Читать книгу Die Blutkönigin - Günter Ruch - Страница 20
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Die Totenklage der Hohen Druidin
„Ich spüre dich noch immer tief in mir, Sinned“, flüsterte die alte Druidin zart und bitter. „In meiner Seele, in meinem Geist, in meinem Herzen, in meinem Körper.“ Sie kniete betend und meditierend am Totenbett ihrer entseelten Tochter. Sie hatte den Leichnam auf das Bett in Sinneds Kammer legen lassen. Danach hatte sie die Priester hinausgeschickt. Sie wollte zum letzten Mal mit Sinned allein sein. Der jüngste der Priester, Cameron, hatte versucht, ihr etwas Tröstliches zu sagen, doch sie hatte ihm das Wort abgeschnitten und ihn wegen seiner Anmaßung zurechtgewiesen. Da waren die hellen Augen des jungen Burschen dunkler geworden, und er war wie ein geprügelter Hund davongegangen. Und Meredyd war nicht mehr ganz so sicher, ob sie des Trostes nicht doch bedurft hätte …
Die Kammer enthielt die persönlichen Gegenstände ihrer Tochter. Ihren Gürtel. Ihre goldenen Halsreifen, die Torques. Eine kleine Holzpfeife, die ihr einmal ein Junge geschnitzt hatte. Die wenigen Stücke in ihrem Kleiderkasten. Und das rote Halsband der schwarzen Schäferhündin Yulu, die ihr als kleines Mädchen immer ein treuer Begleiter gewesen war. Sinned hatte Yulu abgöttisch geliebt, und sie hatte viele Monate getrauert, als sie gestorben war. „Ich spüre dich in mir, so wie es war, als ich mit dir schwanger war.“
Die alte Druidin hatte schon lange aufgehört, ihre Tränen zu unterdrücken. Mit den Tränen kamen die Zweifel und immer wieder auch der Hass.
Das weiße Leinen, in das sie den Leichnam mit großer Sorgfalt eingewickelt hatten, war von den Priestern mit stark duftenden Wässern durchtränkt worden. Nach keltischer Sitte hatten sie den Kopf, die Hände und die Füße freigelassen; auf Sinneds Stirn hatten sie drei keltische Münzen gelegt, Goldschüsselchen, als Lohn für den Fährmann, der sie übersetzen sollte zu den Inseln der Ewigkeit. Die freien Stellen der Haut, auch Sinneds Gesicht, waren geweißt worden, darauf hatten die Priester mit tiefschwarzer Farbe Ornamente und Zeichen, Symbole und Ranken gemalt, an denen man Sinned in der Anderswelt erkennen konnte.
„Oh, meine kleine Sinned … Nur so wenige Sommer hast du gesehen, und heute muss ich deinen Leichnam verbrennen“, flüsterte die Hohe Druidin mit tränenerstickter Stimme. „Alles ist anders“, fuhr sie fort. „Alles hat sich geändert, seitdem du mich alleingelassen hast.“
Meredyd überließ sich ihrem Schmerz. „Ich wollte mein Haus und meine weltlichen Angelegenheiten verlassen und in der Wildnis leben“, klagte sie. „Ich wollte in den dritten Orden der Druiden übertreten, um als Wissende zu den Stämmen zu gehen, um mein Wissen zu teilen und weiterzugeben.“ Zärtlich legte sie, noch immer kniend, die Hand in einer letzten, liebevollen Geste auf das Leinen, mit dem der vergängliche Körper umwickelt war. „Ich wollte von den Früchten des Waldes und von den Kräutern der Heide leben und von Wurzeln. Ich wollte ein leichtes Kleid tragen und die Haare und die Fingernägel wachsen lassen. Ich wollte heilig sein. Nur noch im Dienst unserer alten Götter. Alles das wollte ich. Ich wollte zu Dana und Zernunos und Taranis beten und meine Seele mit dem göttlichen Geist vereinen. Es ist von Beginn an als mein Weg vorherbestimmt gewesen. Am namenlosen Tag, zur Wintersonnenwende“, fuhr die Druidin fort, „an dem Tag, an dem der dunkle König schon gestorben ist und der helle noch nicht geboren wurde, solltest du mir nachfolgen auf dem Druidenstuhl des Ahrgaus, so war es vorherbestimmt.“ Sie hielt einen Augenblick inne. „Jetzt ist alles anders gekommen“, fuhr sie stockend fort. „Du bist tot. Du wirst verbrannt. Nichts wird so sein, wie ich es gewünscht und gewollt habe. Die Götter haben sich anders entschieden.“
Einige Zeit später erklang ein leises Pochen an der Tür der Kammer. Die Hohe Druidin vermutete die Priester, die mit ihren Vorbereitungen für das Leichenbegängnis und die Beisetzung fortfahren wollten.
Es waren jedoch die Dienerinnen vom Hof der Druidin, an ihrer Spitze die treue Eiblin. „Wir wollen Eure Worte hören, Herrin“, sagte Eiblin. „Wir alle wünschen uns, dass Ihr uns mit Euren Worten Trost spendet“, bat die schlohweiße Alte.
Meredyd nickte. Das Mitgefühl der Dienerinnen tat ihr gut. „Wenn wir meiner Tochter nach dem Leichenfeuer den Schädel erbrechen werden, damit ihre Seele entweichen kann“, begann sie leise, „werde ich bei allen unseren heiligen Göttern schwören, dass ihr Opfer nicht umsonst gewesen sein soll. Die Götter haben ihren Schicksalsweg bestimmt. Sie hat ihre Zeit erlebt in dieser Welt. Sie wird in der Anderswelt leben. Sie wird eingehen in den Eibenhain unserer Ahnen und sich am Herdfeuer unserer Urmutter mit allen anderen versammeln in immerwährender Freude und Losgelassenheit. Das glaube ich fest.“
Die Dienerinnen nickten. Die Worte der Druidin berührten ihre Seelen. „Auch wir glauben alle fest daran“, bekräftigte Eiblin scheu, und die anderen Dienerinnen nickten. Doch Meredyd spürte, dass jetzt auch schon bei den Dienerinnen die Zweifel den tiefen, alten Glauben übertrumpften.
„Meine Tochter wird durch das Flammentor des Todes und durch das Tor der Zeit schreiten“, sagte Meredyd mit sanfter Stimme. „Hört zu, meine Lieben! Sie wird uns allen vorangehen. Wenn wir ihren Leib verbrennen, dann bleibt ihr Geist übrig. Auch wenn wir ihn nicht sehen, er ist dennoch da. Hier, um uns herum.“ Die Druidin beschrieb mit dem ausgestreckten rechten Arm einen großen Kreis und streckte ihn nach dem Leichnam ihrer Tochter aus. „Jetzt bist du fort, Sinned, und du wirst mir und uns allen in dieser Welt so sehr fehlen!“