Читать книгу Ein Tag wird kommen - Giulia Caminito - Страница 16
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ОглавлениеDie Ceresa waren mit der Vorstellung groß geworden, dass sie dazu ausersehen waren, früh zu sterben.
Wenn sie vorübergingen, stellten die Leute im Dorf sie sich schon unter der Erde vor, in kleinen Särgen, geküsst von der blinden Mutter, beweint vom mürrischen Vater, in Gesellschaft all derer, die vor und nach ihnen verschwunden waren, aus dem Leben gerissen, als sie es gerade erst beginnen sollten, beim ersten Wimmern, bei den ersten schwankenden Schritten, als sie anfingen, die Dinge der Welt zu benennen und den eigenen Schatten an der Wand zu erkennen.
Lupo lebte jeden Tag wie den ersten, er schien keinen Gedanken auf davor oder danach zu verschwenden, er klammerte sich nicht an Erinnerungen oder Ängste; was kommen mochte, würde er in Angriff nehmen, wie eine Wand würde er sich aufrichten, um die Unwetter draußen zu halten.
Jede Geste war wie die reife Frucht, die plötzlich an einer Pflanze hing, seine Präsenz eine Waffe; war da ein Graben, setzte er darüber hinweg, war da ein Baum, kletterte er hinauf, sein biegsamer Körper passte sich der Erde an, dem Wind, den Schlägen der Menschen, ihren bösen Worten, für jeden hatte er eine Antwort parat, eine Ohrfeige.
Wenn er Nicola benommen und zitternd auf die heiße Fläche der Felder starren sah, packte er ihn am Handgelenk, schüttelte ihn wie beim Aufwachen und sagte zu ihm: Ninì, du darfst nicht daran denken.
Denn Nicolas Verzweiflung war ganz in seinem Innern. Die anderen wuchsen draußen heran, er besah seinen Bauch und seine Hände und fand sie falsch und mangelhaft, er hasste sie, wie man Eindringlinge hasst.
Nicola fühlte sich als Bewohner eines verfallenden Hauses, er sah zu, wie sich die Bruchstücke seiner selbst verstreuten, im Kampf mit einer zu zarten Haut, die für jeden Riesen ein schmackhafter Fraß gewesen wäre. Er war wie die Kinder im Märchen, leicht zu fangen, ohne Weiteres zu einer Fleischpastete zu verarbeiten, unfähig, sich zu befreien, würde er in einem Käfig fett werden, um dann auf kleiner Flamme geröstet zu werden.
Lupo wiederholte ihm immer wieder, Nichtstun werde ihn nicht vor der Gefahr bewahren, wenn ihm etwas zustoßen sollte, werde es ihm in jedem Fall zustoßen, wie allen, wie ihm selbst.
Sie lebten in einer Welt von arbeitenden Menschen, und wer arbeitet, weiß, dass er sich wehtun kann, mit einer Sichel, mit einem rostigen Nagel, durch einen Sturz vom Heuboden, zerquetscht von einem Karren, geschlagen mit einem Holzschuh, mit dem Fischerboot abgetrieben, verbrannt von einer Schaufel mit heißem Brot, zwischen Hammer und Amboss geraten: Ihre Körper waren dazu da, verletzt zu werden.
Damit musste man sich abfinden, musste wachsam und vorsichtig mit Werkzeugen und Menschen umgehen, mit dem Vieh und dem Sturm, musste sich aber für stark genug halten, nicht davon weggeweht zu werden.
Nicola war ein Kind des Schattens, und wie ein Schatten hätte er verschwinden mögen.
Als sie ihm sagten: Sie haben deinen Bruder erschossen, hatte er sich Lupo vorgestellt, der zwischen Schulter und Herz getroffen fiel, eine eiserne Kugel, die ein- und wieder austritt. Schmerz ließ ihm den Schädel zerspringen, und unter der Lunge hatte er ein Ziehen und Zerren gefühlt, sein Körper war zusammengesackt, mitten auf der Straße hatte er sich vollgepinkelt, und der Wirtssohn, der ihn zuerst mit betrübtem Gesicht angesehen hatte, war in Gelächter ausgebrochen.
