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3. Die Entdeckung

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Ilias, der Besitzer des Hauses, war ausgesprochen freundlich zu den beiden.

„Ich lasse euch nicht gehen, bevor ihr nicht etwas gegessen habt. Sonst schiebe ich einfach einen Riegel vor die Kellertür und das war’s dann“, sagte er im Scherz.

Der Professor nahm Platz und steckte sich einen der kleinen traditionellen Kuchen von Santorin in den Mund. Sein Blick wanderte über die weißen Wohnzimmerwände, an denen Rahmen mit vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos der Familie hingen.

„Die nennen sich Meletinia“, erklärte ihnen Ilias. „Eigentlich ist es ein Ostergebäck, aber wir machen es das ganze Jahr über.“

„Nicht schlecht!“, sagte Alexandros und streckte seine Hand nach einem zweiten Stück aus.

Er konnte Vanille oder Mastix herausschmecken und wollte gern genauer überprüfen, ob er wohl mit seinen gastronomischen Vermutungen recht hatte. Das Gebäck vor ihm bot eine willkommene Ablenkung, um seine Ungeduld in den Griff zu bekommen. Dazu gab es den süßen lokalen Rotwein, bekannt als Vinsanto. Vom Hausherrn selbst hergestellt und in seinem Keller gelagert, dort, wo sie nun gleich hinuntersteigen sollten.

Vin-santo, das heißt Vino di Santorini, also Wein aus Santorin“, übersetzte der Professor mit erhobenem Glas und nahm zwei Schlucke.

Als sie wenig später die Treppenstufen hinabstiegen, berichtete ihnen Ilias voller Stolz in Kurzform von der Tradition seiner Familie, einer der bekanntesten der Insel auf dem Gebiet des Weinbaus und der Weinherstellung. Die Holzfässer standen rechts und links in zwei Reihen und füllten fast den ganzen Keller aus. Dazwischen ließen sie nur einen schmalen Korridor frei. Das Duftgemisch aus Most und Holz verbreitete sich im ganzen Raum. Direkt gegenüber, am Ende des Kellers, gab es eine verrostete Eisentür. Mit seinem Gesicht berührte Alexandros fast den Rücken des Professors. Wenn der ohne Vorwarnung stehen bliebe, würden sie zusammenstoßen. Doch Nikodimos blieb keineswegs stehen.

„Vielen Dank, Ilias, von hier aus kenne ich den Weg.“ Der Professor hatte es eilig, diesen lästigen Einheimischen loszuwerden. Er wollte seine Entdeckung endlich mit jemandem teilen, der ihre Bedeutung einschätzen konnte. Er holte einen langen Metallschlüssel aus seiner Tasche und ging zur Tür.

„Braucht ihr ganz sicher keine Hilfe dort drinnen?“ An Ilias’ Gesicht konnte man die Enttäuschung ablesen. Die wenigen spärlichen Haare, die bis jetzt an seinem kahlen Kopf klebten, stellten sich widerspenstig auf. Er hatte gehofft, dass die Anwesenheit des neuen Mitarbeiters auch für ihn ein gewisses Mehr an Information über die Arbeit des Professors mit sich bringen würde.

„Ganz sicher nicht!“

Ton und Lautstärke, mit denen der Professor antwortete, ließen keinen Zweifel an seinen Worten. Der Störenfried unter ihnen machte grummelnd eine Kehrtwende und zog sich verstimmt zurück.

„Das hier soll mal ein Abstellraum werden. Ilias hat kürzlich damit begonnen, seinen Keller auszubauen. Der Untergrund auf der Insel ist so beschaffen, dass die Leute hier gern ihre Kellerräume vergrößern, indem sie den leicht zu bearbeitenden Bimsstein aushöhlen.“ Die Stimme des Professors hatte den gewohnten dozierenden Ton angenommen, während er die behelfsmäßige Tür aufschloss.

Alexandros schlug das Herz bis zum Hals. Seine Sinne waren bis zum Äußersten überreizt.

„Und siehe, es ward Licht!“, rief der Professor aus und betätigte gleichzeitig den Schalter zu seiner Rechten.

