Читать книгу Der Fluch des Bierzauberers - Günther Thömmes - Страница 14
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ОглавлениеLeider war der Krieg keineswegs vorbei, sondern es hatten sich lediglich erneut Schauplatz und Protagonisten geändert. Das katholische Frankreich beteiligte sich nun an der Seite des protestantischen Schweden am internationalen Schlachtfest. Dadurch geriet die Katholische Liga unter Druck, und der Krieg verlagerte sich nach Süddeutschland.
Zur gleichen Zeit begann jedoch überall, in ganz Deutschland, für die Bevölkerung der grausamste Teil des Krieges: Die, vom nun bereits beinahe zwanzig Jahre andauernden Krieg, völlig verrohten Söldner kannten inzwischen keine Grenzen mehr, was das Drangsalieren der Landbevölkerung anging. Das Magdeburgisieren wurde der traurige, der entsetzliche Standard. Überall zogen kleinere, verwahrloste Heere durchs Land, zu Wallenstein, Pappenheim, den Bayern, Franzosen, Spaniern, Holländern oder Schweden gehörig, schlugen hier und da eine bedeutungslose Schlacht, die sie jeweils zum Anlass nahmen, die Bürger und Bauern zu schröpfen. Bisweilen kam es auch zu grausamen Missverständnissen, wie in Donauwörth, wo die Schweden zuerst die reformierten Bürger vom katholischen Joch erlösten und anschließend versehentlich massakrierten.
Besonders diese schwedischen Söldner erlangten traurige Berühmtheit durch ihren Erfindungsreichtum, da sie sich immer neue Foltermethoden ausdachten. Zum Teil hing es auch damit zusammen, dass sie hier im deutschen Krieg zum ersten Mal mit Wein in Berührung gekommen waren, den sie in den gleichen Mengen und mit demselben Durst konsumierten wie ansonsten das Bier. Nur mit dem gravierenden Nachteil, dass der Wein viel stärker war als ihr üblicher Durstlöscher, und somit zogen die Schweden die meiste Zeit völlig betrunken und enthemmt durchs Land. Wie auf das Wild, so wurde auch Jagd auf Bauern gemacht, von denen man sich noch ein Stück Vieh oder ein Geldstück erhoffte. Unbarmherzig wurden die Opfer misshandelt, nackt an heiße Öfen gebunden, gehängt oder an den Fußsohlen verbrannt. Am meisten gefürchtet wurde der Schwedische Trunk: Eimerweise schüttete man den armen Leuten Wasser oder gar viehische Jauche in den mit einem Stück Holz aufgesperrten Rachen, worauf man ihnen mit den Füßen in die dick angefüllten Bäuche trat oder mit Holzlatten darauf schlug. Wer das überlebte, der verriet alle Verstecke. Auch die Söldner hatten mittlerweile den Braten gerochen, dass sich viele Menschen in Höhlen vor ihnen versteckten. Deshalb hatten sie sich folgerichtig auf Menschen abgerichtete Spürhunde angeschafft, mit denen sie durch die Wälder zogen, um so die Menschen in ihren Höhlen ausfindig zu machen. Deutsche, spanische, kroatische, niederländische sowie Soldaten anderer Nationen standen den Schweden hinsichtlich der ausgeübten Grausamkeit jedoch in wenig bis gar nichts nach.
Viele Bauern waren entweder im Krieg gestorben oder hatten sich aus Verzweiflung den Söldnern angeschlossen und die Höfe einfach ihren Frauen überlassen. Dies führte dazu, dass viele Anwesen weit unter Wert verkauft wurden, weil die überforderten Frauen sich und ihre Kinder vor dem Hungertod retten mussten. Die so heimatlos Gewordenen schlossen sich zu regelrechten Bettlerheeren zusammen, die nun planlos durch ganz Europa zogen. Alle Fundamente der ein Jahrtausend alten, von den meisten als göttlich angesehenen Gesellschaftsordnung gerieten ins Wanken. Und nachdem das ganze Land geplündert war, das Vieh tot und die Felder verwüstet, kam die Pest über die Menschen. Bis zum Herbst dauerte die Seuche an, danach gab es eine große Teuerung und zu guter Letzt erneut eine Hungersnot.
