Читать книгу Briefgeschichte(n) Band 2 - Gottfried Senf - Страница 11
02. Februar 1999
ОглавлениеLieber Gottfried, liebe Karin, heute kam der große Umschlag (mit Brief, Zeitungsausschnitten, Prora-Broschüre etc.), der also genau 3 Monate unterwegs war, am 1.11.98 geschrieben, am 2.11. abgestempelt. Eine beachtliche Leistung der modernen Post. Der Umschlag hat natürlich irgendwo herumgelegen. In 10 Jahren gibt es diese Art der Postbeförderung möglicherweise gar nicht mehr. Man merkt schon jetzt, dass die Post an diesen Sendungen wenig interessiert ist. Trotzdem herzlichsten Dank. Wir freuen uns sehr, besonders über den langen Brief.
Du schreibst “dass die Zeit für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte erst noch kommen wird“. So war das auch nach 1945 in West-Deutschland. Mit den Alten konnte man über die Nazizeit nicht reden, sie wollten diese Jahre vergessen, weil sie selbst mitgespielt hatten oder ihnen in dieser Zeit übel mitgespielt wurde. Das ist auch durchaus menschlich. Die, die bei den Nazis oder den Kommunisten (in der DDR) in diesen Weltanschauungen ein Ideal gefunden hatten, standen nun vor den Trümmern ihres Lebens. Die Enttäuschung machte sie stumm oder bockbeinig. Und die, die ahnten, wohin diese Ideologien führen würden (in das Verbrechen und die Zerstörung der Gesellschaft), und deshalb von Anfang an abseits standen und nicht mitmachten, die waren im Grunde zu vornehm, um nun, da alles so gekommen war, wie sie es vorausgesagt hatten, es ständig den „Ideologen“ vorzuwerfen und sie anzuklagen. Eigentlich fing es mit dem „Aufarbeiten der Nazizeit“ erst in den 1960er Jahren an, und die, die „aufarbeiteten“, waren Leute, die nach 1935 zur Welt kamen und die Hitlerzeit hauptsächlich aus Dokumenten kannten. Selbst für meine Generation ist die Nazizeit ein heißes Eisen. Wir haben deutsche Freunde hier, in meinem Alter, wenn wir die treffen und die Sprache kommt auf die Nazizeit, dann dauert es nicht lange bis jemand ins „Fettnäpfchen“ tritt, also etwas sagt, was beweist, dass er noch immer dieser längst vergangenen Zeit verhaftet ist. Wie das so schön witzig Maxim Biller in beigelegter Kolumne beschreibt. Und vielleicht bin ja auch ich von dieser Zeit geprägt und nicht so frei, wie ich mir das einbilde. Es hilft natürlich, dass ich seit über 40 Jahren in Kanada gelebt habe. Da habe ich mir angewöhnt, nicht so schnell zu urteilen und zu verurteilen. Deshalb bin ich so gegen die Veröffentlichung der Stasiakten. Nur wirkliche Verbrechen hätte man mit Hilfe dieser Akten bearbeiten sollen. Aber all diese Treuebrüche und Spitzeleien, dieser unsagbare Klatsch, der Neid, das Kämpfen um kleine Vorteile, all das hätte man vergraben sollen. Nun vergiftet es das Leben von Menschen, die unter den Dienern Moskaus nun wirklich kein Zuckerbrot zu essen hatten.
Zu unserer „Verbannung“ auf die Insel Rügen. Ja, Prora stand im Herbst 1945 im Rohbau fertig da. Es war schon toll, allein die Ausdehnung der Anlage. Vier Kilometer entlang der Biegung des Strandes. Dazu musst Du Dir Herbstwetter vorstellen. Der Wind wehte und die Wellen der Ostsee machten einen Heidenlärm. Schon war Sand in die Gebäude geweht worden. Die Berge von Badewannen und Klobecken warteten darauf, installiert zu werden. In meiner Erinnerung wurde diese Riesenruine zum Zeichen des Größenwahns der Hitlerzeit, dieser unsäglich brutalen Angeberei. (s. Bild 12) Werde ich noch einmal nach Rügen kommen? Es ist sicherlich besser, nicht an diesen Ort zurückzukehren. Auch vor Dresden scheue ich zurück. Es war eine so völlig einmalige Stadt vor der Zerstörung. Soll man sich diese Erinnerungen durch das neue Dresden verderben?