Eine nackte Glühbirne, die in der Mitte von der Decke hing, verdrängte das dichte Dunkel der Kammer. Alexandros’ Blick streifte rasch durch den Raum. Rechts von sich erkannte er sofort die archäologischen Spezialwerkzeuge für Ausgrabungen. Besonders fielen ihm ein kleiner Spaten und eine Hacke auf. Daneben lagen ein Spachtel und ein Handfeger sowie Pinsel in verschiedenen Größen. Links gab es ein paar elektronische Geräte, einen Laptop und einen digitalen Fotoapparat. Die Wand ihm gegenüber war ausgehöhlt. Auf einem Erdhaufen auf dem Boden lag eine rechteckige Tafel mit eingeritzten Zeichen. In der Wandöffnung war im schwachen Licht eine weitere ähnliche Tafel zu erkennen, die bis zur Hälfte mit einer dicken Schicht Erde bedeckt war.

„Ist das denn die Möglichkeit?!“ Der junge Archäologe wollte seinen Augen nicht trauen. Er rückte seine Brille zurecht. Verwirrt blickte er sich um, unfähig zu begreifen, was er da sah. Es war etwas, worauf er trotz seiner reichen Erfahrung nicht vorbereitet war. Μit religiöser Andacht kniete er vor der schräg liegenden Tafel nieder und begann, sie eingehend zu mustern, ohne sie dabei zu berühren. „Das ist wahrscheinlich Linear A, aber nicht nur ... da sind auch ... aber ist das denn die Möglichkeit?“ Seine Stimme zitterte, während er versuchte zu begreifen, was er da vor sich hatte.

„Ja, mein lieber Freund! Es sind Tontafeln, in die mit einem spitzen Werkzeug Schriften in den feuchten Ton eingeritzt wurden, und die danach in der Sonne trockneten“, der Professor lieferte die Antwort auf die Frage, die sein Schüler noch nicht zu stellen gewagt hatte, und fuhr mit der Erläuterung fort: „Linear A im oberen Teil der Tafel und direkt darunter eine Form von ägyptischen Hieroglyphen.“

„Haben Sie schon etwas entziffert? Gibt es schon Ergebnisse? Lässt sich der Text lesen?“ Alexandros’ Fragen prasselten wie Regen auf den Professor nieder.

„Wenn du nicht so aufgeregt wärst, hättest du es normalerweise bemerkt“, stellte Nikodimos fest, der seine Eigenschaft als gestrenger Lehrer nicht einfach abstreifen konnte. „Die Geschichte der ersten Funde mit ägyptischer Schrift beginnt 2600 v. Chr. Das hier sind Hieroglyphen der mittelägyptischen Sprache. Die gängige Schriftsprache des Mittleren Reichs im Zeitraum von 2050 bis 1450 v. Chr., die für Monumente, Inschriften, religiöse und literarische Zwecke benutzt wurde.“

„Können wir sie übersetzen?“ Eine Frage jagte die andere.

„Zu unserem großen Glück befindet sich einer der Besten seines Fachs gerade hier auf der Insel. Mein guter alter Freund Howard, Leiter des Fachbereichs für Archäologie und Anthropologie an der Universität Bristol. Wir sind heute noch mit ihm verabredet, um über die Resultate zu sprechen, die die Entzifferung der ersten Tafel ergeben haben.“

„Hier am Ende, hinter dem Hieroglyphentext, gibt es noch etwas ... noch ein Wort ... in Linear A ...“ Alexandros brachte die letzten Worte nur stockend und mit Mühe hervor. Die staubbedeckte Platte befand sich wenige Zentimeter vor ihm. Dieser antike Gegenstand schien etwas auszudünsten, das ihm in die Poren drang. Zur großen Überraschung des Professors tat er etwas, was ein absolutes Unding war: Er verletzte die erste Grundregel, an die sich selbst noch der unkundigste oder unerfahrenste Archäologe hielt. Wie hypnotisiert berührte er mit sanften Fingerspitzen das letzte Wort, das in die Platte eingeritzt war.

