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Novancos schwarze Augen

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Duana hatte es sich für einen Moment in ihrer Schlafgelegenheit aus Netzgewebe gemütlich gemacht und döste. Das Schlafnetz war zwischen zwei Stützpfosten des Gebäudes aufgespannt. Ein paar Fliegen umsirrten sie. Frühsommer. Sie dachte intensiv an Caradoc. Ihr wurde warm ums Herz, wenn sie an ihn dachte. Sie liebte ihn, dessen war sie sich sicher. Duana kaute auf einem Grashalm. Sie ließ ihr nacktes Bein aus der Hängematte baumeln und stieß sich am Boden ab, so dass die Schaukelei ihren Kopf durcheinanderbrachte und verwirrte. Das war, als hätte sie drei Becher Wein getrunken.

Sie machte sich Sorgen wegen ihrer jüngeren Schwester Enid. Duana empfand es als ihre Pflicht, auf die „Kleine“ aufzupassen. Alleine schon, wenn Enid dieses Wort hörte, konnte sie wütend werden. Die Kleine wurde schnell wütend. Sie sah nicht ein, dass ihre drei Jahre ältere Schwester ihr irgendetwas zu sagen hätte. Nicht nur die Mutter fand, dass der Vater das Mädchen zu sehr verwöhnte und ihr viel zu oft den Willen ließ. Auch jetzt war Enid unbeaufsichtigt draußen im Oppidum unterwegs, zusammen mit den anderen Mädchen. Donaghue hatte es gestattet. Duana hatte das im gleichen Alter nicht gedurft.

Die älteste Tochter des Obersten Kriegers Donaghue war alleine im gemeinsamen Raum der beiden Töchter, einem Anbau an das Haupthaus, der einen eigenen Ausgang hinaus in den Garten hatte. Sie schwitzte. Die beiden von ihrem Vater Donaghue viel geliebten Töchter hatten hier ihre Schlafstelle: Die früh erwachsene Duana und die süße, sanfte Enid, der ausgemachte Liebling des Vaters. Es war richtig heiß, viel zu heiß für die Zeit kurz nach Beltane.

Die Dienerin hatte die großen, geflochtenen Türen ausgehangen, mit denen der Raum nachts und in der kalten Jahreszeit verschlossen wurde. Das nachmittägliche Licht und die frische Luft, die vom Fluss heraufstrich, strömten in den Gemeinschaftsraum der beiden Donaghue-Töchter herein.

Duana schaute dösend hinaus, über den Garten hinweg bis zur Palisade des Oppidums. Rechter Hand lagen die Ställe, in denen die Reitpferde des Vaters untergebracht waren. Sie war stolz auf den Besitz ihres Klans. Sie konnte das Dach des großen Gebäudes hinter den Ställen gut erkennen. So wie das Haupthaus, das mit den gewaltigen, drachenköpfigen Eckpfosten eines der prächtigsten in Magos war, waren auch alle anderen Gebäude von Donaghues Herrenhof erst im vergangenen Herbst schön mit neuem Schilf gedeckt worden.

Sie gähnte. Wenn ihre Mutter Gwenfrew sie jetzt so müßig finden würde, gäbe es sicher Ärger und Zank. Eigentlich hätte sie am Webstuhl arbeiten sollen, doch der stand schon seit geraumer Zeit unbeachtet abseits des Schlafnetzes. Sie hatte keine Lust mehr. Ihre Finger taten ihr weh. Sie hatte schon so viel geschafft! Sie war schnell und fingerfertig mit dem Weben, sie brauchte nicht mal halb so lang wie Enid, um ein schönes Stück Leinen fertigzustellen. Besser noch als ihre Lehrmeisterin Gwenfrew konnte sie die schwierigen, bunten Muster weben, an denen man erkennen konnte, dass das Tuch aus dem Ahrgau stammte. Jeder Gau der Eburonen hatte sein eigenes Muster. Die einzelnen Familienklans verwendeten spezielle Farben, Verschnörkelungen, Rankenwerke und Verzierungen, die niemand sonst verwenden durfte, so konnte man sie jederzeit voneinander unterscheiden.

Leise, nur für sich, sang Duana das Lied von Wind und Woge, eine Weise mit einer melancholischen Melodie, die die wandernden Barden von Siedlung zu Siedlung trugen:

Ich bin der Wind des Meeres.

