Читать книгу Die Blutkönigin - Günter Ruch - Страница 12
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Das Tor der Amarandel
Sinned und ihre Mutter Meredyd ritten ahraufwärts. Das Wetter war angenehm. Bauschige, weiße Wolken vor dem Himmelsblau. Die Tochter der Druidin kehrte nach dem Beltanefest in den Heiligen Hain zurück, der inmitten eines Eichenwaldes im oberen Tal jenseits des Tores der Amarandel lag. Dieses natürliche Felsentor öffnete eine Schlucht, durch die sich der junge, wilde und kraftvolle Fluss seinen Weg bahnte. Cearnach, der keltische Reiterkrieger, dem der Schutz des Haines oblag, hatte die beiden in Magos abgeholt und begleitete sie ahraufwärts.
Eine Waldzeit von mindestens drei Jahren gehörte zur Ausbildung eines jeden Druiden und einer jeden Druidin, von denen es in der keltischen Welt nurwenige gab, eine davon im Ahrgau. Sonst hatten meist Männer dieses Amt inne. Um der werdenden Druidin in dieser stillen Abgeschiedenheit die alten Gesetze, Märchen, Dramen und Göttergeschichten zu vermitteln, kamen immer wieder Wissende aus nah und fern in den Heiligen Hain. So viele Generationen hatten diese Geschichten weitergegeben. Von ihrer Mutter hörte Sinned in ihrer Lehrzeit vieles über die Leitsätze des Druidentums und deren Bedeutung im alltäglichen Leben des Gaus und der Menschen. Die geheimen Texte wurden ausschließlich mündlich weitergegeben, sie durften nicht schriftlich festgehalten werden – sonst wäre ihre magische Kraft verloren gegangen.
Der hasenschartige, gepanzerte Reiterkrieger war der einzige Geleitschutz der beiden hochgestellten Frauen. Das Tal, das sie entlangritten, wirkte friedlich, still und abgelegen. Trotz des schönen Wetters waren die Gesichter der beiden Frauen finster und verschlossen. Die Miene des Kriegers war starr und emotionslos. Die breiten goldenen Halsreife der Frauen bekräftigten ihren hohen Stand als Druidinnen. Die Torques blinkten verführerisch und golden verlockend in der hellen Nachmittagssonne, die das enge Obertal der Ahr überstrahlte.
Seit sie aufgebrochen waren, hatten Mutter und Tochter kaum miteinander gesprochen. Zwischen ihnen stand eine unsichtbare Wand. Sie hatten sich voneinander entfremdet, sahen die Welt mit unterschiedlichen Augen. Sinned konnte Meredyd schon lange nicht mehr verstehen. Die alte Druidin verschloss sich jeder Neuerung. Sie ignorierte die Welt, so wie sie nun einmal geworden war. Sie glaubte noch immer an die Allmacht der keltischen Götter, die schon lange verloren gegangen war.
Das Tal wurde enger und dunkler. Schroff ragten die grauschwarzen Felswände in den Himmel. Manchmal war der Weg am Fluss so eng, dass sie nicht mehr nebeneinanderreiten konnten. Die Pferde hatten Angst, und ständig pfiff ein scharfer Wind durch das Tal. Der Fluss, der immer schmaler wurde, zog eine enge Schleife. Die Schlucht war hier tief eingeschnitten. Überall wucherte urwüchsiger Baumbestand. Auf den Höhen begann der undurchdringliche, dunkle Ardennerwald, der sich viele Tagesreisen weit westlich erstreckte – fast bis zum fernen Land der Karnuten und der Pariser. Linker Hand schäumten weiß glitzernd, wie gläsern, die Stromschnellen des Flusses. Einmal ging es über Treppen. Grob in den Fels gehauen.
Meredyd wusste, dass ein giftiger Pfeil in Sinneds Herz steckte. Es war das Gift des mangelnden Vertrauens in die alten Götter, das in ihren Adern zirkulierte. Die Druidin fühlte sich einsam. War am Ende alles umsonst gewesen? Sinned war wirklich noch wie ein Kind. Kannte keine Verantwortung. War aufsässig und hatte falsche Gedanken.
Unvermittelt fuhr ein kalter Luftzug über sie hinweg, erfasste Haare und Kleider und ließ sie frösteln. Im gleichen Augenblick flog in der Nähe, aus dem Schutz einer riesigen, alten Trauerweide, ein ganzer Schwarm Krähen auf. Schwarz, laut, hässlich schreiend und schimpfend, Boten drohenden Unheils.
Ein Eisvogel stürzte sich wie ein bunter Edelstein in die Fluten der Ahr, und er hatte Erfolg, schnappte ein winziges, silbernes Fischlein, das kaum so lang war wie ein kleiner Finger, und flog davon.
Die Mittagsstunde war schon längst vorbei, als sie das Felsentor erreichten, hinter dem der heilige Abschnitt des Ahrtales begann. „Brrr!“ Die Druidin zügelte ihre weiße Stute. „Da ist es! Das Tor der Amarandel.“
Meredyd deutete nach vorn, wo sich die Felsen auftürmten. Die Felsenschlucht hatte ihren Namen nach einer Zauberin und Feenkönigin, die einst hier gehaust hatte und deren Geist, so glaubten alle im Tal, noch heute zwischen den düsteren Felsen und den alten Bäumen sein Unwesen trieb.