Doch auch als er erfuhr, dass es sich um Antonio handelte, war die Angst nicht gewichen, denn wie eine Infektion hatte sie ihn im Innersten gepackt, und von innen beherrschte sie ihn, ließ ihn vor sich hin sprechen, tagelang war er Lupo mit aufgerissenen Augen wie besessen gefolgt und hatte gemeint, von einem Moment auf den anderen den Gewehrschuss zu hören.
Lupo war respektlos und verärgerte das Dorf, ergriff das Wort gegen die Erwachsenen, suchte Streit, widersetzte sich, am liebsten hätten sie ihm was angetan.
Nicola hatte keinen Speichel mehr, im Bett hielt er immer die Augen offen, im Brustkorb hob und senkte sich der gelbe Fluss seines Schreckens, nachts stand er auch zehnmal auf, um in seinen Pott zu pinkeln, sein Bauch fühlte sich immer voll an, er spürte, wie ihm die Flüssigkeit davonrann, und er zitterte so sehr, dass er nur mit Mühe gehen konnte, eisige Schauer stiegen ihm von den Daumen zu den Ohren, so tastete er im Bett nach dem Bruder neben ihm, krallte ihm die Finger ins Haar und riss ihm Stücke der Haut weg, bis er aufwachte.
Ninì, du darfst nicht dran denken, du musst schlafen, sagte Lupo verärgert.
Niemand hatte Antonios Bett abgezogen oder beiseitegerückt, all ihre Betten waren in dem Zimmer stehen geblieben und leerten sich, denn die Wohnung hatte nur zwei Zimmer, Küche und Bad, die Kinder wurden wie Mehlsäcke in das eine hineingestopft, bis sie verdarben, ihre Betten standen an den Wänden, eine Schublade pro Kopf für ihre Kleidung, ein großer Spiegel neben der Tür, die Nachttöpfe zum Pinkeln, ein Krug Wasser, ihre Laken blieben dort liegen, ihre Kleider blieben dort liegen, die Überlebenden würden eines Tages die Kleider der Toten anziehen.
Die einzige Veränderung in all den Jahren war die Anwesenheit Canes, der unter ihrem Bett schlief und jedes Mal, wenn Nicola einen Schritt tat, die Ohren aufstellte.
Adelaide hustete zwei Betten weiter, und der Einzige, der aufstand und ihr zu trinken gab, ihre Hand hielt, wenn sie es brauchte, war Antonio, die anderen hatten sie schon aufgegeben, Lupo eingeschlossen, ja, Lupo als Erster, er war schnell bei der Hand und sagte: Es kommt, wie es kommen muss.
Sogar Violante wachte bei ihr, als ob sie schon nicht mehr am Leben wäre, sie segnete ihre leibliche Hülle, ihren Leichnam mit offenen Augen, ohne ihn sehen zu können, stundenlang saß sie schweigend im Dunkeln bei ihr und betete, sie ließ Don Agostino kommen, um für sie zu beten, für das mit achtzehn Jahren schon tote Mädchen.
In der Nacht, als Adelaide wirklich starb, war Nicola wach, in der Stille des Schlafs der anderen hörte er sie zum letzten Mal den Mund öffnen und schließen, wie ein Fisch, der am Ufer des Flusses auf dem Trockenen gelandet ist, ohne zu wissen, warum.
Er erinnerte sich an sie noch als Gesunde, die schwarzen Haare im Nacken zusammengebunden, sie trug Schuhe, die sie für das Dorffest geliehen hatte, und sagte, sie sind mir zu eng, aber ich kann es aushalten.
Nicola war klar, dass er hätte aufstehen und zur Tür gehen müssen, Violante und Luigi herausklopfen und sagen: Vielleicht ist Adelaide etwas zugestoßen, oder er hätte Lupo wecken und ihn bitten müssen, es zu tun, sich über dieses Bett zu beugen, zu horchen, wo keine Atemzüge mehr waren, und festzustellen, sicher zu sein, dass.
Aber er tat nichts, reglos und wie eingepökelt, eingeklemmt in seinen Schrecken, mit kurzen Atemzügen und langer Atemnot, die Hände um die Handgelenke des Bruders geschlossen, der Stamm und Fels schien, ein Blitzableiter, es kam ihm in den Sinn, dass er beten müsste, Gott bitten müsste, Adelaide aufzunehmen, dass er hinübergehen, ihr die Augen schließen, den Rosenkranz für sie beten müsste.
Aber er rührte sich nicht, und alles, was er sagen konnte, war: Lupo, ich bitte dich.