Ich bin die Woge der See.

Ich bin das Rauschen der Brandung.

Ich bin der erhabene Falke

auf der Klippe über der Gischt.

Ich bin ein salziger Tropfen,

der in der Sonne glitzert.

Das Lied war traurig. Deswegen liebte sie es so. Sie musste immer an Caradoc denken, wenn sie es sang oder pfiff. In ihrer Fantasie war Caradoc der Falke, der über der spritzenden Gischt der Brandung schwebte …

Duana seufzte. „Mulba!“, rief sie, als der falbfarbene Kater hereinstolziert kam. Er war der eigentliche Herr des Gemeinschaftsraumes. Sein glänzendes Fell hatte die Farbe eines hellen Bernsteins. „Wo hast du dich denn nur schon wieder herumgetrieben?“ Sie lachte. Mulba antwortete mit einem kräftigen, selbstbewussten Miau-u. „Du hast Recht. Am liebsten wäre ich wie du. Ein Streuner. Könnte einfach hinten hinaus und fort, und keiner sagt mir, was ich tun und lassen soll.“

Der Kater ignorierte Duana, wandte sich um, legte sich mitten auf Enids Schlafstelle und rollte sich zusammen. Ehe er einschlief, richtete er seine Augen noch einmal auf Duana. Es schien, als würde er ihr zuzwinkern. Nach Caradoc, ihren Eltern und ihrer Schwester liebte Duana den Kater von allen beseelten Lebewesen auf dieser Welt am meisten.

„Ja, leg dich nur, Mulba“, sagte Duana froh und döste weiter in ihrem Schlafnetz. „So gut wie du möchte ich es auch mal haben. Du brauchst niemandem Rechenschaft abzulegen, du hast keine Pflichten, du hast keine Götter - und trotzdem bist du glücklich.“

Der Kater gähnte.

„Wie du willst.“ Duana zog einen liebevollen Schmollmund. Es war Zeit, die Webarbeit wieder aufzunehmen. Am Abendtisch, wenn die ganze Familie, mit Onkeln, Tanten, Nichten und Neffen, die ebenfalls auf dem Klangehöft lebten, zusammenkam, würde die Mutter sie gewiss danach fragen.

Wie oft hatte sich Duana schon geärgert. Lieferte sie gute, solide Arbeit ab, wie es kaum eine bessere gab, sagte Gwenfrew nichts. Die unbegabte Enid hingegen wurde schon gelobt, wenn sie die ihr aufgetragene Arbeit auch nur einigermaßen hinbekam. Duana war diejenige, die die Kunst- und Fingerfertigkeit der Mutter geerbt hatte, doch sie wurde, wie sie fand, viel zu wenig gelobt. Sie fragte sich oft, warum das so war, wusste aber keine Antwort.

War die Mutter eifersüchtig auf sie, weil sie geschickter war? Wie dem auch sein mochte, war Gwenfrew immer ihre Vertraute. Sie wusste von Caradoc und hatte versprochen, auf den Vater einzuwirken, damit der einer Heirat zustimmte. Gwenfrew hatte nichts gegen Caradoc. „Er ist der Sohn des Wunderschmieds“, hatte sie gesagt. „Er ist von einwandfreier, uralter eburonischer Herkunft, und sein Vater ist ein reicher Mann, der sich leisten kann, was er will. Außerdem ist er ein gutaussehender Junge“, hatte die Mutter schmunzelnd hinzugefügt. „Ich kann mir gut vorstellen, dass ihr beide zusammen ansehnliche Enkelkinder hervorbringen werdet.“

Plötzlich flog die dünne, geflochtene Türe auf, mit der Duana den Durchgang vom Haupthaus zum Gemeinschaftsraum der Kinder verschlossen hatte.

Duana wunderte sich: „Was machst du denn hier?“

Enid stürmte herein. Sie hatte das gleiche goldblonde Haar wie ihre Schwester. Es war zu drei Zöpfen gebunden, von denen zwei wie eine Krone um den Kopf geschlungen waren. Der dritte hing am Rücken hinab. Die Mutter hatte ihr die Zöpfe geflochten: „So machen es die Adelsfrauen bei den anderen Kelten.“ Enid sah süß aus mit der keltischen Frisur.