Die Natur spielte allerorten verrückt: Im Winter war es so warm gewesen, dass die Mandelbäume geblüht hatten, im Sommer nun hingegen erfroren alle Obstbäume. In Bamberg erbebte die Erde. An der Nordsee wütete eine verheerende Springflut, die nicht nur Inseln entzwei riss, sondern Teile von Hamburg und seiner Hafenanlagen zerstörte, und Schiffe, Menschen und Häuser mit sich zog. Zehntausend Menschen starben allein bei dieser Katastrophe. An der Ostsee tobte ein mörderischer Sturm mit Blitzen und Donner in nie erlebter Stärke. Aus Neapel wurde eine Entzündung des Vesuvs gemeldet, der das paradiesische Land mit Felsbrocken und glühender Asche verbrannt hatte; gerade so, als wolle die Natur zeigen, dass nicht nur die Menschen das Land verwüsten und magdeburgisieren konnten. Vielerorts wurde von Himmelserscheinungen, Kometen und drei Sonnen berichtet. Wahrsager und Scharlatane hatten Hochkonjunktur.
Spätestens im Mai 1635 hatte Knoll es bereut, die Höhle verlassen zu haben. Sie waren aber bereits zu weit gewandert, um zurückzukehren. Der Hunger wurde nun zu ihrem größten Feind. Sogar mit dem wenigen Geld, das ihnen verblieben war, konnte man nichts anfangen. Es gab einfach nichts, was die Leute entbehren konnten. Und sich mit Gewalt etwas zu nehmen, das kam für ihn nicht infrage.
»Dann wäre ich ja nicht besser als die rasenden, wütenden Bestien, die das Land verheeren«, sagte er wiederholt, wenn Magdalena die Frage aufwarf, ob Verhungern besser sei als Raub: »Wer nix hat, wird halt bös!«
Fanden sie einmal ein verendetes Pferd auf ihrem Weg, so war dies ein richtiggehender Glücksfall. Knoll verscheuchte dann die Raben und verwilderten Hunde, wedelte mit einer Hand die Myriaden Fliegen beiseite und schnitt mit seinem Messer in der anderen Hand Streifen des teilweise bereits verwesenden Fleisches ab. Sie aßen es sofort und roh, an Ort und Stelle, und häufig erbrachen sie das Ganze, von Krämpfen geschüttelt, gleich wieder. Doch manchmal half es ihnen, einen weiteren Tag zu überleben. Wiederholt sahen sie Menschen, die weinend und wimmernd dabei waren, ihre Verstorbenen wieder auszugraben, um mit deren Leichnamen ihren unsäglichen Hunger zu stillen. Alle wussten um den Frevel und die Strafen, die der Entdeckung dieser Gräueltaten folgen würden. Indes, alles war besser, als elendig den Hungertod zu sterben.
Grimmig merkte Magdalena an: »Wenn man überall vergebens um Nahrung angesucht hat, dann klopft man schließlich bei seinen Ahnen an.«
Niemand beachtete sie, niemand hatte Angst vor ihnen oder davor, dass sie die hungrigen Totengräber verraten könnten. Sie waren wie Schatten, die durch diese grausame Welt huschten.
In der Nähe von Wittlich, nicht weit entfernt vom großen Moselfluss, sahen sie von Weitem einen Bauernhof, bei dem sie um Lebensmittel nachfragen wollten. Ein schöner, großer Hof, mit einem Hauptgebäude in Fachwerkbauweise, daneben eine große Scheune, deren untere Hälfte gemauert und die obere ebenfalls als Fachwerk errichtet war. Dazu gab es noch zwei kleine Holzschuppen und einen kleinen Teich.