„Ich fühle mich jedes Mal bedroht, wenn ich an diesen Ort komme“, sagte die junge Druidin Sinned unbehaglich. „Das Tor der Amarandel ist mir unheimlich.“
Sie hielten kurz an. Der hasenschartige Krieger Cearnach schaute sich wachsam um. Jeder, der ein Gespür für das Wallen und Walten der Natur hatte, empfand an diesem Platz große Ehrfurcht vor der tiefen Macht, die Mutter Erde innewohnte und die unmittelbar aus den tiefsten Schlünden heraufzuwachsen schien. Es war ein magischer Ort, der der Großen Göttin Dana gehörte.
Der Weg führte über blanken, nassen Stein. Die schräg stehende Nachmittagssonne kapitulierte vor den Schatten in der Klamm. Weiter flussaufwärts gab es weder Weg noch Steg, die Ahr wand sich dort in engen Schleifen zwischen steilen Kaskaden grauer, pfeilerartig aus dem Erdinneren hervorschießender Basaltsäulen hindurch.
Meredyd machte ein Zeichen, das die magische Kraft aller Dämonen an Amarandels Tor bannte und die Göttin besänftigte. Uralte, eichenhölzerne Stelen, jede so dick wie ein Mann und von den Altvorderen tief im Boden versenkt, standen rechts und links des Saumpfades. In die Eichenstelen waren machtvolle Bildzeichen und Symbolfiguren geschnitzt, die nur von Eingeweihten verstanden und gelesen werden konnten.
„Lass uns weiterreiten“, sagte die alte Druidin. „Wir haben noch eine schwierige Wegstrecke vor uns.“
„Mutter, du siehst plötzlich so besorgt aus“, entgegnete Sinned und richtete sich im Sattel ihres Reittieres auf.
Im gleichen Augenblick hörten sie ein unheilvolles, tödliches Sirren.
Der feindliche Pfeil hatte die Hohe Druidin nur um Haaresbreite verfehlt.
„In Deckung“, schrie Cearnach. „Germanen! Es sind Germanen! Runter von den Pferden!“
Sinned und Meredyd sprangen aus den Sätteln ihrer edlen Schimmel und duckten sich. Cearnach riss sein Schwert aus der Scheide und stellte sich mit seinem Schild schützend vor die Druidin.
Das Tor der Amarandel hatte sich plötzlich in eine Todesfalle verwandelt.
„Dort sind sie!“, schnaubte Cearnach. „Unter der Bäumen!“
Sinned sah noch die lachenden groben Gestalten, die wie hässliche Dämonen unter den blühenden Frühjahrsbäumen aufgetaucht waren, offensichtlich Germanenkrieger, die auf Raub und Mord aus waren. Dann traf sie der nächste Pfeil frontal.
Tödlich.
Sie wurde zurückgeschleudert, blieb an der Flanke ihres Pferdes liegen. Sie wunderte sich, dass sie keine Schmerzen spürte. Obwohl der Pfeil ihr Herz durchbohrt hatte und auf dem Rücken wieder ausgetreten war.
Entsetzen und Furcht weiteten ihre Augen. Alles war zu schnell gegangen. Sie hatte sich nicht auf den Tod vorbereiten können. Nicht in diesem Augenblick. Sie spürte, wie das warme Blut aus ihr floss und wie sie ihr Leben aushauchte. Das war nicht gerecht! Die Zeit erschien endlos und gleichzeitig schnell. Ihr Bewusstsein veränderte sich in dem Maße, in dem ihr klar wurde, dass sie starb, dass ihr Leben unwiederbringlich vorbei war.
Sie entfernte sich schon von der Welt. Sie spürte, wie sie jemand an der Hand nahm. „Ich werde dich begleiten“, sagte der unbekannte Namenlose. Es war jemand, der ihr unendliches Vertrauen einflößte, sie würde mit ihm gehen. „Wir gehen in die Helligkeit. Du wirst in ihr aufgehen und sie in dir.“
Sie hörte auf zu atmen.
Das äußere Bild der Welt kippte um und erlosch. Das Letzte, das sie sah, war ein Himmel. Ein ferner, hoher Himmel.
Wunderbare, fein verästelte, herrlich filigrane Wolken in unglaublicher Höhe, fast so hoch, als würden sie bis zu den Sternen reichen.
Aber auch dieses lichthelle Bild erlosch.
Tiefe Todesruhe überkam schließlich den letzten Rest von Persönlichkeit, der von Sinned noch übrig geblieben war.
Ihr Name … Sinned …
Auch ihr Name verschwand bereits im Dunkeln.
Sie wusste, dass sie loslassen musste, jetzt …
Doch sie konnte in der unendlichen Finsternis nicht erkennen, wohin ihr Weg ging …
Oder war da doch der Hauch eines fernen, ganz fernen unwirklichen Lichts am Ende des Weges?