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ОглавлениеEin ansteigend, auf- und abschwellender Summton weckte den Kommandanten der Mondbasis Ron Parker aus seinem Schlaf. Gähnend nahm er an diesem frühen Mondmorgen das Smartphone aus der Halterung.
„Ron hier“, meldete er sich knapp.
„Hallo Ron, hier ist Roman.“
„Oh, mein Chef höchstpersönlich. Das lässt nichts Gutes erahnen. Zumal Sie mich in meinem verdienten Schlaf stören“, grummelte Ron verschlafen.
„In der Tat muss ich Ihre Vermutung bestätigen“, kam die prompte Antwort Romans.
„Was kann ich für Sie tun oder erhalte ich jetzt von Ihnen eine wenig aufbauende Morgennachricht?“
„Ron, das Letztgenannte trifft zu.“
„Hört sich nicht gut an. Legen Sie los!“
Roman schwieg für einen Moment.
„Hier hat sich etwas ereignet, das können Sie sich nicht vorstellen. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen vermitteln soll. Es ist etwas Unfassbares geschehen.“
„Ist etwas mit unseren Familien?“, fragte Ron besorgt.
„Nein, ich will nicht länger um den heißen Brei herumreden. Sie müssen sich mit einer Tatsache abfinden, die sowohl für Sie als auch für Ihre drei Kollegen schockierend ist.“
Ron hatte sich mittlerweile auf die Bettkante gesetzt. Da schwang ein Zittern in Romans Stimme, das er bei ihm nicht kannte und bisher noch nie gehört hatte. Also stand etwas Ungewöhnliches bevor.
„Roman, raus damit. Ich bin hart im Nehmen. Das wissen Sie“, äußerte Ron leicht verärgert, weil er die aufgebaute Spannung kaum aushalten konnte.
„Ron, ihr müsst länger auf der Basis bleiben, als euch sehr wahrscheinlich lieb ist.“
„Mit anderen Worten: Lunar 3 ist nicht startklar und der Start verzögert sich.“
„Ja.“
„Gut. Das ist ja wohl nichts Außergewöhnliches. Sind wieder Wirbelstürme unterwegs? Dann bleiben wir ein paar Tage oder von mir aus auch eine Woche länger. Das halten wir durch. Zu tun hätten wir noch genug. Machen Sie sich deswegen keine großen Gedanken.“
„Ron, es ist schlimmer, viel schlimmer.“
„Roman, spannen Sie mich nicht weiter auf die Folter. Was gibt’s zu berichten?“, fragte Ron deutlich ungeduldig. Eine Pause entstand. Roman atmete tief und presste den nachfolgenden Satz durch die Zähne:
„Die brutale Wahrheit: Lunar 3 wurde durch ein Attentat zerstört.“
Ron sprang etwas zu heftig aus seinem feldbettartigen Lager auf und beging damit einen Anfängerfehler im Einflussbereich der Mondanziehung. Er schwebte nach oben und stieß sanft mit dem Kopf gegen die etwa 2,30 Meter hohe Leichtmetall-Deckenkonstruktion seiner Wohneinheit. Fluchend kam Ron wieder auf die Füße. Ein derartiger Fehler sollte ihm nicht mehr unterlaufen, nach sieben Wochen Mondleben.
„Wie bitte?“, rief Ron, „und das bedeutet eine Verzögerung von vielen Wochen? Das bedeutet, dass Lunar 4 flott gemacht werden muss. Ich schätze eine Verzögerung von drei Wochen.“
Romans Stimme wurde fest und hart: „Ron, ich muss jetzt die brutale Wahrheit ergänzen: Nicht nur Lunar 3 wurde zerstört, sondern Lunar 4 und die fast fertiggestellte Lunar 5 größtenteils ebenfalls. Lunar 5 kann vielleicht zumindest teilweise noch gerettet werden.“
Es entstand eine Pause. Tief atmete Ron durch, als er geschockt und leise fragte: „Und das heißt?“
Tausend Gedanken jagten ihm durch den Kopf. Sein Verstand weigerte sich, das Szenario zu Ende zu denken. Ein Lunar-Raumschiff musste neu gebaut werden. NEU gebaut werden!? Nein, das konnte nicht sein. Das bedeutet ... Mein Gott ...