»Ob das vielleicht sogar der Hof eines Gutsherren ist?«, fragte Magdalena.
Knoll war skeptisch. Und das zu Recht. Schon das fehlende Anschlagen eines Hofhundes hätte sie warnen müssen. Ebenso vermissten sie die normalerweise um einen Hofteich flatternden Enten oder Gänse. Auch sonst waren keine Vögel in der Luft. Kein lautes Geschnatter, kein wütendes Bellen, kein Gezwitscher, kein Geräusch. Nichts. Gespenstische Stille. Totenstille. Als sie näher kamen, sahen sie die halbverbrannten Dächer der Gebäude. Ein Regenguss hatte anscheinend dafür gesorgt, dass nicht alles abgefackelt worden war. Sogar das Toilettenhäuslein etwas abseits war teilweise verbrannt. Das herzförmige Schild an der Tür, auf dem mit ungelenker Schrift ›Unsere Heymlichkeit‹ geschrieben stand, war mit Ruß verschmiert. War der Hof verlassen? Vielleicht gab es doch noch etwas zu holen. Die Hoffnung starb zuletzt. Trotz des bestialischen Gestanks, einer Mischung aus feuchtem Moder, dem Odeur von geronnenem Blut und dem alles überlagernden, allen Menschen dieser Zeit sattsam bekannten, süßlichen Geruch verwesenden Fleisches, für den es jedoch keine augenscheinliche Quelle gab, der einfach überall präsent war.
In der Stube war niemand. Die Speisekammer wie leergefegt. Die wenigen Möbel lagen wüst im Zimmer durcheinander, teilweise zertrümmert. In einer Ecke stand ein kleines Krautfass, gerade so groß wie ein Eimer. Dem Gewicht nach zu urteilen, war es voll. Sollten die Marodeure tatsächlich etwas übersehen haben? Knoll glaubte, dass es wohl eher verloren gegangen war, im Wirbel der Ereignisse während einer Plünderung. Er nahm das Fass und gab es Magdalena, die er dann mit den Kindern wegschickte. Hier wollte er allein weiter nach dem Rechten sehen. Zu oft hatten die Kinder bereits unfreiwillig Gräulichkeiten mit ansehen müssen. Wenn es nicht sein musste, dann wollte er ihnen das ersparen. Was er in der Scheune dann sah, ließ sogar dem inzwischen hart gesottenen Brauer die Galle hochkommen. Die Frau, zwei Großeltern und drei Kinder hingen nackt und tot an den hölzernen Wänden, die die Ställe voneinander trennten. Die räuberischen Söldner hatten die ganze Familie gekreuzigt, wohl bei lebendigem Leib und sicher nicht, ohne die weiblichen Mitglieder vorher zu schänden. Am Schlimmsten, sofern es noch schlimmer ging, hatte es jedoch den Bauern selbst getroffen. Tot und zuvor grün und blau geschlagen hing er, festgebunden, auf einem hölzernen Bock, der in einer eingetrockneten Blutlache stand. Ein Ladestock einer Muskete, schwarz vom geronnenen Blut, steckte tief in seinem After. Zudem hatte man ihm die Hoden mit einer Zange abgekniffen, die nun blutverschmiert am Boden vor sich hin rostete. Welche Schmerzen musste der arme Mann erduldet haben, bevor man ihn, auf dem Bock liegend, in dieser Position einfach hatte verbluten lassen?
Mäuse und Ratten tummelten sich furchtlos und benagten die bereits verwesenden, stinkenden Körper. Schnell verließ Knoll den Ort des Grauens, nicht ohne die zu verfluchen, die dies angerichtet hatten. Dazu sprach er ein Gebet für die arme Familie. Wie ekelte es ihn vor diesem Krieg! Dann kehrte er mit aschfahlem Gesicht zu seiner Familie zurück und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob Gott in diesem Krieg wohl gestorben war.
