Читать книгу Atlantis wird nie untergehen - Giorgos Koukoulas - Страница 8
5. Die Theorie
ОглавлениеBeim Anblick der blendend weißen Kykladenhäuser, die sich den steilen Abhang hinunterzogen, musste er die Augen zusammenkneifen. Was für eine einmalige Landschaft! So etwas konnte man nur auf Santorin bestaunen, am Rande der Caldera eines Vulkans, der mitten im Meer immer noch tätig ist.
Alexandros drehte sich zu Howard um, der bereits mit seinen Ausführungen begonnen hatte.
„Es ist mir noch nicht gelungen, die erste Tafel, die du mir als Foto gemailt hast, vollständig zu übersetzen.“ Der große schlanke Mann unterbrach sich, um etwas Tee aus einer weißen Porzellantasse zu nippen, und fuhr fort: „Diese Schreibweise ist schon seltsam. Sicher hat der Inhalt nichts mit Buchhaltung und Lagerlisten zu tun, wie es bei den meisten Linear-A-Tafeln der Fall ist, die bisher entdeckt wurden.“
Der junge Archäologe hing seinen Gedanken nach. Einen Moment lang starrte er auf das Hosenbein der abgewetzten Cordhose seines Gesprächspartners, das ihm im Sitzen bis kurz unters Knie hochgerutscht war. Ein farbenfrohes, gepunktetes Oberhemd mit hohem Dreieckskragen, wie es in den 1960er-Jahren Mode war, rundete diesen Aufzug ab. Ein echter Stilmix in Sachen Bekleidung. Howard sprach weiter:
„Es geht um eine Art Bekanntmachung oder um einen Orakelspruch, der aus drei Teilen besteht. Im ersten Abschnitt steht das Wort Tod. Ich denke, in ein bis zwei Tagen haben wir es dann komplett übersetzt.“
Es war die Stunde des Sonnenuntergangs. Dort, wo sich der Himmel mit dem Meereshorizont vereinte, vollzog sich ein Farbenschauspiel in allen denkbaren Rottönen, als könnte sich der Himmel für keine Nuance entscheiden. Die drei Freunde saßen in einem der vielen Cafés von Fira draußen an einem Tisch, direkt über dem Abgrund des Vulkans. Der Doktor des Instituts für Archäologie an der Universität Bristol erhob die Stimme.
„Im Gegensatz dazu sind wir bei der zweiten Tafel schon weitergekommen.“
Nikodimos’ Miene hellte sich auf.
„Was meinst du damit?“
Er spürte die Aufregung des Professors und machte eine kleine sadistische Pause, bevor er fortfuhr.
„Es ist ein offizielles Grußwort von jemandem mit Namen Minos Atlas an den Pharao Ahmose von Ägypten in der Stadt Avaris.“
Für ein paar Momente herrschte Stille. Selbst Nikodimos, der eigentlich schlagfertig und durch seine Beschäftigung mit der Archäologie großartige Entdeckungen gewohnt war, nahm seine beschlagene Brille ab und war sprachlos. Als er sich von der Überraschung erholt hatte, sprang er von seinem Stuhl auf.
„Das ist ja ... Die ersten Beweise, genau, wie ich es vermutet habe!“
Alexandros versuchte, dem Gespräch zu folgen.
„Erste Beweise für was?“
Nikodimos lehnte sich nun mit dem Weinglas in der Hand bequem in seinen Regiestuhl zurück. Mit offensichtlicher Genugtuung begann er, seine Theorie zu erläutern. Er sprach Englisch, um von beiden verstanden zu werden.
„Der Pharao Ahmose regierte zu Beginn des Neuen Reiches. Genauer gesagt, gehört er zur 18. Dynastie dieser Periode. In der Forschung wird seine Herrschaft etwas vage zwischen 1650 und 1550 v. Chr. angesiedelt.“
„Das bedeutet?“ Alexandros stellte seine Frage aus Respekt vor dem englischen Kollegen auch auf Englisch.