Zum Regierungsumzug von Bonn nach Berlin: Ich glaube schon, dass Bonn die sogenannte Demokratie in Deutschland heimisch gemacht hat. Bonn hatte etwas angenehm Bescheidenes, das hoffentlich den Umzug nach Berlin überlebt. Aber nun ist ja Deutschland in die europäische Gemeinschaft eingebettet, und wenn erst einmal Ost-Europa auch noch eingegliedert worden ist, dann kommt hoffentlich Europa zur Ruhe.
Dass sich bei Euch viele nach „der guten alten Zeit“ sehnen, ist verständlich. Im Augenblick kann einem der fast unkontrollierte Kapitalismus schon Angst machen. Die Reichen, und damit Mächtigen, müssen lernen, dass die Welt nicht nur für sie da ist, sondern für uns alle. Ein System, dass nur auf Ausbeutung beruht, kann nicht von Dauer sein und trägt den Keim der Zerstörung mit sich herum.
„Die Zeit“: Es gibt leider seit einem Jahr keine nordamerikanische Ausgabe mehr und die deutsche Ausgabe kostet jetzt statt $ 80 schon fast $ 400 im Jahr! Das wollte ich natürlich nicht ausgeben. Doch schenkte mir ein lieber Freund „Die Zeit“ für ein Jahr. Seit Weihnachten erscheint sie hier im Haus jede Woche. Nun bin ich also wieder so einigermaßen über Deutschland informiert. Nach wie vor ist „Die Zeit“ Spitze. Wie da nach allen Seiten debattiert wird! Weniger schön finde ich, dass man Honecker zu Reklamezwecken in der Beilage „Zeit Magazin“ benutzt. Doch ist dieses Photo des ehemaligen DDR–Chefs interessant. Diese zweifelnden Augen. Zweifelt er an seiner Macht? War er sich seiner totalen Abhängigkeit von Russland bewusst? Eigentlich wirkt er sympathisch, wie ein Oberlehrer oder Bankdirektor in einer mittelgroßen Stadt. Von Brutalität keine Spur. Wie intelligent war er? Warum stellte er sich nicht, spätestens in den achtziger Jahren, an die Spitze einer reformierten DDR, die sich der Welt öffnete? Warum glitt ihm das Heft aus der Hand? Möglicherweise misstraute er dem Volk, das er anführte. Warum sonst diese tolle Bespitzelung praktisch aller durch die STASI? Ein Rätsel! Man würde sich gern einmal mit ihm unterhalten und ihm diese Fragen stellen. Leider ist es dazu zu spät. Der Mann ist nicht mehr am Leben. Diese Erinnerungen wären interessant gewesen.
Wie schön, dass Ihr nun bald im Ruhestand seid. Dann müsst Ihr noch einmal nach Nordamerika kommen. Ende April werden wir für drei Wochen nach England reisen. Wir hoffen, auch Virginia wieder zu sehen. Für den Rest des Jahres bleiben wir zu Hause. Wir bedanken uns sehr und wünschen Euch alles Gute und Schöne. Schreibt bald einmal wieder. Alles Neue aus Geithain und Sachsen interessiert mich.
Herzlichst John und Gisela
Geithain, 07.03.99
Liebe Gisela, lieber John, nun muss es aber nach langer Zeit wieder einmal einen Brief aus Geithain geben. Inzwischen sind schon einige Briefe von Dir hier eingetroffen. Ich werde diesen Brief per Luftpost senden, damit er nicht wieder so lange wie mein letzter unterwegs ist. Ab nächster Woche habe ich meinen neuen Computer und könnte auch eine E-Mail senden. Bisher nutzte ich immer die Möglichkeit in der Schule, um mit meinen Radfreunden von den Irland-Touren in Kontakt zu treten. Es ist schon faszinierend, wenn man so in einer Freistunde schnell ein paar Zeilen auf dem Computer schreibt, dann kurz auf "Senden" klickt und ab geht es nach Los Angeles oder wohin auch in der Welt. Wenn der Adressat in seiner mailbox rechtzeitig nachschaut, kann man in einer Stunde schon wieder Antwort erhalten. Das alles kostet ein paar Pfennige! Voriges Jahr waren in der Irland-Truppe vorwiegend Radfans aus den USA und alle gaben mir ihre E-Mail- Adresse.