Plötzlich löste sich die Zeit auf. Sein Blick trübte sich, der Raum begann sich zu drehen. Es wurde warm und stickig, und er fühlte, wie er den Boden unter den Füßen verlor. Sein Körper hielt es nicht länger aus. Das Bild schien von irgendwo anders herzukommen, aus einer Schattenwelt, die keinen Bezug zur Wirklichkeit hatte. Gestalten und Gegenstände, die Natur selbst, ruhten dort in ewiger, nebulöser Starre, außerhalb von Raum und Zeit. Verworrene Bilder eines Mannes mit hartem, entschlossenem Gesicht auf einem Pferd. Lärm, Explosionen, Rauch ...

„Alexandros!

Alexandros!

Alexandros, mein Junge, komm zu dir!“

Langsam kam er wieder zu Bewusstsein. Hinter den beschlagenen Gläsern seiner Brille erkannte er vage das vertraute Gesicht des Professors, das besorgt über ihn gebeugt war. Er hatte ihn mit beiden Händen gepackt und rüttelte ihn an den Schultern.

„Was ist passiert?“ Benommen öffnete er seine Augen etwas weiter.

„Alexandros, mein Junge ... Nicht einmal ich habe so reagiert, als ich die Tafeln zum ersten Mal zu Gesicht bekam!“ Von der Sorge befreit, machte der Professor schon wieder Scherze, sobald er sah, wie sein Schützling wieder Farbe bekam und sein Bewusstsein erlangte. „Du bist in Ohnmacht gefallen, wahrscheinlich ist die Hitze daran schuld. Die ganze Aufregung und die anstrengende Reise nicht zu vergessen. Lass uns hinaus an die frische Luft gehen, damit du wieder richtig zu dir kommst.“ Er sah auf seine Uhr. „Vergiss nicht, dass wir gleich ein wichtiges Treffen haben.“

Der frische Fahrtwind im offenen VW-Käfer war die beste Medizin, um nach der Ohnmacht wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Nachdem sich der Professor vergewissert hatte, dass sein Schüler körperlich und geistig wieder auf dem Damm war, konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken, aber innerlich kochte er. Alexandros’ Verhalten gegenüber dem Fundstück war unbegreiflich.

„Was ist nur in dich gefahren, die Platte zu berühren? Du mit deiner ganzen Erfahrung von bedeutenden Ausgrabungen! Ich kann dich wirklich nicht verstehen.“

Alexandros wusste natürlich, dass Nikodimos ihn früher oder später danach fragen würde. Jetzt war der Moment gekommen, vor dem er sich gefürchtet hatte. Das Schlimmste war, dass er nicht einmal annähernd eine überzeugende Antwort parat hatte. Die Wahrheit würde ihn in den Augen des Professors nicht gerade vertrauenswürdig aussehen lassen. Wahrscheinlich würde er sogar die Zusammenarbeit mit ihm beenden, noch bevor sie überhaupt begonnen hatte. Nein, er musste die Wahrheit verheimlichen.

„Mir kam das Wort ganz unten auf der Tafel bekannt vor, aber auf dem letzten Schriftzeichen lag etwas Erde, und es war nicht gut zu erkennen. Ich habe mich von meiner Begeisterung mitreißen lassen und versucht, diese Stelle mit den Händen zu säubern. Es wird nicht wieder vorkommen, das verspreche ich Ihnen“, bekannte er zögerlich und fuhr fort: „Vielleicht können Sie mein stümperhaftes Verhalten dadurch entschuldigen, dass ich von dieser einzigartigen Entdeckung einfach überwältigt war.“

Es war das erste Mal, dass er den Professor anlog. Im alltäglichen Leben benutzte er öfter mal kleine Notlügen. Außerdem war er davon überzeugt, dass alle Menschen notgedrungen ab und zu lügen müssen. Es liegt einfach in ihrer Natur. Niemand könnte so ehrlich bis zur Grobheit sein, um alles geradeheraus zu sagen.

Was ist das denn für eine blöde Frisur?

