Читать книгу Ein Tag wird kommen - Giulia Caminito - Страница 11

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Suor Clara sah aus dem höchsten Fenster hinab, vom höchsten Punkt der Mauern aus, die errichtet worden waren, um ihre Stille noch weiter von der Welt abzuscheiden.

In dem schmalen Hof, den sie von dort oben sehen konnte, gab es nur vertrocknete dunkle Wurzeln, wirre Grasbüschel und widerspenstigen Efeu.

Und wenn man bedachte, dass in demselben schmalen Hof einst drei große Zitronenbäume gestanden hatten, weshalb er den Namen Zitronenhain trug, den die Schwestern hegten und pflegten, wie man in den Häusern des Adels das Tafelsilber pflegt.

An den Erntetagen stieg der frische Duft von unten auf und erinnerte alle daran, dass die Zeit der Marmeladen, der Liköre und der in Alkohol eingelegten Früchte gekommen war.

Behutsam wurden die Zitronen einzeln gepflückt, in Körbe gelegt, die in die Küche und die Vorratskammern geschafft wurden, sodann bearbeitet, geschält, aufs Feuer gesetzt und karamellisiert.

Das war es, was sie alle aufrecht, treu und nahe bei Gott hielt: die Zeit, die jede Schwester mit Sorgfalt und Liebe auf ihre Spitzen verwandte, auf ihren Blütenkranz, auf das Schneiden der Schale einer gelben Zitrone.

Sie wollen uns aus der Welt schaffen, dachte Suor Clara, wir sind Zitronenbäume, sie wollen, dass wir vertrocknen.

So war es mit allem ergangen, was dem Kloster genommen wurde; jeder Baum, jede Zelle, jeder Raum wurde ihnen entzogen, zurückgelassen, um auf ewig verschlossen dem Vergessen anheimzufallen.

Aber sie, die schon lang da war und Zugang zu den alten Inventaren und Rechnungsbüchern hatte, zu den akkuraten Verzeichnissen der Mitgiften, zum Inhalt jeder Lade in den Schränken, als sie noch nicht dazu dienten, Spinnräder aufzubewahren, sie hatte gesehen, wie das Geld der adeligen Familien in die Kassen des Klosters Santa Maddalena floss, sie hatte es verwaltet und das für das Kloster Notwendige beschafft.

Sie wusste, was und wie viel die Nonnen für diese Welt getan hatten, die sie jetzt nicht mehr wollte, die sie wie alte Schuhe in die schmutzigen Winkel verlassener Häuser warf, dem Staub und dem Dämmerlicht anheimgegeben.

Sie hatten die Pächter der Ländereien des Klosters wie Mitglieder einer großen Familie behandelt, der heiligen Familie Gottes, wie Brüder und Schwestern. Niemand hatte mehr Achtung vor den Bauern als die Nonnen, jede Arbeit wurde ihnen entgolten, der Sprechsaal stand ihnen offen, um ihre Ängste und ihre Verzweiflung loszuwerden, ihre missratenen Töchter wurden aufgenommen, um sie zu erziehen, vor dem Altar Christi niederknien zu lassen.

Suor Clara dachte an die Tage des Schweineschlachtens, wenn die Bauern von Serra das Fleisch der getöteten Schweine brachten, ihre Schwarten, ihr Blut. Die Nonnen bereiteten große Kessel voller Kichererbsen, und während die Männer schlachteten, reichten die Schwestern ihnen durch eine Luke Frühstück, Mittag- und Abendessen. Dem Pächter und der Pächterin, die die Schweine gebracht hatten, gaben sie ihren Teil, Knochen, Lendenstücke, Salami und ciauscolo. Jeder bekam das Seine, weil diese Schweine zwar auf dem Grund und Boden der Kirche geboren, aber dazu da waren, den Hunger der Söhne und Töchter Gottes zu stillen.

Schon seit einiger Zeit blickte man in Italien nicht mehr mit Wohlwollen auf die religiösen Orden und war dagegen, dass die Klöster irgendwelchen Besitz haben sollten.

Die Schwestern lebten jetzt in engen Zimmern, wurden von Ort zu Ort versetzt, einige von ihnen wurden von einem Tag auf den anderen in den Süden geschickt, weil sie nicht dazu da waren, Orte und Gegenstände, Gesichter und Umarmungen zu lieben, sondern nur das Bild Gottes, und Gott würden sie überall zwischen Neapel und Triest, zwischen Jesi und Verona finden.

Man wollte sie ausrupfen wie Unkraut, nur ein paar Zimmer hatte Suor Clara retten können, die Küche, ein kleines Refektorium, den Raum für die Novizinnen, das Nähzimmer, aber auch über das Wenige, was wieder ihres geworden war, hatten sie keine Verfügungsgewalt, sie hatten im Namen anderer dafür bezahlt, sie waren Waisen.

