Читать книгу Ein Tag wird kommen - Giulia Caminito - Страница 9

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Es war das Jahr 1897: Lupo wurde an der Schwelle zum neuen Jahrhundert geboren, in jenem Jahr, in dem Errico Malatesta in Ancona von der Polizei gejagt wurde, während er für L’Agitazione schrieb, jenem Jahr, in dem die Bauern in Latium das Land besetzten und die Reisarbeiterinnen rebellierten, um einen höheren Lohn zu bekommen, und in Rom sogar die Kaufleute gegen die Regierung auf die Straße gingen, aber das konnte Lupo nicht wissen und sollte es lange Zeit auch nicht wissen. Ihm, der wie alle anderen zum Arbeiten geboren war, war es nicht gegeben, zu erkennen, wie die große Geschichte sich bewegte, wie die Völker und Menschen herumgewirbelt wurden, wie die Ideale in sich zusammenfielen und wohin die Hoffnungen sich verzupften, er sollte seine Augen auf sein eigenes Unheil gerichtet halten und die Macht der Entscheidungen anderen überlassen.

Als er auf die Welt kam, war Lupo ein weiteres weinendes, nacktes und schmutziges Kind, und als Stalin in Ancona in einem Hotel arbeitete, war Lupo zehn Jahre alt und sah mit seinen schwarzen Augen den Vater an, dem er alle erdenklichen Schmerzen wünschte.

Lupo wäre gern in die Schule gegangen, auch wenn er die Priester und ihre Regeln hasste, auch die wohlmeinenden und sanften, und er antwortete mit üblen Streichen.

Das hatte er gleich von Anfang an gelernt, ein Gesetz, das er immer im Herzen tragen würde: Auf das, was du nicht als richtig empfindest, auf das, was die anderen dir antun, sollst du nicht mit Worten reagieren, daher hatte es Lupo allen immer mit Taten heimgezahlt, Luigi eingeschlossen.

Deshalb warf Lupo mit zehn alles, was er im Haus fand, auf den Boden, während Luigi ihm nachlief und versuchte ihn einzufangen, aber das Kind glitt ihm aus den Fingern wie Seide, und Cane knurrte.

Luigi bewegte sich in einer Hölle aus zerbrochenen Tellern, abgerissenen Gardinen, umgeworfenen Betten – unter den brunnentiefen Augen des Jungen, der den Teufel im Leib zu haben schien, der biss, spuckte und die Zähne fletschte, scheinbar alles verschlingen konnte, vom Obst bis zu Rinderhälften.

Fass bloß Nicola nicht an, schrie Lupo. Die Bücher bezahle ich, die gehören dir nicht.

Denn das war die Abmachung zwischen ihnen: Nicola würde die Schule bis zur fünften Klasse besuchen können, wenn Lupo es bezahlte, und so hatte er das Nötige beiseitegelegt, Soldo für Soldo, hatte sich jeden Gedanken an die kleinste Vergnügung versagt, um das Geld dem Bruder zu geben.

Als Nicola ihm zum ersten Mal ein auf ein Blatt geschriebenes A zeigte, hatte er begriffen, dass jede Sache, die sie lernten, für Luigi ein Schlag ins Gesicht war, dass jedes Wort, das Lupo dazulernte, ein Hieb gegen seine Knie war, dass jeder geschriebene Satz ihm neue Sätze und immer weitere Sätze erschloss und dass ihr Dorf und ihre Felder, ihr Dialekt demgegenüber zu einem Taubenschiss wurden.

Nicola musste für alle beide lernen und jede Nacht zu ihm kommen und ihm sagen, was er gelernt hatte, es mit ihm üben, ihn wiederholen lassen und ihm erklären, zwar würden die Hände und die Tatsachen für Lupo immer mehr zählen, aber um richtig handeln zu können, musste man die Dinge richtig verstehen.

