Читать книгу Ein Tag wird kommen - Giulia Caminito - Страница 7

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Aus was bist du gemacht, hä? Aus Wasser und Salz?

Luigi packte Nicola am Handgelenk und hob ihn hoch wie einen Sack Sägemehl, wie einen im Keller hängenden Schinken, schüttelte ihn nach allen Seiten, die Beine des Jungen strampelten kraftlos im Leeren, baumelten, als wären sie falsch angeklebt.

Zu was taugst du, darf man das erfahren? Jedes Mal, wenn ich heimkomme, bist du hier, jedes Mal, wenn ich fortgehe, bist du hier, jedes Mal, wenn ich esse, bist du hier, jedes Mal, wenn ich scheiße, bist du hier …

Luigi schleuderte Nicola in den hintersten Winkel der Küche, zwischen die Stühle, während Adelaide, die kranke Schwester, im Schlafzimmer hustete und Violante, die Hände im Schoß, an die Wand gelehnt dasaß und brummte, ein Gebet auf den Lippen und den Kopf vom Trauerschleier bedeckt.

Sie hatten Antonio vor einer Woche beerdigt: Man hatte versehentlich auf ihn geschossen, als er vom Jahrmarkt heimkam, die Sonne war schon untergegangen, und er wollte nur einen Apfel von einem Baum stehlen, der Bauer hatte ihn niedergestreckt, wie man es mit verrückten Pferden macht.

Ich schufte den ganzen Tag, und du fängst schon an zu flennen, sobald du die Mühe nur auf dich zukommen siehst.

Luigi versetzte ihm mit der Fußspitze einen Tritt in die Rippen. Nicola machte seinen Körper klein wie eine Nuss. Ohne etwas zu sagen, nahm er den Tritt mit zusammengebissenen Zähnen hin.

Wir haben dir geholfen, dadurch bist du so geworden. Nur Königskinder sind so unnütz wie du, wenn die Leute arbeiten müssen, haben sie keine Zeit zum Angsthaben, sie müssen was tun, sonst verhungern sie. Du bist krank im Kopf, wie solche, die immerzu schlafen und weinen.

Und nachdem er ihm mit dem Finger fest gegen die Schläfe gedrückt hatte, fast als ob er ihm den Schädel öffnen wollte, packte Luigi Nicola an den Beinen und schleifte ihn in die Mitte des Raums, denn er war eine kraftlose, träge Masse, man konnte ihn in den Fluss oder eine Schlucht werfen.

Steh jetzt auf, du verfluchter Junge. Wenn ich nicht gewesen wäre …

Der Bäcker packte ihn bei den blonden Haaren und zog ihn hoch wie eine Puppe, wie die alte Puppe von Nella, der verschwundenen Tochter, wie die Puppen, die Violante nähte, als sie noch sehen konnte, und mit denen sie ihm das Laufen beigebracht hatte.

Luigi war vor einer Stunde nach Haus gekommen, in der Nacht hatte eine Eule im Kamin des Backofens ihr Nest gebaut, der Laden hatte sich mit Rauch gefüllt, die Wohnung auch. Um ihn zu vertreiben, hatte der Mann die Brotschaufel, mit der er das Brot in den Ofen schob, zerbrochen, die Brotschaufel, die einst dem Onkel und dem Großvater gehört hatte. Violante hatte Zeter und Mordio geschrien, die Kunden waren davongelaufen, als sie die Schläge gegen die Kaminwände hörten, die wie Donner widerhallten, und der Bäcker hatte nach seinen Kindern gerufen, um sich von ihnen helfen zu lassen, aber keiner von ihnen hatte geantwortet.

Er hatte Antonio gerufen, aber Antonio war nicht gekommen.

Den einzigen tüchtigen Sohn, der ihm geblieben war, hatte man ihm umgebracht.

Wie eine Furie war er die Steintreppe zu seinem Haus hinaufgestürzt, er wusste, dass Lupo mit Cane auf den Feldern war, dieses vermaledeite Vieh, das von seinem Atem zu leben schien und ihn nie allein ließ, das Vieh, das Unglück brachte, ausgerechnet in seine Familie war es gekommen, wo es seit eh und je so viel Unheil gab, dass es für die gesamten Marken gereicht hätte.

Der Bäcker sah nur Nicola vor sich, der vor einem aufgeschlagenen Heft beim Fenster Schreiben übte und nicht einmal inmitten des pechschwarzen Qualms einen Finger gerührt hatte.

Raus hier jetzt, lauf nach Montecarotto und hol den Schmied, ich muss die Schaufel reparieren.

Luigi stieß Nicola zur Tür und dann die Treppe hinunter, das Kind rollte hinab und hielt sich an den Seiten fest, um sich nicht das Genick zu brechen.

Du musst rennen, schrie der Vater von oben, wenn du zu spät kommst, verbrenn ich all deinen Papierkram.