Roman meldete sich wieder: „Wir werden mit Hochdruck arbeiten und die Wartezeit für euch beläuft sich ...“
Roman machte eine Pause, bevor er betont langsam weitersprach, „a u f e i n J a h r.“
„Wollt ihr uns umbringen? Das glaube ich nicht! Ich fasse es nicht!“, rief Ron außer sich.
Roman meldete sich wieder: „Russische Trägerraketen werden mit unserer Zusammenarbeit alles nach oben befördern, was ihr braucht.“
„Roman, Sie sagen mir jetzt bestimmt, das war alles ein Witz.“ Rons Stimme wurde laut und fast unbeherrscht.
„Sie wollen mich schocken! Sie wollen mich testen, weil irgendeinem idiotischen Psycho-Spinner bei euch mal wieder etwas Neues eingefallen ist! Ich sage Ihnen, ich bin genug getestet worden und ...“
Ron stockte der Atem. Er wollte weiterreden. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf.
„… und außerdem …“
„Es ist leider die Wahrheit“, unterbrach ihn Roman. Beide schwiegen für einen Moment.
„Wer waren die Attentäter und was wollten sie bezwecken? Sind Menschen umgekommen? Da befinden sich doch auch Verwaltungsbauten in der Nähe. Sind die auch beschädigt worden?“ Wieder schwiegen beide einen Moment. Rons Stimme wuchs erneut zu einem Crescendo. „Ein Jahr! Roman, wie soll ich das meinen Leuten beibringen?“
Fast niedergeschlagen und leise klang jetzt Rons Stimme. Ein Jahr auf dem Mond, dröhnte es durch seinen Kopf. Ein Jahr in dieser Einöde. Ein Jahr Basislager. Ein Jahr bei jedem Schritt nach draußen die Sauerstoffarmaturen anlegen. Ein Jahr lang die Energieversorgung aufrechterhalten. Ein Jahr lang ohne Familie sein, keinen Regen erleben, keine Sonne spüren, keinen Wasserhahn aufdrehen, um einen erfrischenden Wasserstrahl über die Hände fließen zu lassen. Ein Jahr keine Party, kein Sprung in den Pool. Ein Jahr Staub und Steine - kulinarische Zurückhaltung und drei Leute, deren Gedankenwelt weitgehend bekannt ist. Wie wird Gloria reagieren? Wie werden sich Phillip und Luke verhalten? Alle drei sind kühle, logisch denkende Wissenschaftler und doch treten sie emotional völlig unterschiedlich auf.
„Berichten Sie die Neuigkeit Gloria, Phillip und Luke nicht sofort“, versuchte Roman beratend einzulenken, „überlegen Sie sich, wie Sie vorgehen werden. Sie sind der Kommandant und verfügen über sehr gute Führungsqualitäten. Sie kennen Ihre Mannschaft mittlerweile besser als ich.“
„Roman, hören Sie auf!“, rief Ron.
„Wählen Sie die Worte aus“, redete Roman unbeeindruckt weiter „die jeweils auf die Person abgestimmt sind. Überlegen Sie, ob Sie alle drei gleichzeitig informieren oder die Information in getrennten Gesprächen weitergeben. Nach meinem Dafürhalten möchte ich Ihnen die letztgenannte Variante empfehlen.“
„Roman, verdammt noch mal, überlassen Sie mir, wie ich vorgehen werde!“ Fast zornig kamen die Worte aus Ron heraus.
„Dabei muss gewährleistet sein“, in monotoner Weise redete Roman weiter, als lese er einen vorbereiteten Text von einem Bildschirm ab, „dass keiner die Informationen weitergibt und Gespräche oder Diskussionen zum Thema erst dann gestattet sind, wenn alle den gleichen Wissensstand erreicht haben. Und Ron ...“, nach einer Pause sprach Roman weiter, „denken Sie daran, Medikamente bereitzulegen, wie Beruhigungstabletten.“
Das Zittern war wieder in Romans Stimme zu vernehmen. Wahrscheinlich belastete ihn, den harten Manager, die Tragik und berührte seine Substanz.
„Okay, Roman, ich beende das Gespräch und muss die Nachricht erst mal verdauen und sortieren. Wenn Fragen aufkommen, so werde ich mich wieder melden.“
Ron beendete in fast ruhigem Ton den Dialog. Schweißtropfen hatten sich auf Rons Stirn gebildet. Ein neues Monderlebnis. Das hatte er bisher nicht gekannt.