Die Pächter hatten neue Herrn, die nicht regelmäßig auf die Felder gingen und die Arbeiten verfolgten, die kein Geld ausgaben, um die Erde blühend und die Bäume grün zu erhalten. Die neuen Herren kamen nur, um die Abgaben einzutreiben, und wenn Schweine zu schlachten waren, ließen sie das die Pächter machen und nahmen das Fleisch dann mit in die Stadt, für die Tafeln der Reichen.

Suor Clara war nicht dumm, scharfsinniger und spitzer hätte sie nicht sein können, angefangen bei den Wangenknochen bis hin zu den Fingerspitzen, Nägeln, Knien, Knöcheln, sie besaß die Fähigkeit, zu zwicken, garstig zu sein, und sie wusste, dass Geld Geld anzog und dass, wenn es einige Kirchen und Klöster mit dem Geld von damals verstanden hatten, dieses karge Land besser zu machen, andere sich hingegen bis zur Trunkenheit am Kelch Christi gelabt hatten, bis hinein in Sünde und Nachlässigkeit.

Aber es war doch auch Geld gewesen, womit Pater Celestino sie freigekauft hatte, sie und all die geraubten Mädchen, bis zu achthundert befreite Sklavinnen.

Daran dachte Suor Clara und stellte sich den Duft der Zitronen vor, der einst vom Hof aus durch die Korridore geflutet war, die Laken und die Stirnen der Nonnen geküsst hatte.

In der Tat bestand ihr Leben aus Gedanken und Blicken, Mienen und Zeichen, Verneigungen, gefalteten Händen und Gewissheiten, und sie war sicher, dass sie ihre Schwestern niemals dem Zugriff dieses Italiens überlassen würde. Dieses Italien, das sie noch als Kind vom Dasein als Klausurnonne abgehalten hatte, jahrelang hatte sie darum gebeten, und sie hatten Nein gesagt. König Vittorio Emanuele hatte ihre Güter beschlagnahmt, ihr Leben inventarisiert, das Noviziat verboten, den Eintritt neuer Nonnen untersagt. Wie alle anderen Orden sollte auch ihrer erlöschen.

Erst der Tod des Grafen Cavour hatte ihnen allen das Überleben ermöglicht, und Suor Clara war überzeugt, dass es Gott aus der Höhe seiner furchtbaren Liebe gewesen war, der dem Leben des Verfolgers Seiner Söhne und Töchter in ebendiesem Moment ein Ende bereitet hatte.

Moretta, rief Suor Anna sie atemlos, blass erschien sie auf der Schwelle des Kontorraums, Suor Clara wandte sich um und ließ von ihren Gedanken ab.

Ihr müsst herüberkommen, sagte Suor Anna, und ihr Gesicht war heller als manche Morgendämmerung über den Feldern von Serra, mit zitternden Händen hielt sie sich am steinernen Türrahmen fest, ihre Stimme war hoch wie ein Gesang, Suor Clara verzog den Mund, jeden Ton, der nicht Musik war, empfand sie als Belästigung wie Männerhände zwischen den Schenkeln.

Etwas ruhiger, Suor Anna, gleich läutet die Glocke zum Nachmittagsgebet, erwiderte La Moretta.

Suor Evelina … Suor Evelina … Mit Tränen der Angst hielt Schwester Anna inne, legte die Hand auf das hölzerne Kruzifix, das sie um den Hals trug. Man hat sie gefunden, erhängt … mit der Kordel des Gewands, fügte sie hinzu.

La Moretta bekreuzigte sich und ging an der Schwester vorbei hinunter zu den Zellen der Nonnen.

Suor Evelina hatte einen Versetzungsbefehl erhalten, ihre Räume reichten nicht für alle, und eine neue, vom Bischof von Ancona sehr geschätzte Nonne sollte kommen und ihren Platz im Kloster einnehmen.

Als sie die Tür öffnete, sah sie die Füße von Suor Evelina unter dem Rock hervorschauen, die Füße einer Leiche.

Sie erinnerte sich, wie sie zum ersten Mal nach Italien gekommen war, klein, schwarz, wütend, und Pater Celestino zu ihr gesagt hatte: Jetzt bist du in Sicherheit, und wie sie das einen Moment lang geglaubt und gedacht hatte, sie würde hier ihre zeriba wiederfinden, ihre Kuh mit den langen Hörnern, die Hühnereier und das Flämmchen der Mutter, das immer im Fenster ihrer Erinnerung brannte.

Ein Tag wird kommen

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