Seit Lupo auf der Welt war, hatte Luigi ihn nicht bremsen können, er überrumpelte und beherrschte ihn wie der schlimmste Schrecken; seit er laufen konnte, war ihm nicht beizukommen, er verbrachte ganze Tage im Wald, er gehörte einem Menschenschlag an, dem der Bäcker nichts entgegenzusetzen hatte. Ohnmächtig wie gegenüber einer Naturkatastrophe sah Luigi zu, wie er das Haus verwüstete.

Während Lupo eine Wanne umwarf und schrie, dass ihre Kinder eins nach dem anderen sterben und nur er und Nicola ihnen bleiben würden, dazu bestimmt, wie eine einzige Person zu überleben, betete Violante, dass das nächste Erdbeben sie alle miteinander verschlingen möge, mitsamt ihrem Haus und dem Ort, um dieses Leben, das sie nicht zu führen verstanden, auszulöschen.

Von den Prophezeiungen des Jungen an der Gurgel gepackt, warf Luigi sich unters Bett und holte das Gewehr hervor.

Unterdessen lag Adelaide da und hustete, ihre schmale Mädchenbrust hob sich in unregelmäßigem Rhythmus, jeder Atemzug war das Geräusch der Krankheit. Wenn sie Luft bekam, rief sie nach Antonio, aber Antonio war nicht mehr da.

Der Bäcker sagte: Jetzt erschieß ich dich, und richtete das Gewehr auf den Jungen.

Der antwortete ihm: Dazu hast du nicht den Mut.

Luigi, der wie alle jemanden gewollt hätte, dem er seinen Beruf beibringen, sein Geschäft übergeben konnte, das er nicht mehr ertrug, jemanden, dem er seine Zukunft anvertrauen konnte, während diese wie Moos in der Sonne verschrumpelte, dachte an die grünen Augen Antonios und ließ wütend das Gewehr sinken.

Der Junge hatte recht, er hatte nicht den Mut.

Geschlagen blickte er auf seine Hände und schüttelte den Kopf, während Cane ihn aus seinen gelben Hyänenaugen ansah, bereit, ihn in die Kehle zu beißen, dort, wo die Halsschlagader das Blut in den Kopf leitet.

Ich gehe mit der Brigade von Gaspare nach Senigallia, sagte Lupo und betrachtete ihn dabei vom hinteren Ende dieses Horts ihrer Streitereien und Bosheiten aus. Und verließ das Haus.

Auf dem Land war es üblich, dass sich einige Kinder, gewöhnlich nur wenige, Brigaden anschlossen, das waren Gruppen, bestehend nur aus Männern, die mit Wein, Käse und ein paar Instrumenten in die Küstenstädte zogen und dort den Sonntag verbrachten.

Gaspare Garelli war erwachsen, er war siebzehn, aber Lupo hielt sich immer an die, die größer waren als er, und die verschmähten seine Gesellschaft nicht: In der Tat war er aufgeweckt, ein guter Arbeiter, zu jedem Spaß aufgelegt, aber auch schlagfertig, wenn er angegangen wurde, und er stand ihnen in nichts nach, wenn es galt, irgendwelchen Unsinn zu machen.

Bevor er ging, verabschiedete sich Lupo von Nicola, der mit seinem vom Gebrauch völlig zerfledderten Heft auf den Treppenstufen saß.

Er wird dich nicht mehr schlagen, keine Angst, sagte er und strich ihm über den Kopf. Ich treffe Gaspare und komme heute Abend zurück, setzte er hinzu.

Kann ich in deinem Bett schlafen?, fragte Nicola und hob das schmale Gesicht vom Heft.

Schlaf, wo du willst.

Lupo sah ihn an, dann setzte er den Hut auf und lief in Richtung der Straße zum Friedhof. Cane kam die Treppe herunter und folgte ihm.

Noch angeschlagen setzte Nicola sich mühsam auf den Stufen zurecht und fing wieder an zu lesen.

Singend und ein paar Tanzschritte vollführend verließ die Brigade der Männer das Dorf, alles Nötige zum Bocciaspielen unter dem Arm. Lupo ging neben Gaspare.