„Das bedeutet, dass uns die Tafeln in eine Zeit versetzen, auf die auch der große Vulkanausbruch von Santorin datiert wird. Und nicht nur das!“ Ein vorsichtiges Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht des Engländers neben ihm ab und zeigte, dass er im Gegensatz zu Alexandros begonnen hatte, sich dem Gedankengang des Professors anzuschließen. „Zunächst einmal bestätigt es die Theorie, dass sich der Name Minos nicht auf eine bestimmte reale Person bezieht wie in der Sage vom Minotauros, sondern einen Königstitel darstellt, wie der Thronname bei den ägyptischen Pharaonen. Die wichtigste Erkenntnis daraus ist jedoch, dass die Bezeichnung Minos Atlas eine Verbindung zwischen der Sage von Atlantis und Santorin, der minoischen Zeit und dem prähistorischen Ausbruch ihres Vulkans herstellt!“
„Der Fund ist sicher sehr bedeutend, aber ich glaube nicht, dass man die Theorie allein damit zuverlässig untermauern kann.“ Alexandros war schon immer ein Skeptiker. Nie hatte er sich ohne ausreichende Beweise zu Theorien verleiten lassen. Vielleicht lag es an der Verbindung aus Wissen und Forschungsphilosophie, die er durch sein Physikstudium und seine intensive Beschäftigung mit der Astronomie erworben hatte. Es war außerdem auch eine der besonderen Fähigkeiten, durch die er sich beim Archäologiestudium immer hervorgetan hatte, und die Nikodimos an ihm schätzte.
„Aber es sind ja nicht nur diese Angaben!“ Nikodimos war nun nicht mehr zu bremsen. „Auf der Tafel wird auch Avaris erwähnt, die Nachbarstadt von Sais. Versuch dich doch einmal ein wenig an unsere Seminare über Platon zu erinnern.“
„Ja, natürlich, stimmt, Platons Dialoge Timaios und Kritias.“ Befriedigt und mit wiedergewonnenem Selbstbewusstsein zeigte der ehemalige Student, dass er dem Gespräch nun folgen konnte.
„Genau, mein Lieber, in seinem Dialog Timaios erwähnt Platon, dass der Athener Gesetzgeber Solon ägyptische Priester in einem Tempel der Stadt Sais aufgesucht hatte. Dort enthüllten sie ihm die Existenz von Atlantis, einem Imperium zur Zeit von Solons Vorfahren. Dass es an Informationen über das Vorhandensein dieser Kultur mangelte, begründeten sie mit dem langen Zeitraum, der seitdem verstrichen war, aber auch mit zwischenzeitlichen Katastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen und Bränden.“
Der Kellner unterbrach höflich das Gespräch und fragte am Tisch, ob sie noch etwas bestellen wollten. Die Runde schüttelte synchron den Kopf. Unbewusst hegte Alexandros weiterhin Zweifel an der Theorie. Fragend hob er die Augenbrauen.
„Solon sagt aber auch, dass die Zivilisation von Atlantis nach Aussage der Priester vor etwa neuntausend Jahren ihre Blütezeit hatte.“
Vor seiner Antwort nahm der Professor ohne Eile mit gemessenen Bewegungen einen Schluck von dem Weißwein, den er bestellt hatte.
„Mein lieber Freund, wie ich in meinen Vorlesungen über die griechische Antike und die Weltgeschichte immer wieder betont habe, steckt in der Mythologie stets ein wahrer Kern. Die reale Geschichte verwandelte sich eben im Laufe der Zeit durch die Überlieferung von Mund zu Mund, denn es gab noch keine Möglichkeit, sie schriftlich festzuhalten, und so entwickelte sie sich zu einem Mythos. Neuntausend Jahre vor Solon lebte die Menschheit noch im Neolithikum. Alle Grabungsfunde aus dieser Zeit beschreiben eine primitive menschliche Spezies. Der einzige Hinweis auf eine Zivilisation waren nur ein paar Steinwerkzeuge. Es war die Zeit, als der Mensch gerade seine ersten Versuche unternahm, das Land zu bestellen und in begrenztem Maß primitive Siedlungen zu errichten. Kann es denn möglich sein, dass es damals eine technologisch so entwickelte Zivilisation gab, ohne dass wir einen einzigen Hinweis darauf haben?“
Alexandros nickte. Langsam freundete er sich mit der Theorie des Professors an.
„Ich stimme Ihrer Auffassung zu, Professor, aber wohin führt uns diese Annahme außer in eine Sackgasse?“
Die Erklärung kam postwendend und mit Nachdruck. Nikodimos sprach laut und deutlich und unterbrach sich nur, wenn er einen Schluck Wein nahm.