Jetzt schien sie jedoch vollkommen aufgeregt zu sein. Sie warf sich auf die Schwester, wollte sie trostsuchend umarmen, so dass die beiden am Ende gemeinsam zu Boden stürzten. Ein Knäuel aus blonden Zöpfen, hellen Armen voller Sommersprossen, schlanken Beinen, bunten Kleidern und Schmuckketten.

Es war ihnen nichts passiert, und sie mussten lachen. Mulba gähnte gelangweilt und würdigte die beiden Mädchen trotz des Getöses keines Blickes.

„Bei der Großen Göttin!“ Duana und Enid setzten sich einander gegenüber in den Schneidersitz. „Was ist bloß los mit dir? Du hast uns ja beinahe umgebracht.“

Duana ahnte, warum ihre Schwester zu ihr gekommen war. Als sie so alt gewesen war wie Enid jetzt, hatte sich ihre kindliche Zuneigung zu Caradoc plötzlich verwandelt. Nun war Enid an diesem Punkt. Sie suchte Trost. Sicherlich ging es wieder um Novanco, das Waisenkind, das von Cauldron, dem Seher, aus Gründen, die nur er kannte, wie ein Adoptivsohn in sein Haus genommen worden war. Novanco war der Schwarm aller Mädchen in Magos. Anders als die meisten anderen Jungen im Oppidum hatte Novanco dunkle, fast braune Haut, schwarzes Kraushaar und ebenso dunkle Augen.

„Novanco?“, fragte Duana vorsichtig.

„Nova ist ein verfluchter Teufel“, schluchzte Enid und schlang die Arme um den Hals der Schwester.

„Beruhige dich doch! Was ist denn passiert?“

Doch Enid brachte vor Schluchzen kaum eine Silbe hervor. Duana streichelte ihr über das Haar. Die Zöpfe waren ganz durcheinander.

Die Zeit der erwachenden Gefühle, dachte Duana. Jetzt war ihr die Schwester ganz nah. „Hast du dich endlich beruhigt?“

„J-j-ja“, schniefte Enid. „Ist schon gut.“

„Was ist passiert?“

„Ich habe gesehen, wie er Briantia geküsst hat.“ Und wieder schossen ihr Tränen in die Augen. Die Wildheit ihrer neuen Gefühle war ihr noch gänzlich fremd. Seit sie ihr Monatsblut hatte, war das so. Duana befand, das sei alles normal, doch für Enid war im Augenblick nichts normal.

„Du weißt doch ganz genau, dass er nicht nur Briantia geküsst hat. Er ist ein Weiberheld, obwohl gerade erst sein Bart sprießt. Ich glaube, es gibt kaum ein Mädchen im Dorf, bei dem er es nicht probiert hat.“

„Das ist es ja gerade“, schluchzte Enid. „Außer bei mir.“

„Du meinst, er hat es bei dir nicht mal versucht?“

Enid schüttelte den Kopf. „Er behandelt mich wie Luft.“

„Das kann ich nicht verstehen“, sagte Duana nachdenklich. „Du bist eines der schönsten Mädchen im Dorf.“

Enid nickte verzweifelt. „Das sagen mir die anderen Jungen auch. Doch ich will keinen von denen.“ In ihr verheultes Gesicht trat Trotz. „Ich will nun mal den. Was soll ich bloß machen?“

Novanco. Der hatte es ihrer kleinen Schwester angetan, und das ging seit dem letzten Vollmond so.

„Schwesterchen, ich kann dir nur zweierlei sagen. Zwei Dinge wie der Tag und wie die Nacht. Das Eine: Novanco ist untreu und frech, lass die Finger von ihm. Und das Zweite: Lern deine Gefühle zu beherrschen.“

„Ach, du mit deinen klugen Sprüchen!“ Enid stieß Duana unsanft von sich. Duana kannte das. Kannte Enids jähe Stimmungsumschwünge. Als sie jünger waren, hatten sie sich oft wegen nichts in den Haaren gelegen. „Du hast gut reden mit deinem Caradoc!“

„Ich weiß, dass er treu ist“, erwiderte Duana etwas schnippisch und von oben herab. „Und außerdem ist das etwas ganz anderes. Caradoc und ich sind fast schon erwachsen. Er ist eigentlich schon ein Mann. Novanco dagegen ist noch ein junger, unreifer Bursche.“

„Er ist ein Mistkerl“, entfuhr es Enid.