Die Verbindung wurde unterbrochen. Smartphone-Gespräche vom Mond bauten die drei Mondsatelliten auf, die wiederum Kontakt mit Erdsatelliten aufnahmen. Die Erdsatelliten gaben die Gespräche weiter zum Empfänger, wie bei jedem anderen mobilen Telefonat auf der Erde. Technische Raffinessen ermöglichten zwischenzeitlich, die Zeitverzögerungen beim Sprechen mit den Bewohnern der Mondbasis und umgekehrt bis auf kleine Pausen auszugleichen.
Ron hielt sein Smartphone noch in der Hand. Er bewegte sich einige Schritte in seiner Leichtmetall-Wohneinheit auf und ab und setzte sich schließlich auf einen Klappstuhl gegenüber der Zugangstür.
Die fünf Wohneinheiten der Mondbasis, von denen derzeit eine unbenutzt blieb, hatten jeweils eine Grundfläche von 25 Quadratmetern und konnten im Rahmen der Möglichkeiten individuell von den Mondbewohnern gestaltet werden. Die einzelnen Wohneinheiten standen in einem Abstand von zehn Metern zueinander und bildeten eine kreisförmige Aufstellung.
In der Mitte des Kreises erhob sich die sogenannte Kommunikationseinheit; ein runder Leichtmetall-Bau mit einem Durchmesser von insgesamt 15 Metern. Sanitäre Anlagen, Kochküche, Gemeinschaftsraum und Geräte für Muskelaufbautrainings, untergebracht in unterschiedlichen Zellen. Ein schmaler Rundgang führte entlang der Außenseite des Rundbaus. In diesen Gang mündeten in gleichmäßigen Abständen tunnelartige Verbindungen zu den einzelnen Wohneinheiten.
Bestand der Wunsch, jemanden aus der Wohneinheit 3 in Einheit 1 zu besuchen, musste er durch den Tunnel in den äußeren Gang des Rundbaus und gelangte von dort wiederum in den Tunnel, der zur Einheit 1 führte. Dieses Vorgehen gewährleistete die durchgängige Sauerstoffversorgung und den Schutz von äußeren Strahlen.
Ron überlegte, wie er vorgehen sollte. Sein erster Gedanke war, seine Frau anzurufen. Ob man sie über den abstrusen Zustand im Space-Center in Kenntnis setzte? Er hatte in der Aufregung vergessen, Roman darauf anzusprechen. Wie wird sie reagiert haben? Gerne würde Ron mit eigenen Worten die Botschaft an seine Frau weitergeben. Wichtig für ihn wäre auch zu wissen, ob die Hiobsbotschaft bereits die Familien der Mondbewohner erreicht hatte. Außerdem hatte er den Wunsch, mit seiner Frau zu sprechen und erhoffte gleichzeitig einen Rat von ihr, in welcher Weise Ron die beispiellose Nachricht an sein Team weitergeben sollte. Er war im Moment zu aufgewühlt. Seine innere Unruhe hielt ihn davon ab, seine Mannschaft unmittelbar über die unausweichlichen Neuigkeiten zu informieren.
Spontan drückte Ron die vier Kurzwahlziffern seines Telefons für den Aufbau der Verbindung zu seiner Frau Denise. Sie hätte ihn ganz sicher angerufen, sobald sie von den geänderten Umständen Kenntnis erlangte, überlegte Ron. Das Besetztzeichen ertönte und Ron drückte die Aus-Taste.
Nach und nach erfasste sein Bewusstsein das Ausmaß und die schwerwiegende Bedeutung der Vorkommnisse auf der Erde. Ein Jahr lang auf der Basis bleiben. Ein Jahr lang, und vier Leute unterschiedlicher Mentalitäten in einem relativ eng begrenzten Raum. Ein Jahr lang sich auf einem Planeten bewegen, der den sechsten Teil der Anziehungskraft der Erde hat.