„Es gibt keine Sackgassen im ewigen Lauf der Geschichte. Im antiken Ägypten galt ein anderes Kalendersystem als in Griechenland. Es ist bekannt, dass die alten Ägypter keinen Zeitraum kannten, das heißt, sie hatten keine lineare Chronologie mit einem bestimmten Ausgangspunkt. Sie benannten die Ereignisse in Bezug auf das Jahr der Regentschaft des jeweiligen Pharaos. Das ist auch der Hauptgrund, warum es keine genaue Chronologie der Dynastien gibt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass bei der mündlichen Überlieferung der Atlantislegende irgendwo eine Null hinzugefügt wurde. Wenn wir diese Null wieder entfernen, machen wir eine kleine Zeitreise und landen dabei neunhundert Jahre vor Platons Schilderung. Wenn wir außerdem berücksichtigen, dass Solon ungefähr 600 v. Chr. nach Ägypten fuhr, und wenn wir das dann addieren ...“
„Aber ja, ungefähr 1500 v. Chr. ... Ganz nah am Jahr des Vulkanausbruchs!“ Dieses Mal sprang Alexandros von seinem Sitz auf.
„Ziehen wir vielleicht voreilige Schlüsse? Wir sollten besser nicht vorgreifen und lieber diese unerwartete archäologische Entdeckung ihren Gang gehen lassen.“ Der Dritte in der Runde unternahm einen Versuch, die Ereignisse objektiv zurechtzurücken. Auf die phlegmatische, ruhige Art, die englische Lehrkräfte gewöhnlich auszeichnet, fuhr er fort, seine vorsichtigen Überlegungen auszuführen. „Wir haben bereits zwei Tafeln und es sieht ganz so aus, als ob wir noch mehr finden werden. Tafeln mit wertvollem Material, das übersetzt und entschlüsselt werden will. Wir wollen uns doch nicht an diesem hoffnungsvollen Unternehmen mit unbegründeten und bisher unbewiesenen Theorien vergehen.“
Das Statement von Dr. Howard Donaldson nahm der Diskussion ein wenig von ihrer Hitzigkeit. Die Freunde legten beim Schlagabtausch der Standpunkte eine kurze Pause ein. Alexandros beugte sich vor und bewunderte von oben die Landschaft, die sich zu ihren Füßen ausbreitete.
Dem Vulkan gegenüber lag die Insel Thirasia. Santorin im Kleinformat. Mit den gleichen senkrecht abfallenden Felswänden zum Meeresbecken hin und der flachen Landschaft auf der Rückseite. Die Insel bildet eine natürliche Verlängerung der übrigen ringförmigen Caldera. Rechts von ihr weitet sich das Meer bis zur Westseite von Santorin, wo die Siedlung Ia liegt. Links von Thirasia ist die Meeresöffnung breiter und wird von der anderen Spitze Santorins begrenzt, die in den blendend weißen Häusern des Dorfes Akrotiri ausläuft. In der Mitte dieser Öffnung liegt eine unbewohnte kleine Insel mit dem Namen Aspronisi, so als wollte sich hier die Lücke schließen und das Rund des Vulkankraters wieder in seiner ursprünglichen Form herstellen. In der Mitte dieses Meeresbeckens haben die Lavamassen zwei kleine pechschwarze Inseln gebildet. Die riesenhaften Kreuzfahrtschiffe, die in der Caldera vor Anker lagen, sahen von hoch oben, wo sich ihr Tisch befand, wie winzige Boote aus.
Währenddessen war Alexandros immer noch dabei, die letzten Informationen zu verarbeiten, und er versuchte, in der Theorie des Professors Wahrscheinliches und Unwahrscheinliches zu trennen. Er gab sich Mühe, sich die Vorlesungen über die Werke Platons wieder ins Gedächtnis zu rufen, die er vor Jahren besucht hatte. Er erinnerte sich an den philosophischen Dialog Kritias und er dachte daran, wie er sich damals anhand der Beschreibungen Atlantis ausgemalt hatte. Platon sprach von einem Hügel in der Mitte einer Insel, die von Meeres- und Landringen umgeben war. Die Insel besaß, wie Platon erwähnte, hohe Steilküsten, die wie Wände aus dem Meer ragten. Die Landringe in der Mitte der Insel waren durch Brücken miteinander verbunden. Die Hauptstadt war in einer Ebene errichtet und von wunderschönen Bergen umgeben.