Nicola, dessen Körper schmerzte, dessen Kopf vor Panik benommen, dessen Mund trocken war, rannte los, angetrieben von der bloßen Angst.

Doch sein Fleisch war von Geburt an schwach, seine Gedanken waren feige herangewachsen, und jeder seiner Schritte war ein Sturz. Keiner wusste, warum, aber es lag nicht in Nicolas Natur, wie alle anderen in der Welt zu sein.

Dieser Lauf unterhalb des Klosters entlang, dann die Treppe zum Wald hinauf zur Straße nach Montecarotto erschöpfte ihn, raubte ihm alle Energie.

Zitternd und außer Atem lief er den Abhang an den Mauern hinunter.

Es war Mittag, die Stunde ohne Schatten und ohne sichere Verstecke.

Für die Leute auf den Feldern war dieser Moment heilig und durfte nicht entweiht werden, seit jeher zeigten sich da in der brütenden Hitze, die vom Getreide aufstieg, die Götter des Feldes, erhoben sich im Dunst der sengenden Sonne die Erntegeister, verwandelten sich Felsen in Elfen, Sträucher in Nymphen, und die Gebete um eine gute Ernte strömten in Scharen zu Tal.

Über der Erde, über Serra und Montecarotto, über dem Hügelauf und Hügelab stand im Zenit diese Sonne, die nach Nicola griff, kaum dass er das kleine Tal erreicht hatte.

Seine blasse Haut rötete sich, sein Schädel begann zu brummen, Bremsen, Bremsen, Bremsen, alles stach und tat weh, eine so kurze Strecke, die jeder andere ohne Weiteres zurücklegte wie einen kleinen Spaziergang, für Nicola war sie ein Kreuzweg.

Jede Nacht vor dem Einschlafen hoffte er, beim Aufwachen zu sein wie die anderen, verändert, geheilt durch irgendeinen Sternenzauber, hoffte, stundenlang im Licht ausharren zu können, reglos und erhaben wie eine Eiche, all die Wärme aufnehmen zu können, die von oben und unten kam, hoffte, kilometerweit laufen und fliehen zu können, ans Meer zu gelangen, Schiffe und Möwen zu sehen, die Menschen auf dem Sand und auf den Felsen.

Aber es gelang ihm nicht. Er konnte nicht arbeiten. Er taugte zu nichts.

Seine Schuhe schienen voller Kies, seine Kleider schwer, als ob er den Wintermantel anhätte, es würgte ihn in der Kehle wie an dem Tag, als man ihm gesagt hatte: Man hat deinen Bruder erschossen. Er hatte gemeint, es handle sich um Lupo, und hatte sich vor Qual in die Hose gemacht.

Die Stellen am Körper, auf die Luigi eingeschlagen hatte, begannen ihren Schmerz herauszuschreien, der weiße Weg hinauf nach Montecarotto war für ihn der Aufstieg auf den Gran Sasso, war dieses ganze unerreichbare Italien, das er nicht kannte, das er nie sehen würde, nur schreiben konnte: I T A L I E N, in Großbuchstaben, mit zu viel Abstand zwischen den Lettern.

Ich bin krank, mit mir stimmt etwas nicht.

Nicola machte noch ein paar Schritte, rang nach Luft, er spürte, wie er von der Sonne Fieber bekam, dann brach er zusammen.

Er dachte an das Wort Hundstagshitze, er hatte es Lupo erklärt, gleich nachdem er es gelernt hatte, so wie er es mit jedem Wort machte, das er las oder hörte.

Wenn die Sonne über das Sternbild des Hundssterns hinausgeht und man auf den Feldern Gott und der Hitze einen Hund zum Opfer bringt, damit die Felder nicht verdorren.

Was sind Sternbilder?, hatte Lupo da gefragt.

Die Bilder, die die Sterne nachts am Himmel zeichnen, hatte der Bruder geantwortet.

Und während seine Augen sich schlossen und er sich dem Gedanken überließ, nicht zu wissen, ob und wie er sich von dort je wieder erheben würde, sah er sie kommen. Drei schwarz gekleidete Männer mit schwarzen Schleifen um den Hals, die in der Mittagshitze auf ihn zukamen. Die drei Männer hoben ihn auf und legten ihn in den Schatten eines Olivenbaums.

Ob er sie nur geträumt hatte wegen der Mittagshitze, die einen Dinge sehen lässt, die nicht da sind, aber den Schlüssel zum Übergang ins Reich der Toten und der Ungeborenen besitzt, das sollte Nicola nie erfahren.

Als er viele Jahre später seinen Fuß jenseits des Ozeans an Land setzte, sollte er wieder an diesen Moment denken, an die Hundstagshitze und an damals, als er das Meer noch nicht kannte und meinte, alles sei unmöglich.

Ein Tag wird kommen

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