit.“

Der Minos von Strongyle erhob sich, die Hände auf die Armlehnen des Throns gestützt.

„Ich war sicher, dass du es schaffen würdest. Jetzt aber habe ich einen neuen, noch wichtigeren Auftrag für dich. Der Fortbestand unserer Kultur und unserer Geschichte hängt davon ab.“

„Zu Befehl, Majestät, ich höre.“

Die Miene des Königs verhärtete sich, als er seine Anweisungen erläuterte. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt sprach er zu seinem General. Jedes einzelne Wort, das er aussprach, schmerzte ihn, doch er wusste, es war die Wahrheit, und er hatte keine andere Wahl.

„Wir müssen die wichtigsten schriftlichen Aufzeichnungen aus der Palastbibliothek retten. Das Herzstück unserer Kultur ist in diesen Tafeln verewigt, und der Fortschritt der künftigen Geschlechter hängt von ihnen ab. Die Weissagung hat sich noch nicht erfüllt, doch ich weiß nicht, ob es in unserer Hand liegt sie aufzuhalten. Ich fürchte sehr, dass das Ende unserer Insel bevorsteht.“

Andrion war bestürzt über die Mutlosigkeit seines Herrschers und versuchte, dessen Hoffnungen zu beleben. Heute erschien er ihm menschlicher denn je zuvor; streng, aber nicht so unbeugsam, wie er ihn die ganzen Jahre gekannt hatte.

„Aber wir haben alle notwendigen Maßnahmen ergriffen, um den Ort zu schützen. Unsere besten Soldaten bewachen Tag und Nacht alle Zugänge. Es ist unmöglich, dass sich die Prophezeiung erfüllt“, versicherte er ihm mit Nachdruck.

Der Minos setzte sich wieder und strich ruhelos die Falten seines Überwurfs glatt. Er bewunderte die Selbstverleugnung und den Mut seines Offiziers. Doch er selbst ließ sich in Wort und Tat weiter von der Weisheit leiten, mit der er sein Volk bisher gelenkt hatte. Eine schwarze Wolke verdunkelte seinen Blick, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

„Der Fortschritt durch unser großes Wissen und der Wohlstand machten uns überheblich gegenüber der Natur, junger Freund. Gib dich nicht der falschen Hoffnung hin, dass wir den Tod bezwingen und den Lauf der Zeit beherrschen können. Sie bestimmt über den Verfall jeglichen Lebens im Weltall.“ Er hielt inne und blickte ihm väterlich in die Augen. „Der Wert unserer Kultur liegt in der Zeit, die vergeht. Niemand hat die Macht, die Zeit anzuhalten. Wir können den Wettlauf mit dem Sand im Stundenglas der Ereignisse nicht gewinnen …“

Atlantis wird nie untergehen

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