Was hat Ernesto?, fragte er ihn und zeigte auf den Mann, der ihnen finster in einem gewissen Abstand folgte, sogar Cane, gewöhnlich der Letzte in der Reihe, lief ihm voraus. Lupo wollte nicht wissen, was er an diesem Tag hatte, sondern was ihn im Allgemeinen bedrückte, denn jedes Mal, wenn er ihn vor sich gehabt hatte, war er noch verschlossener und stiller, noch schlechter gelaunt und hoffnungsloser gewesen.

Er hat sich nicht mehr erholt, seit Amisia ihn abgewiesen hat, scheinbar sollten sie sich verloben, aber Ernesto hat sich letztes Jahr beim Karneval unmöglich aufgeführt, er kam in einem alten Anzug, zerschlissen und nur notdürftig hergerichtet mit Ruß und Wasser, Amisia kam ganz in Weiß, und beim Tanzen hat er sie schmutzig gemacht, er hat das gute Kleid ruiniert, das sie eben gekauft hatte, ganz Serra hat sich über die beiden lustig gemacht, erklärte Gaspare amüsiert.

Und wenn ich ihr ein neues Kleid kaufe?, fragte Lupo und sah sich nach Ernesto um, der langsam und mühevoll voranschritt wie an einem steil ansteigenden Berghang.

Und woher nimmst du das Geld, hm? Jetzt gibt es nicht so viel Arbeit, bis September ist nichts in Sicht. Wir sind keine Leute, die sich zu jedem Festtag neue Kleider leisten können, geschweige denn für andere, sagte Gaspare.

Wer kann sie sich denn leisten?, fragte Lupo herausfordernd.

Die, die alles haben, diejenigen, die die Felder besitzen, die die Häuser besitzen, erklärte Gaspare.

Wer ist das?, drang Lupo weiter in ihn.

Die Padroni. Das Feld meines Vaters ist schließlich nicht seins, du weißt doch, wie das funktioniert, oder nicht?

Vielleicht, antwortete Lupo und sah sich nach dem Hut von Ernesto um, der mit jeder Bewegung seines leeren Kopfes hin und her schwankte.

Hier hat früher alles den Pfaffen gehört, bevor Italien kam, doch jetzt gehört es den Freunden der Pfaffen, jetzt ist da nur der König, der dir den Kopf abschneiden lässt, sobald du ihn erhebst. Das sind Leute, die sich, wenn sie wollen, auch deine Seele kaufen und sie weiterverkaufen, weil es nämlich eine reine Seele ist.

Lächelnd berührte Gaspare ihn an der Schulter.

Und wie bringt man den König um?, fragte Lupo und blieb mitten auf der staubigen Straße stehen.

Wie meinst du das? Gaspare sah ihn verwundert und verständnislos an, mit der Vermutung, dass er Fragen stellte, die er sich längst selbst beantworten konnte.

Wie wird man ihn deiner Meinung nach los?

Das endet dann wie beim Papst, wenn der eine geht, kommt ein anderer und dann noch ein anderer. Die gehen nie weg, sie wechseln nur das Aussehen. Es gibt keinen Ausweg.

Das ist nicht wahr! Sie haben schon einen König getötet, Umberto I. Das hat mir neulich Tomassini erzählt, in der Schänke, er hat gesagt, vor sieben Jahren hat ihn einer erschossen, der hieß Gaetano. Irgendwer kann das mit jedem König machen, der daherkommt, erklärte Lupo überzeugt.

Gaspare schwieg, mit ein paar Trompetenstößen zog die Brigade dahin. Petri kletterte auf einen Baum, um eine Handvoll Kirschen zu holen, die er verschenkte, auch wenn es in Wahrheit nicht seine waren. Jemand erzählte vom Ruzzola, das sie beim letzten Ausflug gespielt hatten, als Paoletto mit seiner hölzernen Ruzzola-Scheibe beinah die Statue der Vorsehung getroffen hätte. Die anderen lachten.

Ein Tag wird kommen

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