Er verglich das Bild von Atlantis, das er sich unter dem Einfluss von Platons Worten vorgestellt hatte, mit der Landschaft, die sich jetzt vor ihm ausbreitete. Der ihm eigene kühle Verstand und sein Skeptizismus konnten nicht verhindern, dass er feststellen musste: Es gab Gemeinsamkeiten zwischen beiden Bildern. In der Beschreibung des Philosophen fanden sich viele Angaben, die mit der heutigen Landschaft zusammenpassten.
Doch dann kamen ihm wieder Zweifel. Es gab auch Einzelheiten in der Schilderung, die die Theorie von der Übereinstimmung Santorins und Atlantis’ ins Wanken brachten. Während diese Details Stück für Stück in Alexandros’ Erinnerung zurückkehrten, begann ein neuer Reigen des Zweifelns, mit dem er die Theorie infrage stellte.
„Bei Timaios erwähnt Platon, dass die Stadt am Eingang zu den Säulen des Herkules lag. Er berichtet von einer Macht, die vom Atlantischen Ozean aus angriff, und von einem Kontinent, der die Größe von Libyen und Asien zusammen übersteigt.“
Der Professor war auf die unerwartete Wiederaufnahme der Diskussion nicht vorbereitet. Er brauchte ein paar Augenblicke, um seine Gedanken zu sammeln, die sicher gerade Tausende von Jahren zurück gewandert waren, bevor sein Schüler die Frage stellte. Er wollte einen Schluck Wein trinken, aber sein Glas war leer.
„Mein lieber Freund, ich sehe, du legst deinen Panzer aus Skeptizismus nie ab. Du hast dir nur die Unterschiede herausgesucht und lässt die Gemeinsamkeiten in Platons Beschreibung außer Acht. Nun gut ... Das ist schließlich der Grund, warum du mir schon von Anfang an aufgefallen bist. Du stehst fest mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen!“
Beim Sprechen bedachte er seinen Schützling mit einem nachsichtigen Lehrerlächeln und führte seine Hypothese zu Ende.
„Du vergisst, dass es in der Epoche, von der wir sprechen, nicht einmal im Ansatz die Voraussetzungen zum Kartieren und Vermessen von Inseln oder Kontinenten gab. In der griechischen Antike konnte kein Mensch die Größe Asiens oder Libyens berechnen, auch in der Zeit Platons nicht. Und wenn die alten Griechen Libyen sagten, so meinten sie damit natürlich den ganzen afrikanischen Kontinent. Stell dir vor, um wie viel schwieriger es tausend Jahre vor Platons Zeit gewesen sein musste, damals als der Mythos entstand, die tatsächliche Größe einer Insel oder eines Kontinents objektiv zu berechnen.
Auch die Möglichkeiten der Schifffahrt und der Versorgung mit Proviant schließen es aus, dass in der Zeit, von der wir sprechen, so weite Reisen unternommen wurden, besonders auf offener See bei extremen Wetterverhältnissen ...“
Jetzt war für den Engländer in der Runde der Moment gekommen, die Theorie auf seine Art anzuzweifeln.
„Warum gibt es eigentlich bei Platon in den Dialogen so viele Ungenauigkeiten?“
Der Professor hörte ihm zu, ohne dass sich seine Mimik änderte oder auch nur den Hauch einer Regung zeigte. Es war offensichtlich, dass er sich die gleichen Fragen bereits selbst gestellt hatte und die Antworten parat hielt.
„Vergesst nicht, unter welchen Umständen der Mythos entstanden ist. Platon benutzte ursprünglich eine Geschichte, die ihm sein Schüler überbrachte, um die Größe der Griechen und vor allem der Stadt Athen zu demonstrieren. Der eigentliche Zweck des Dialogs war hervorzuheben, dass die Athener das vordem überlegene Reich Atlantis militärisch besiegt hatten. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass er die Ereignisse und ihre Größenordnung in vielen Punkten übertrieb, um so dem Sieger einen übersteigerten Wert zu verleihen. Er verwandelte eine Insel in einen Kontinent und erhöhte notwendigerweise die Entfernungen, wobei er ihnen mythische Ausmaße gab und die historische Wahrheit verdrehte. Platon lebte im Athen des Peloponnesischen Krieges, einer Zeit, in der die Stadt nach der beschämenden Niederlage gegenüber Sparta mehr denn je moralische Unterstützung brauchte.