Na ja, versuchte er, sich selbst zu beruhigen, vor etwa vier Jahrzehnten - in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts - hielt es ein russischer Kosmonaut auf der Raumstation ISS ein ganzes Jahr in völliger Schwerelosigkeit aus, ohne bekannte körperliche oder geistige Schäden davon getragen zu haben. Gut, überlegte er, dieses Beispiel sollte er auch seinen Leuten erzählen. Wie entwickelt sich die menschliche Psyche in dieser Extremsituation, fragte er sich. Werden wir alle stark genug sein, um durchzuhalten? Wird er selbst die notwendige Stabilität aufbringen? Was passiert, wenn bei einem oder mehreren die psychische Belastung Auswirkungen zeigt, eine ernsthafte Erkrankung auftritt oder eine zu hohe Strahlenbelastung eintritt? Dutzende Fragen schwirrten Ron durch den Kopf.
Er schaute auf sein Smartphone und drückte nochmals die Kurzwahlziffern in die Tastatur ein. Die Ansage: „Bitte rufen Sie das Space-Center an“, hätte ihn fast aus der Fassung gebracht. Gekappte Smartphone-Verbindungen! Man hatte sie vom Rest des Planeten Erde getrennt! Wütend wollte Ron aufspringen und erinnerte sich in letzter Sekunde an die Folgen der Mondanziehung.
Er tippte in schneller Folge die Kurzwahl für das Space-Center ein.
Andrew, der derzeitige Betreuer für die Mondbasis, meldete sich augenblicklich. „Hallo Ron, was ...“
„Geben Sie mir Roman!”, unterbrach Ron ungeduldig.
„Ich werde versuchen ...“, begann Andrew.
„Andrew, Sie sollen nicht versuchen, Sie sollen mich mit Roman verbinden! Sofort!“ Der Tonfall von Ron wurde lauter.
Ein leises Klicken in der Leitung und nach wenigen Augenblicken hörte er Romans Stimme. „Ron, was kann ich für Sie tun?“, fragte Roman.
„Schalten Sie die verdammten Telefone wieder frei!“, herrschte ihn Ron an.
„Ron, ich habe es ehrlich vergessen zu sagen in der allgemeinen Aufregung. Wir haben die Telefone für kurze Zeit gesperrt. Das gilt nicht nur für Ihre Smartphones, sondern für sämtliche mobile und stationäre Telefone in weiten Teilen des Space-Centers.“
„Und was soll das?“, herrschte Ron ihn an.
„Zum einen müssen große Teile des Telefonnetzes neu aufgebaut oder zumindest überprüft werden. Wir sind froh, dass die unterirdischen Telefonzentralen von der Katastrophe verschont blieben.“ Roman atmete tief ein. „Und zum anderen können wir im Moment nicht zulassen, dass unkontrolliert Nachrichten nach draußen dringen. Die Pressehaie sind überall. Die meisten unserer Telefone sind zwar abhörsicher, aber die Presseleute wissen sehr genau, dass ihr von der Mondbasis aus eure Familien und Freunde anrufen könnt. Die sind bereits von der Presse belagert.“
„Was bedeutet das, unsere Familien sind belagert?“, fragte Ron immer noch verärgert.
„Das bedeutet, dass die Pressefritzen versuchen, eure Familien auszuhorchen und auszufragen. Ron, macht euch deswegen keine Gedanken. Eure Angehörigen sind bestens abgesichert, und das täglich 24 Stunden. Unser Sicherheitspersonal und die Polizei sind rund um die Uhr wachsam und passen bestens auf. Jeder Einkauf, jedes Verlassen des Hauses wird bewacht und gesichert.“
„Wehe euch, unseren Familien wird durch zudringliche Presseleute ein Haar gekrümmt.“
„Nein, ganz bestimmt nicht. Der Presserummel wird sich erfahrungsgemäß in wenigen Tagen wieder legen. Ron, wir konnten natürlich nicht verhindern, dass eure Familien von dem Attentat aufs Space-Center erfahren haben. Lieber wäre es mir gewesen, unsere Leute hätten eure Angehörigen als erstes kontaktiert. Jede Familie wurde inzwischen von kompetenten Mitarbeitern besucht und ausführlich informiert. Außerdem wurde psychologische Hilfe angeboten. Ich denke, dass die Smartphones der Mondbasis in etwa drei bis vier Stunden wieder freigegeben werden. Ihr könnt vorerst eure Familien - und nur eure Familien - zu Hause anrufen. Bitte habt Verständnis für diese Maßnahme. Hier ist die Hölle los. Wir tun unser Bestes“, erklärte Roman.
„Okay“, meinte Ron, der sich zwischenzeitlich beruhigt hatte, „im Moment habe ich keine weiteren Fragen.“