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Normale Beanspruchung – Die neue Welt der VUCA
ОглавлениеSchneller, unberechenbarer und gefährlicher? Schon die normale Welt ohne traumatische Schicksalsschläge stellt gerade hohe Anforderungen. Dies wird heute manchmal ›VUCA-Welt‹ genannt. Volatilität (die schnellen Veränderungen), Unsicherheit, Complexity bzw. Komplexität und Ambiguität (Uneindeutigkeit der Vorkommnisse) kennzeichnen den Beginn des 21. Jahrhunderts.
Die Geschwindigkeit der Veränderungen in der Welt hat sich erhöht. Dies wird mit der Volatilität, dem Begriff für die schnellen Schwankungen von relevanten Daten und Kontexten, zu erfassen versucht. Ob die Sicherheitslage in einem Land oder auch die Seriosität und damit Kreditwürdigkeit eines Kunden (siehe VW oder Deutsche Bank) – schnelle Veränderungen sind die Herausforderung. Was zunächst nur für die Börsenschwankungen angenommen wurde, ist nun für viele Lebensbereiche zum Thema geworden. Gleichzeitig wird in einer Art Gegenbewegung versucht, alles zu berechnen. Das menschliche Verhalten wird in Algorithmen gepackt, die möglichst viel voraussagen sollen. Wie sich diese Algorithmen wiederum auf das Leben auswirken, erklärt der Journalist Christoph Drösser in seinem Buch Total berechenbar (Drösser 2016). Auch diese »berechnende Welt« erscheint den Menschen nicht gerade geheuer, weil sie mit dem Ziel unserer Beeinflussung erfolgt. Manche glauben gar, ein Überwachungsstaat wie in George Orwells legendärem Buch 1984 werde Wirklichkeit. Ein Ergebnis ist eine große Unsicherheit, die das Empfinden vieler Menschen kennzeichnet. Die Erwartung in Wohlstandsgesellschaften ist aber gerade ein Gefühl der Sicherheit. Wohlstand bedeute Sicherheit. Täglich wird suggeriert, man könne alles versichern, sich gegen alles absichern. Man muss nur dafür bezahlen, dann verliert das Leben seine Bedrohungen. Und wer das nicht hinbekommt, hat eher selbst ein Problem. Der Mensch ist in seiner Schwankung zwischen dem lange Zeit vorhandenen Schicksalsglauben und der Machbarkeitsidee zu sehr auf den zweiten Pol fokussiert worden. Manche nennen es den »Machbarkeitswahn«. Diese Polarität zwischen Schicksalsglauben und Machbarkeitswahn wird von der Daseinsanalytikerin Alice Holzhey-Kunz (2001) sehr schön beschrieben. Die Sozialwissenschaftlerin Herrad Schenk (2000) spricht gar vom Machbarkeitsmythos. Seit der Aufklärung hat der Glaube an ein vorherbestimmtes Schicksal und das Annehmen der höheren, eingreifenden Macht nachgelassen. Das Zurückweichen des Schicksals führt zunehmend zu der Ideologie, dass alles machbar sei. Die ungeheure Schöpferkraft des Menschen, die gerade im Bereich der Technik die segensreichsten, aber gleichzeitig potenziell gefährlichen (z. B. Atomkraft, Gentechnik) Erfindungen macht, steigert die Unsicherheit des Menschen. Das Ausgeliefert-Sein des Menschen an den Zufall, zumindest an das Leben mit allen seinen unberechenbaren Seiten wird mit verschiedenen Mitteln zu bewältigen versucht. Der Philosoph Odo Marquard nennt es so: »Früher wurde nichts gemacht, dann wurde einiges gemacht, jetzt wird alles gemacht« (zit. nach Holzhey-Kunz 2014).
Unsicherheit ist mehr als Risiko. Risiko wird in Investitionsentscheidungen in Szenerien und Wahrscheinlichkeiten abzubilden versucht. Unsicherheit ist aber nicht berechenbar. Sie knüpft an das Archaische des Menschen, das Ausgeliefert-Sein an das Leben an. Lange war in der Welt der Glaube an ein von außen gelenktes Schicksal vorherrschend. Dieser Glaube verliert in der westlichen, vorwiegend christlich geprägten Welt, in der einem personalen Gott die Zuständigkeit zugesprochen wird, an Boden, genauso wie in der östlichen Welt, in der man eher die Lenkung durch den karmischen Zusammenhang zwischen einzelnen Leben annimmt. Gleichzeitig spüren die Menschen, dass nicht alles machbar ist. So bleibt es eine der Fragen, die für die Menschen offen sind.