Du bist aber dick geworden!

Was redest du da für einen Stuss?

Was hast du heute bloß für grauenhafte Klamotten an?

Solche Gedanken gehen uns jeden Tag Dutzende Male spontan durch den Kopf, ohne dass es uns bewusst ist, und natürlich sollten wir nicht jeden davon aussprechen. Also lügen wir alle unter bestimmten Umständen. Diese Lügen sind unwichtig und harmlos und machen unser Leben etwas angenehmer. Reine Überlebenstaktik. Eine verbreitete Strategie, die das soziale Miteinander der Menschen leichter macht. Wie er beobachtet hatte, reichen die Wurzeln für dieses durchaus menschliche Verhalten bis in die Kindheit zurück. Selbst als unschuldiges Kleinkind beherrschen die meisten von uns bereits die Kniffe des Betrugs und wenden sie, wenn nötig, ausgesprochen raffiniert an. Sein kleiner Neffe flüchtete sich oft in unbedeutende, gerissene Schummeleien, um einer Strafe zu entgehen oder um Bewunderung einzuheimsen. Dieses instinktive Verhalten ist bei Kindern nur offensichtlicher und unbeholfener als bei Erwachsenen.

Doch was war gerade wirklich geschehen? Nicht einmal er selbst war sich da sicher. Hatte er etwa Visionen? Waren es Tagträume? Hatte ihn eine unbezwingbare Macht, die er nicht kontrollieren konnte, dazu gedrängt, die Tafel zu berühren? Es gab keine wirkliche Erklärung für das, was im Keller geschehen war. Er konnte nur Vermutungen anstellen. Mit diesen Überlegungen beruhigte er sein schlechtes Gewissen, und er versuchte, nur noch daran zu denken, was für aufregenden Funden er gerade begegnet war.

Der Professor, der ahnte, dass seinen Schüler und Freund düstere Gedanken quälten, versuchte die angespannte Stimmung etwas aufzulockern.

„Das letzte eingeritzte Wort, das dir auch aufgefallen ist, ist übrigens auch das einzige, das ich bisher übersetzen konnte. Es hat mich ebenso beeindruckt wie dich.“

Er nahm die eine Hand vom Lenkrad, holte einen Zettel aus seiner Hosentasche und gab ihn Alexandros. Darauf standen die Silben:

a-di-ri-jo

„Das bedeutet Andrion oder Αndrionas. Es handelt sich wahrscheinlich um einen Namen, dessen Wurzel wohl von dem altgriechischen Wort ανδρείος stammt.“ Er fuhr fort, das Wissen seines Schülers aufzufrischen: „Wie du dich sicher erinnerst, ist die Linearschrift B von einem englischen Funker der RAF und Architekten namens Ventris in den 1960er-Jahren entziffert worden. In Zusammenarbeit mit dem Sprachwissenschaftler Chadwick gelang es ihm, die meisten Symbole zu entschlüsseln und zu beweisen, dass diese Schrift griechisch ist. Sie besteht vor allem aus Silbenzeichen und unterscheidet sich von Region zu Region. Sie wurde von links nach rechts geschrieben, so wie wir auch heute noch schreiben. Man vermutet, dass die Linearschrift A der Vorläufer der Linear B ist. Obwohl sie bis heute nicht entziffert wurde, gibt es viele Gemeinsamkeiten. Unser Fund bestätigt also zunächst einmal die Verbindung der Linear A mit der griechischen Sprache.“

Gerade als der Professor den Satz beendete, fuhr das Auto in eine scharfe Haarnadelkurve und gelangte auf eine Straße, die zu beiden Seiten hin offen war. Ein starker Luftstrom erfasste plötzlich den Zettel, der dem überraschten Beifahrer aus der Hand wehte.

„Keine Angst, die Aufzeichnungen sind gesichert. Ich habe eine Kopie zu Hause bei meinen Unterlagen“, beruhigte der Professor Alexandros, der dem Zettel hinterher sah, wie er langsam mit kleinen Kreisbewegungen in den Krater des schlafenden Vulkans schwebte.


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