Читать книгу Die Blutkönigin - Günter Ruch - Страница 10
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Ich bin dein Salamander
Frühsommerlicher Morgennebel lag über dem Fluss. Caradoc lachte herausfordernd. Beltanetag! Kraftvoll tauchte er sein Stechpaddel in das schwarze Wasser ein. Er war geschickt darin, sein Boot mit gezielten Zügen zu steuern, das Gleichgewicht zu halten, abzubremsen und die Richtung zu ändern. Er hatte Freude an der Bewegung. Seine Konzentration und Geschmeidigkeit waren angenehm anzusehen. Er gebrauchte seine Kraft mit einer geradezu provozierenden Leichtigkeit, was ihn besonders männlich erscheinen ließ. Die Mädchen sahen Caradoc gerne dabei zu, wenn er seine Muskeln spielen ließ.
Der Sohn des Schmiedes war in ein leichtes, wollenes Hemd und eine der typischen keltischen Pluderhosen gekleidet. Sein Einbaum, der von den guten Bootsbauern kunstvoll aus einem einzigen, dicken Holzstamm geschlagen und geschnitten worden war, schwankte ein wenig.
Caradoc atmete tief durch. Er liebte diese frühen Stunden, wenn das Leben im Tal erwachte. Er steuerte die halb im Morgennebel liegende Honiginsel an, die in der Mitte des Mühlenteichs lag und auf der es von Fröschen, Blindschleichen und Ringelnattern nur so wimmelte. Das flache Eiland war von hohen Schwarzerlen und Silberweiden bewachsen und hatte seinen Namen von den zahlreichen Bienenkörben, die sich über die Insel verteilten. Caradoc schätzte die kleine Insel und ihre stille Atmosphäre. Es war einer der Lieblingsplätze von ihm und Duana, dem Mädchen, das er liebte und zur Frau nehmen wollte, so wahr er lebte.
Über dem Wasser standen ein paar frühe Libellen, die mit ihren faszinierend flirrenden Flügeln tanzten. Sie waren heilig, denn sie gehörten dem Gott Lug, dem Gott des Schönen, der Künste und des Erfindungsreichtums. Dem Gott des schönen Scheins. Der junge Kelte steuerte auf den Steg an der Honiginsel zu, zwei, drei Paddelstreiche, dann legte er mit seinem Einbaum an und machte ihn an einem der Pfosten fest.
Früher waren zu dieser Stunde Lieder durch das Tal geklungen. Die Fischer und die Bauern begleiteten ihr Tagwerk mit Gesang. Früher war das Tal fröhlicher gewesen. Doch seit die Römer gekommen waren, lag Mehltau auf allem Keltischen. Ihre hellen, harmonischen Stimmen waren verstummt. Flüchtige Vergangenheit. Geblieben war die Musik des Vogelgezwitschers. Gekreisch und Geschnatter umringten Caradoc. Flügelschlagen. Stockenten, Teichhühner und Haubentaucher bevölkerten die Wasseroberfläche. Diesen Platz hatte er sich als Lieblingsplatz auserkoren, als er noch sehr jung gewesen war. Eine Entscheidung für das ganze Leben.
Da hörte er durch die Schwaden, dass sich ein weiterer Einbaum näherte. Er wusste sofort, dass es Duana war. Es war kein Zufall, wenn er Duana hier traf, obwohl sie sich nicht verabredet hatten. Ihre Gedanken hatten sich in der Nacht zuvor berührt, und sie hatten sich im Traum verabredet, am nächsten Morgen an der Honiginsel zusammenzukommen. Ihre gemeinsamen Träume waren nicht ungewöhnlich. Sie kamen immer wieder. Beide spürten Tag und Nacht die Gegenwart und die Seelennähe des anderen, auch wenn sie oft gar nicht wussten, wo sich der andere gerade aufhielt und was er machte. Die ewigen Mächte der Anderswelt hatten sie, so schien es, miteinander verbunden. Sie waren wie die beiden unterschiedlichen Seiten einer Münze: jeder ein Einzelnes, und doch nur zusammen ein Ganzes.
„Psst! He? Wer ist da?“, rief er leise in den Nebel hinein, so dass keiner im Umkreis von mehr als einem Steinwurf es hören konnte.