Es besteht auch noch die Möglichkeit, dass die Ägypter selbst im Laufe der Zeit die historischen Fakten verzerrten. Wir dürfen außerdem nicht vergessen, dass sie zum Meer immer ein schlechtes Verhältnis hatten und ihre Beschäftigung mit der Seefahrt minimal war. Sie beschränkten sich auf einfache Fahrten mit Kähnen auf ihren Flüssen, vor allem auf dem Nil. Es ist vielsagend, dass sie das Ägäische Meer das Große Grüne nannten. Sie hatten also kaum Kenntnisse über die geografische Lage und die Größe der Inseln, mit denen sie Handel betrieben oder anderen Kontakt hatten.
Mit einem weiteren Detail widerlegt sich Platon selbst bei der Annahme, dass die versunkene Insel im Atlantischen Ozean liegt. Er berichtet nämlich, dass bei der Katastrophe, als Atlantis in nur einem Tag und einer Nacht versank, auch das gesamte Athener Heer unterging. Es ist unmöglich, dass sich eine Naturkatastrophe im Atlantik dermaßen vernichtend auf die geografische Lage Athens hätte auswirken können, ohne dass wir gleichzeitig auch Spuren dieser Katastrophe in den Gebieten hätten, die dazwischen liegen.“
Alexandros gab sich Mühe, die Menge an neuen Informationen aufzunehmen und zu beurteilen. Sein Rationalismus stand dem Ganzen heftig entgegen. Die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer, während er weiterhin hartnäckig an der Theorie zweifelte.
„Doch da ist ja auch noch Aristoteles. Der große Philosoph und bedeutendste Schüler Platons bezeichnete die Erzählung von Atlantis als Hirngespinst.“
„Sehr richtig“, erwiderte Nikodimos mit unerwarteter Begeisterung und fuhr lehrmeisterlich fort: „Aber in der Antike gab es auch eine Schar von Unterstützern für die Glaubwürdigkeit dieser Geschichte. Die nachfolgenden Philosophen Poseidonios, Krantor und Proklos, aber auch der Geograf Strabon, sie alle befürworteten teilweise, dass die Beschreibung von Atlantis auf realen Tatsachen beruht. Was Aristoteles angeht, darfst du nicht vergessen, dass er sich in hohem Maße von vielen Ideen und Thesen seines Lehrers absetzte. Deshalb heißt es ja auch, dass Platon ihn Füllen nannte, ein Fohlen, das seiner Mutter in den Bauch tritt, kaum dass sie es geboren hat.“
Der Professor schien auf alles eine Antwort zu haben. Als er zu Ende gesprochen hatte, nahm Howard den Faden des Gesprächs auf.
„Unter all den Ungenauigkeiten, die der Mythos enthält, müssen wir also die wahren historischen Daten finden. Wir suchen nach einer Stecknadel im Heuhaufen. Es stimmt schon, dass die Theorie, die du uns erläutert hast, viele solide Grundlagen und rationale Erklärungen hat. Du weißt aber auch, dass ein Mythos viele verschiedene Deutungen zulässt. Ohne Beweise ist jede Theorie denkbar, aber nichts davon ist untermauert. Bevor die Texte nicht sachkundlich und sprachwissenschaftlich analysiert worden sind, ist alles, was wir sagen, nichts als reine Spekulation.“
Alexandros konnte sich der Meinung des peniblen Doktors von der Uni Bristol nur anschließen. Es gibt Dutzende von Beispielen in der Geschichte archäologischer Forschung, die mit großen Erwartungen begannen und am Ende in eine ergebnislose Sucherei ausarteten. Die Theorie war beeindruckend und plausibel, aber die Lücken waren groß.
Natürlich würde der Professor nicht so leicht aufgeben. Er machte sich nicht mit dem Feuereifer eines Sammlers an die Arbeit, sondern mit der ruhigen Sorgfalt des Handwerkers, der die Ärmel hochkrempelt, um die Teile eines zerbrochenen Gefäßes zusammenzufügen. Er war davon überzeugt, dass sie zu den verborgensten Geheimnissen eines Volkes vorgedrungen waren, das vor Tausenden von Jahren in der Geschichte verschwunden war. Er hatte es nicht eilig, er hatte keine Gegner und er genoss die Aussicht auf eine kontinuierliche, tief schürfende Recherche.
„Darum sind wir heute hier, meine Freunde. Die Tafeln, die wir entdeckt haben, bergen vielleicht den Schlüssel zur Wahrheit, nach der wir suchen. Vielleicht verwandeln sie die Stecknadel im Heuhaufen in einen Esel ... Und glaubt mir, den zu finden, wird uns sicher gelingen!“