Zu den schnellen Veränderungen und vor allem ihrer ständigen Abbildung, wenn nicht sogar Inszenierung durch die Medien insbesondere bei tragischen Ereignissen, kommt als drittes die Komplexität hinzu. Komplexität, die Vielfalt von Aspekten in wenig systematischen Zusammenhängen, ist für Menschen eine hohe Herausforderung. Das betrifft die reine Aufnahmefähigkeit und das Verstehen genauso wie die damit eng verbundene emotionale Seite, wenn man etwas nicht überblickt oder sozusagen »keinen Plan« hat. In heutigen Projekten spielen so viele Gesichtspunkte eine Rolle. Ein größeres Bauvorhaben hat so viele Beteiligte, Interessen und Aspekte zu beachten, dass kaum ein Projekt noch in der geplanten Zeit realisiert werden kann. Aber auch auf der kleinen persönlichen Ebene scheint die Komplexität so hoch zu sein, dass Entscheidungen lieber aufgeschoben werden, was dann implizit auch wieder eine Entscheidung ist. Die Frage, soll ich Kinder bekommen, ist nur ein Beispiel für einen sehr grundlegenden menschlichen Lebensprozess, der aber heute dem Optimierungsgedanken unterworfen wird. So passiert es nicht selten, dass Paare das Kinderkriegen fast oder ganz verpassen.
Mit der Komplexität hängt auch die Ambiguität zusammen. Darunter ist die Mehrdeutigkeit von Phänomen zu verstehen. Man kann sie sehr unterschiedlich deuten. Situationen entstehen aus vielen Gründen. Was auf den ersten Blick plausibel erscheint, verliert durch Bewusst-Werden weiterer Elemente oder einfach durch die Zeit an Aussagekraft. Auch seit der »systemischen Revolution« in den 1980er-Jahren ist die Welt nicht mehr so eindeutig. Damals wurde erklärt, dass es nicht eine allseits gültige Wirklichkeit gibt, sondern alles eine subjektive Konstruktion der Welt ist. Gab es vorher die Idee, dass man, wenn man nur lange genug überlege und suche, die richtige und feste Lösung finde, ist die Wahrheitsfindung mittlerweile nicht mehr Programm. Es geht bei vielen Fragen »nur noch« darum, eine praktikable Lösungsrichtung zu finden. Lange Zeit wurde durch Ausblenden wichtiger Aspekte eine einfachere Lösungssituation geschaffen. Autoritäre Festlegungen, was und wer wichtig ist, versuchten hier etwas zu lösen. In demokratischen, pluralistischen Gesellschaften mit Menschenrechten ist dies kaum mehr möglich – und zwar zum Leidwesen vieler Menschen, die zu einfachen und schnellen Lösungen tendieren. Bei Resilienz geht es auch um das Aushalten dieser Spannungszustände, um die Erkenntnis, dass es manchmal keine schnelle Lösung gibt.
Ambiguität bedeutet in vielen Fällen auch Ambivalenz, gegenläufige bis unvereinbare Situationen in den Zielsetzungen und Interessen. Im Extremen liegen manchmal sogar Dilemmata vor, die sich durch unvereinbare Aspekte auszeichnen. Diese können nicht gelöst werden, ohne dass ein Preis gezahlt wird. Das alles in Win-Win-Situationen umformuliert werden kann, ist oft ein Mythos. Manche Lösungen verlangen einen beträchtlichen Preis.
Auf dem Hintergrund der VUCA-Welt ist eine zeitgemäße, neue Orientierung der Menschen nötig. Möglicherweise ist der Resilienzansatz dazu eine Möglichkeit. Entsprechend wurde schon bald die Grundidee der robusten Widerstandsfähigkeit gegenüber widrigen Einflüssen auch auf größere Systeme übertragen. Ökologische Systeme, die durch Umweltverschmutzung bedroht waren, boten sich dafür als erster Forschungsgegenstand an. Später kamen dann Organisationen und Unternehmen hinzu.
Die VUCA-Welt hat für Menschen einige Folgen:
• Die Notwendigkeit der Resilienz im Erwachsenenalter zeigt sich nicht nur in den ganz »normalen« Schicksalsschlägen des Lebens wie Unfällen, Krankheiten, Todesfällen. Hier spricht man von potenziell traumatischen Ereignissen. Über das Auftreten von traumatischen Ereignissen machen sich Menschen psychologisch in der Regel Illusionen. Die meisten nehmen an, dass ihnen nichts passiert, und sind dann nicht vorbereitet, wenn ihre Lebensgewohnheiten durch einen Schicksalsschlag durcheinander geraten.
