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I Resilienz im Alltag
ОглавлениеNeben mir im Bus von Jerusalem nach Tiberias sitzt ein Soldat, der für den Sitz viel zu groß ist und dessen Schnellfeuerwaffe mir mit dem Schaft immer wieder mal in die Seite drückt. Gott sei Dank hat er die zwei vollen Magazine nur an das Mittelteil mit Kreppverschluss angebunden und nicht eingesetzt. Aber so ist das hier. Gestern schon hatte einer, während er an seinem Handy herumspielte, dauernd die Mündung seines Gewehrs auf mich gerichtet. Ich fühlte mich an Szenen in Kriminalfilmen erinnert, in denen man sonst so etwas sieht. Ich wollte schon »alles zugeben«. Makaber, surreal, fremd. Aber schon wie beim ersten Aufenthalt im heiligen Land habe ich mich nach einigen Tagen an solche Situationen gewöhnt. Es ist ein Teil dessen, wie man hier in Israel/Palästina mit Bedrohung und Spannung umgeht.
Resilienz ist die Fähigkeit, mit widrigen bis sehr widrigen Umständen umzugehen. Resilienz wird notwendig, wenn plötzliche starke traumatische Ereignisse ins Leben eingreifen oder auch wenn stetige Bedrohungen und Spannungen herrschen. Resilienz bedeutet dann, mit diesen Situationen so umzugehen, dass keine posttraumatische Störung, also etwa depressive oder auch gewalttätige Reaktionen, entstehen. Denn genau das widerfährt Menschen oft, die großen Spannungssituationen ausgesetzt waren oder sind. Und in dieser menschlichen Tendenz, widrige Umstände auch mit sehr archaischen Denk- und Verhaltensmustern zu beantworten, liegt eine große Gefahr. Deshalb gilt es, über individuelle Resilienz nachzudenken, aber auch deren Seite in Humansystemen, also Organisationen bis hin zu Gesellschaften, zu betrachten.
Neben den Konzepten und Ideen zu Resilienz konnte ich das Thema durch mein Interesse an konkreter Erfahrung in zwei Erlebensbereichen sehr intensiv selbst erfahren. Einmal war dies das Leben und Erleben in einer Region der Welt, in der das Thema ›Spannung‹ in Form potenzieller Lebensbedrohung ständig zum Alltag gehört und dadurch Resilienz für die Menschen notwendig macht. Dies ist im Nahen Osten/Palästina/Israel seit langem der Fall. Resilienz war das Thema eines internationalen Projektes an der Hebrew University in Jerusalem, an dem ich teilnahm. Es sollte dann mehr praktische Resilienz auf mich zukommen, als geplant war, denn ich erlebte den Krieg im Jahre 2014, der in Gaza, aber natürlich auch zeitweise auf den Straßen Ost-Jerusalems stattfand.
Der zweite Aspekt von Leben und Erleben war meine Zazen- Praxis. Zazen ist die Meditation im Zen, das lange »Sitzen auf dem Kissen«. Ich hatte Zazen wie viele aus dem Bemühen heraus begonnen, innerlich ruhiger zu werden und tiefere Erkenntnisse über das Leben zu bekommen. Die Reihenfolge der Erfahrungen hatte ich mir so vorgestellt: erst innere Ruhe finden und dann weise werden. Als ich mich ganz auf diesen Weg einließ, war meine Erfahrung dann allerdings anders. Zazen ist über weite Phasen innerlich ein gefühlsmäßig sehr intensiver und keineswegs immer »lustiger« Prozess, wie es der Zenlehrer Alexander Poraj einmal ausdrückte (Poraj 2016). Entgegen meiner anfänglichen Vorstellung übte ich bald nicht die stetige Zunahme innerer Ruhe, sondern das innere »Ausfühlen« sämtlicher Gefühle, die mit dem Menschsein zu tun haben. Dazu war Resilienztraining vor allem in Form konkreter Emotionsregulationstechniken für mich sehr hilfreich. Denn die in diesen Prozessen auftauchenden Gefühle reichen weit über das hinaus, was man allein durch seine individuelle Biographie erklären könnte. Es führt bis in archaische Bereiche des menschlichen Daseins. Zu der Art dieser Gefühlsprozesse werde ich unter Resilienzfaktor II (Körper-Geist-Verbindung) Näheres schreiben.
Der Begriff ›Gefühle ausfühlen‹ im Zusammenhang mit Meditation stammt interessanterweise schon von Johannes Tauler, einem deutschen christlichen Mystiker und Schüler Meister Eckharts, der von 1300 bis 1361 lebte. Meditation und Kontemplation sind nicht vorwiegend etwas Fernöstliches. Sie sind in allen Kulturen bekannt, aber aufgrund der schmerzlichen Konfrontation mit den Gefühlen seltener praktiziert und ins Leben integriert, als es für Menschen günstig wäre. Der Weg der Meditation ist – und davon bin ich mittlerweile sehr überzeugt – ein Königsweg zu gesteigerter Resilienz.
Insgesamt sind die Wege zur Resilienz zu verknüpfen. Dies kann das Erleben in einem Spannungsgebiet sein und die Reflexion in der Meditation, das zum Vorschein-kommen-Lassen was im Menschen in der Tiefe steckt. Es können natürlich bei jedem Menschen andere Wege sein. Den genannten Zugangsweg »Erleben und Meditieren« hatte mir Bernie Glassman nahegebracht. Der Zen-Meister jüdischer Herkunft bietet seit 20 Jahren ein Meditations-Retreat in Auschwitz an. An die schwierigen Stätten der Menschheit zu gehen und dort nicht gleich alles besser zu wissen, in Agitation zu verfallen oder zu resignieren, sondern innezuhalten und zu spüren, das hatte mich beeindruckt. Im Folgenden werden neben den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Thema Resilienz immer wieder Beispiele für praktische und konkrete Wegerfahrungen eingefügt.