„Caradoc … das ist doch deine Stimme! Bist du es?“, antwortete eine unsichtbare Mädchenstimme aus den Schwaden.
„Ja, natürlich bin ich es“, flüsterte er erfreut.
Ein schüchternes und verhaltenes Lachen antwortete ihm.
Sie tauchte wie eine zauberhafte Erscheinung aus dem Brodem auf. Duana hatte wunderschöne, strohblonde Haare. Man sagte, dass nur die Keltinnen aus uraltem Geschlecht solches Haar hatten; Haar, das an das volle Korn auf einem reifen, sommerlichen Weizenfeld erinnerte. Für Caradoc glich sie einer schönen Fee. Aber sie war weit mehr als ein Traumbild. Sie war ein unkompliziertes und tatkräftiges Mädchen, temperamentvoll und klug. Man sah ihr die Lebensfreude an, und das machte ihr Gesicht so sympathisch.
Caradocs Herz raste, als Duana näher kam. Das Mädchen seiner Träume. Alles wäre vollkommen gewesen, wenn sich nicht die beiden Väter Caileass und Donaghue wegen Rom verfeindet hätten.
Duanas Augen blitzten ihn an. In ihnen waren Liebe und Bewunderung für Caradoc. Er war stark. Sie liebte das. Er war gut gebaut und braungebrannt. Das liebte sie auch. Caradoc sah gut aus, war aber trotzdem ernsthaft. Er hatte ein breites Kreuz und kraftvolle Muskeln und einen Kopf, den er zu benutzen wusste. Und er hatte ein großes Herz. Er hatte sechzehn Mal den Abschied des alten Jahres am Samhainfest gefeiert und arbeitete seit zwei Jahren jeden Tag in der Schmiede seines Vaters, der die besten Waffen im östlichen Gallien herstellte und dessen Werke sogar Kundschaft aus den entferntesten Stämmen des Landes anlockten. Caradoc würde seinem berühmten Vater Caileass in dessen Schmiede nachfolgen. Auch das gefiel ihr.
Duana kam mit ihrem Einbaum längsseits. Dann berührten sie einander mit den Händen, von Boot zu Boot. Ihre Finger umschlangen sich zärtlich.
„Ich wünsche dir einen schönen Beltanetag“, sagte Duana liebevoll.
„Dir auch, meine Liebste! Frohes Beltanefest!“
„Ich wusste, dass ich dich an unserem gemeinsamen Lieblingsplatz treffen würde“, sagte Caradoc freudig. „Ich habe davon geträumt.“
Duana nickte. „Ich auch. Ich habe es auch gewusst, Liebster. Und hier bin ich.“
„Willst du mich küssen, Duana?“
„Ja, natürlich … Ich will dich immer küssen, Caradoc!“
Sie beugten sich zueinander und ihre Lippen berührten sich warm. Sie waren voller jugendlicher Frische und Kraft.
„Ja! Gut so!“ Caradoc löste sich von Duana. Er band ihren Einbaum an seinem fest. „Der Tag kann nur gut werden“, lächelte er zufrieden. Eine Welle kam. Und beide Boote schaukelten hin und her. „Ich werde heute Schwerter schmieden, wie sie noch niemals besser geschmiedet worden sind.“
Wie aus dem Nichts durchbrach etwas Schweres und Dunkles die Oberfläche des Mühlensees und klatschte wieder zurück ins Wasser; so nahe an Caradocs und Duanas Einbäumen, dass das Wasser bis in ihre Gesichter spritzte. Es war wie ein dunkles Zeichen.
„Was war das denn?“, fragte Duana erschrocken.
„Ein Fisch“, sagte Caradoc beiläufig. „Es war nur ein großer Fisch. Komm, lass uns an Land gehen!“
Der Holzsteg endete auf dicken, moosbewachsenen Steinen. Riesige, alte Silberweiden standen um den Steg herum. Die peitschenartigen Äste hingen bis ins schwarze Wasser der Ahr hinein.
„Sollen wir zum Inselhaus gehen?“, fragte Caradoc erwartungsvoll.
Duana nickte. Hand in Hand stiegen sie aus ihren schwankenden Booten und blieben nah voreinander stehen. Sie hielten sich an den Händen. Beide spürten den Atem des anderen. Schön!