• Besondere Stressfaktoren kennzeichnen die veränderte Welt, die in dem Kunstwort VUCA mit seinen vier Bestandteilen Volatilität, Unsicherheit, Complexity und Ambiguität, der Mehrdeutigkeit von Situationen, zum Ausdruck kommt. Vielfach wird der Eindruck vermittelt, der Mensch funktioniere am besten als willfähriges Instrument der Konsum-, Arbeits- und Freizeitindustrie und definiere sein Glück als Summe der erlebten, möglichst teuren Events. Das dort geschaffene Menschenbild wird dem Menschen in seiner Ganzheit aber nicht gerecht, sondern reduziert ihn (vgl. Mohr 2014, Achtsamkeitscoaching).
• Die Außenwelt wird vielfach als bedrohlich erlebt (Terror, Kriminalität), obwohl Statistiken belegen, dass Gewaltdelikte zurückgehen. Dabei ist bezüglich allgemeiner Kriminalität anzumerken, dass nicht jede kriminelle Tat, beispielsweise leichte Diebstahldelikte, bei der Polizei angezeigt wird. Vieles scheint hier »privatisiert« zu sein. Der öffentliche Raum wird weniger als geschützter Raum erlebt. Subjektiv gehen Menschen bei der kriminellen Bedrohung von einer Erhöhung aus. Das heißt, psychologisch ist dies sehr wirksam, auch wenn es vielleicht zum Teil an der medialen Darstellung liegt. Die terroristische Gefahr ist hierzulande als eine neue Form der Bedrohung dazugekommen. In Europa konnte man lange Zeit das Thema politische Gewalt und Terrorismus als etwas Fremdes, Absurdes, nur in bestimmten fernen Regionen Vorhandenes ansehen. Zwar kannte man mit der RAF, der IRA und der ETA politischen Terrorismus gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Aber mittlerweile ist eine Form des Terrorismus in Europa angekommen, die sich gegen jedermann richtet, die jeden treffen kann. Dies lässt viele Menschen auch unter einem latenten Bedrohungsgefühl leben.
• Gleichzeitig gehen Bindungen zu größeren ehemals vertrauten Systemen verloren. Firmen und andere Systeme verändern so schnell ihre Bindungskultur und ihren psychologischen Vertrag. Diese ungeschriebenen Abmachungen zwischen Firmen und Menschen (etwa »Wenn du gut arbeitest, kannst du immer bei uns bleiben, hast immer einen Arbeitsplatz«) werden heute zu häufig gebrochen. Firmen, die auch immer eine Gemeinschaft von Menschen darstellen, werden wie eine Ware behandelt, als Ganzes gekauft und verkauft, wechseln die Orientierungspunkte der Führung. Oder sie werden von Managergruppen (z. B. VW oder Deutsche Bank) übernommen, die verantwortungslose Praktiken zulassen oder sogar aktiv unterstützen. Dies nimmt den Menschen Sicherheit und Bindungsgefühl (vgl. Mohr 2015).
• Die Unterschiede zwischen Arm und Reich führen zu neuen Verwerfungen in den Gesellschaften. In bestimmten Teilen der Welt – etwa in Südamerika – ist sogar Menschenraub und Kidnapping zu einem alltäglichen Business geworden. Gated Areas, abgezäunte Gelände für Menschen mit Wohlstand, charakterisieren das Leben schon in vielen Ländern.
• Menschen werden heute älter als früher. Einerseits stellt dies höhere Anforderungen an die Gesundheit, auch an die mentale Aktivität. Früher wandten sich alte Menschen der Religion zu. In Indien ist es Tradition, das letzte Lebensdrittel der Spiritualität zu widmen. Die traditionellen Religionen haben aber ihre Attraktivität verloren. Gesucht werden neue Orientierungen.
Es gibt also genügend Gründe, sich mit Resilienz, dem konstruktiven Umgehen mit widrigen Umständen, zu befassen und sich darauf vorzubereiten. Dies ist jedenfalls besser als vordergründig als angepasstes Glied in der Konsum-, Arbeits- und Freizeitindustrie mitzuspielen und dann darüber zu klagen. Dieser Hintergrund macht auch die Einbettung der Resilienz in den gesellschaftlichen Kontext, also das Systemische der Resilienz, deutlich. Ein einseitig individuelles Verständnis des Begriffes Resilienz – im Sinne der Individualisierung gesellschaftlicher Probleme – muss kritisiert werden (z. B. Gebauer 2015). Details dazu später.