Duana lachte. „Ja, ein Mistkerl.“

„Aber er hat so wunderbare schwarze Augen.“

„So dunkle Augen wie die Mitternacht! Woher willst du das eigentlich wissen, wenn er dich nie anschaut?“

Enid schlug die Augen nieder. „Nie ist vielleicht etwas übertrieben“, gab sie zu. Dann huschte plötzlich ein verklärtes Lächeln über ihr Gesicht. „Ein paar Mal haben wir uns schon in die Augen gesehen“, sagte die jüngere Tochter des Kriegsherren Donaghue verträumt.

„Dann warte doch ganz einfach, Schwesterchen“, sagte Duana. Allmählich langweilte sie das Thema Novanco. „Vielleicht legt er ja irgendwann seine Unreife ab und ändert seinen Charakter.“

„Du redest schon genauso daher wie unsere Mutter.“

Duana schaute ihre Schwester streng an. „Enid, du gefällst mir nicht, wenn du von Novanco redest!“ Sie legte der Schwester die Hände auf die Schultern. „Und was unsere Mutter sagt, stimmt. Du musst mir eines hoch und heilig versprechen, bei unseren Ahnen und bei Brigid der Jungfrau, der Tochter der Göttin Dana: Werfe dich nicht an den Erstbesten weg, versprichst du mir das?“

„Warum denkst du immer so schlecht von mir? Du, und Mutter genauso!“

„Versprichst du es nun oder nicht?“

„Ich muss mir gar nichts von dir sagen lassen, nur weil du etwas älter bist“, erwiderte Enid trotzig. „Und außerdem werde ich dir nie wieder irgendwas erzählen, wenn du mir danach nur Vorhaltungen machst!“ Sie zog eine Schnute. „Lass mich damit endlich in Ruhe“, fuhr Enid auf und schlug die tröstende Hand der älteren Schwester beiseite.

„Du weißt ganz genau, dass unsere Mutter genauso denkt wie ich.“

Enid hielt sich die Ohren zu. „Ich will nichts mehr hören. Du bist eine böse blöde Ziege, du willst doch immer nur, dass du besser dastehst als ich.“ Sie konnte jähzornig, launisch, verletzend und gemein sein. Duana war eine der wenigen, die diese dunkle Seite der kleinen Elfe kannten, die nach außen immer so harmlos tat und die bei allen Leuten so beliebt war.

„Den anderen kannst du vielleicht Sand in die Augen streuen, aber mir nicht“, sagte Duana ungehalten.

Enid riss sich los. Sie lachte abwehrend und schaute ihrer älteren Schwester herausfordernd in die Augen. Darin war alles Kindliche schon vollkommen verloren gegangen. „Tu doch nicht so! Ich wette, du hast deinem Caradoc inzwischen längst deinen Lieblingsplatz gezeigt!“ Enid grinste hässlich. Dann lief sie hinaus auf die Terrasse, die sich zwischen dem Herrenhaus und dem Garten erstreckte. Gwenfrew zog hier Pflanzen, die sie besonders liebte, seltene Heilkräuter, Flaschenkürbisse, schöne, bunte Blumen, wohlriechende Sträucher. Alles war saftig grün und wuchs dem Sommer entgegen.

„Du weißt ganz genau, dass das nicht stimmt“, rief Duana ihr wütend hinterher. Doch da drehte sich die Schwester schon draußen auf der Terrasse in einem albernen, kindischen Tanz.

Caradoc ihren Lieblingsplatz zeigen … Ja, es wurde Zeit. Er würde es nicht falsch verstehen. Nicht so, wie Enid das meinte. Enid hatte schmutzige Gedanken. Viel zu schmutzig für ihr zartes Alter.

Das Zeigen des Lieblingsplatzes bedeutete, dass sich das Mädchen mit dem Jungen vereinen wollte.

Nein, bei Caradoc war das anders. Er hielt sich an seine Versprechen. Sie konnte es wagen. Sie konnte ihm ihren Lieblingsplatz, ihre Klamm zeigen.

Ja, es wurde Zeit.

Die Blutkönigin

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