„Ich bin so glücklich, dass du dich niemals beklagt hast über meinen Eigensinn. Nicht einmal an solchen Tagen wie Beltane“, raunte Duana.
„Unser Denken ist eins, glaub mir“, erwiderte Caradoc zärtlich. „Auch ich will dich erst besitzen, wenn die Druidin uns als Mann und Frau verbunden hat. Nicht vorher, auch wenn mein Körper sich noch so sehr nach dir sehnt. Dieses Sehnen gehört jetzt schon dir. Wir wollen im Einklang miteinander sein. Die Harmonie zwischen uns beiden ist das Wichtigste. Aber ich will dich küssen, dich streicheln und dir liebevolle Worte sagen.“ Er war glücklich, in ihrer Nähe zu sein. „Das darf ich doch?“ Er begehrte in seinem ganzen Leben nichts anderes so sehr, als mit Duana zusammen zu sein.
„Ja, das darfst du. Das sollst du! Viel Zeit haben wir aber nicht. Und denke daran, dass du beim letzten Mal versprochen hast, dass du meine Brüste nicht ohne mein Einverständnis berührst!“
Caradoc errötete heftig und nickte dann schuldbewusst.
Schweigend gingen sie Hand in Hand zum Anlegehaus hinauf. Sie empfanden die Honiginsel wie einen Garten der Anderswelt: Das vielstimmige Vogelgezwitscher hallte durch die Luft. Das Leben war erwacht, am Tag des Beltanefestes. Beltane, das Fest der Liebe und der Fruchtbarkeit. Bald würden die Feuer brennen.
Gemeinsam nahmen sie auf der kleinen Bank Platz, die genau vor dem Inselhaus aufgebaut war, so als wäre sie geradezu für sie gemacht worden. Die Honigsammler ruhten sich hier gewöhnlich aus.
Der Nebel lichtete sich. Der Blick auf den Heiligen Berg – des Landes Krone – wurde frei. Der kegelförmige Berg, der das Tal beherrschte und dessen Gipfel den Göttern geweiht war.
„Der Berg sieht erhaben aus“, sagte Caradoc ehrfürchtig. Er legte den Arm um Duana und küsste ihre Haare. Duana schmiegte sich an seine Seite.
„Auch ich liebe diesen Berg“, sagte Duana voller Überzeugung. Sie verehrte alles in der Natur, das ihr bedeutungsvoll vorkam. „Aber viel mehr lieb ich dich, mein Salamander“, flüsterte sie zärtlich und benannte Caradoc mit dem ältesten ihrer Kosenamen für ihn. „Ich wünsche mir, dass wir für immer unseren Weg gemeinsam gehen.“
„Salamander?“ Caradoc lächelte. „So hast du mich schon lange nicht mehr genannt, mein Schatz. Ich liebe dich dafür ganz besonders“, sagte er liebevoll und auch etwas nachdenklich. Er blickte in das orangefarbene Licht der aufglühenden Morgensonne, während die beiden Einbäume in den Wellen des nebligen Mühlsees still nebeneinander schaukelten. Diese beiden leeren Einbäume, die unabhängig voneinander gleichzeitig im Takt auf den Wellen wippten, kamen ihnen wie ein Symbol ihrer gemeinsamen Zukunft vor.
„Heute sollst du mich ganz besonders festhalten“, sagte Duana, und plötzlich war ein trauriger Tonfall in ihrer Stimme.
„Ist etwas geschehen? Bedrückt dich etwas?“, fragte Caradoc besorgt.
„Ach, nichts Besonderes. Es ist nur das Kind unserer Küchenmagd … ein so schönes, liebes Kind. Heute Morgen war es tot. Es ist einfach nicht aus dem Schlaf aufgewacht.“
„Das tut mir leid“, erwiderte Caradoc.
„Da siehst du, wie schnell sich im Leben alles ändern kann, mein Liebster“, sagte Duana nachdenklich. „Gestern noch ein fröhliches, lachendes Kind, und am nächsten Tag …“
„Komm noch enger in meinen Arm, Duana“, sagte Caradoc aufmunternd. „Ich will dich vor allen bösen Mächten da draußen schützen. Solange ich bei dir bin, soll dir nichts Böses geschehen.“