Sie wurden mit jedem Tag schwächer. Das schon leicht verdorbene Sauerkraut hatte sie ein paar Tage über Wasser gehalten und zumindest verhindert, dass ihnen die Zähne noch weiter ausfielen. Das Wenige, das sie noch hatten, gaben sie den Kindern, besonders den beiden Kleinen. Dem ungeachtet waren alle fünf bald dermaßen schwach, dass sie nichts als Haut und Knochen waren. Mit gelblich schwarz gefärbter Haut, tief in den Höhlen liegenden Augen, fleckigen Zähnen und geschwollenen Bäuchen zogen sie durchs Land, wie so unglaublich viele andere, ziellos wie ein Stück Treibholz in einem stürmischen Meer. Sie waren ihr eigenes, kleines Bettlerheer geworden. Den schon gründlich zu Schaden gekommenen Leiterwagen ließen sie irgendwann einfach stehen. Zu anstrengend war es geworden, ihn zu ziehen. Außerdem hatten sie auch nichts mehr, was sie in den Karren hätten legen können. Die Kleider zerlumpt und rissig, schleppten sie ihre ausgemergelten Körper durch die Lande. An den Füßen trugen sie Stroh, das anfangs noch mit Schnüren festgebunden worden war, mittlerweile jedoch nur noch durch den Matsch der Straße zusammenhielt. Sie aßen Gras und Wurzeln und schabten Rinde von den Bäumen. Wenn sie ein Tier hätten fangen können, sie hätten es auch roh gefressen. Sie kauten auf alten Tierfellen herum, um ihren Mägen vorzugaukeln, sie erhielten Nahrung. Das Elend war unbeschreiblich.
Es war September, als Gisbert an Hunger starb. Sie hatten ihn für so stark gehalten, den beinahe dreizehnjährigen Jungen. Aber anscheinend hatten sie sich zu sehr um die beiden Jüngeren gekümmert, die dennoch ebenfalls kurz vor dem Tod standen. Gisbert war eines Tages einfach umgefallen und nicht mehr aufgestanden. Knoll und Magdalena hatte die Kraft gefehlt, ihn zu tragen, so hatten sie Rast gemacht und versucht, ihm ihren allerletzten Kanten schimmeliges Brot zwischen die Zähne zu zwängen, es war aber bereits zu spät. Ohne zu jammern, ohne Wehklagen hatte Gisbert mit ihnen gelitten. Cord Heinrich Knoll machte sich schreckliche Vorwürfe. Sie waren sogar zu schwach, um ihn zu begraben, sie ließen ihn einfach am Wegesrand liegen, als einen der zahlreichen Körper, die dort vor sich hin verwesten.
Die Wolken hoben sich düster vom schweflig gelben Sonnenuntergangshimmel ab. Kein Luftzug, kein Zweig rührte sich. Alles war still, als habe ein plötzliches Grauen das Leben ringsherum gelähmt, als sie Anfang Oktober 1635 an die südliche Pforte der Stadtmauer einer kleinen Stadt anklopften. Sie wussten alle, dass sie nicht mehr lange zu leben hatten.
»Wer begehrt Einlass? Kommt Ihr aus der Richtung von Wolsfeld?«, fragte eine laute Stimme durch das Gitter der dicken, eisenbeschlagenen Tür. In Wolsfeld, einem kleinen Ort etwa acht Kilometer entfernt, grassierte nämlich gerade die Pest.
»Lasst uns ein, wir sind am Verhungern. Unsere Kinder liegen im Sterben.« Knolls Stimme war bereits merklich schwächer geworden.
»Wir lassen kein Landvolk mehr in die Stadt, wir haben selbst kaum genug zu beißen«, kam als höhnische Erwiderung genau die Antwort zurück, die Knoll befürchtet hatte.
»Wir sind kein Landvolk«, erwiderte er, bevor er mit der letzten, ihm verbliebenen, würdigen Demut betonte: »Ich bin der bürgerliche Brauherr Cord Heinrich Knoll.«
Dann fiel er vor Hunger und Entkräftung einfach um.