Nun aber erst einmal vielen Dank für Deine Briefe bzw. Päckchen mit den Briefen. Einen Teil der Briefe Deines Bruders hatte ich ja schon damals bei Euch, so vor dem Schlafen, gelesen. Nun noch einmal, und die Wirkung ist die gleiche wie damals. Welche Gefühls- und Gedankenwelt offenbart sich! Wenn immer wieder gefragt wird, wie konnten die Deutschen der Naziideologie nur so lange und so gläubig folgen, dann helfen persönliche Briefe aus der damaligen Zeit mitunter mehr als hochwissenschaftliche historische Darstellungen, um Antworten zu finden. Die Briefe Deines Bruders und meines Schwiegervaters (gefallen 1941 vor Moskau) ähneln sich sehr. Meine Schwiegermutter gab mir alle Briefe kurz vor ihrem Tod. Der Schwiegervater war im Gegensatz zu Deinem Bruder (20 Jahre) ein gestandener Familienvater mit Frau und zwei kleinen Kindern, aber immer noch diese "Lust am Dienen", diese Freude "am straffen Dienst", diese Siegeszuversicht, die Selbstverständlichkeit und absolute Zweifelsfreiheit an allem, was geschah. Es ist kein Wunder, dass sich ganz normale Deutsche im Laufe der nächsten Kriegsjahre an heute unvorstellbaren Verbrechen beteiligt haben. Solche Briefe (ohne Namensnennung) in geeigneter Weise publik zu machen, wäre meiner Ansicht nach schon wichtig. Aber dann taucht stets die Frage auf, lesen es die, die es wirklich lesen sollten? Manche wollen nicht aus der Vergangenheit lernen und fühlen sich mit ihren Scheuklappen und dem Brett vor dem Kopf ganz wohl.
Gegenwärtig gibt es bei mir überhaupt keine Möglichkeit für geruhsames Lesen und Aufschreiben von Gedanken. Das zweite Halbjahr ab Februar ist in der Schule immer anstrengender als das erste. Nun bin ich dieses Jahr noch einmal mit fast allen Wochenstunden in den 12. Klassen eingesetzt und damit geht es von Woche zu Woche näher auf das Abitur zu. In den 10. Klassen bin ich für die Vorbereitung des Kurssystems der kommenden Schuljahre verantwortlich, das bedeutet auch viele Befragungen, Belegpläne, Gespräche mit Schülern und Elternversammlungen. Karins Fächer (Deutsch und Musik) erfordern einen ziemlich hohen Korrekturaufwand. Das ist bei mir zwar nicht der Fall, dafür kommen immer mehr Kinder und Jugendliche aus Verwandtschaft und Bekanntschaft, um Nachhilfe in Mathematik und Physik zu erhalten. Wenn es Frühling wird, gibt es draußen in Tautenhain auf den 2500 qm auch zu tun. Jetzt spüre ich deutlich meinen Muskelkater, denn gestern bin ich auf den Bäumen herumgeklettert und habe viel altes Astwerk herausgesägt. Das ist alles auch ganz schön und die Arbeit an frischer Luft tut gut - wenn aber die Zeit dafür nur „weggemaust“ wird, macht alles weniger Spaß. Der neue Computer - mit den vielen neuen Möglichkeiten des Internets, des Scanners, der E-mail - wird zunächst auch eine Menge Zeit der Einarbeitung beanspruchen. Andererseits sind diese vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten so faszinierend. Das gewöhnliche Fernsehen tritt immer mehr in den Hintergrund. Je mehr Programme ausgestrahlt werden, um so größer ist der Anteil an billigem Mist.
Dich interessiert immer wieder, wie sich in Deutschland bzw. in Sachsen alles entwickelt. Ich lege aus der heutigen Leipziger Volkszeitung etwas bei. Was allein im Norden von Leipzig mit dem neuen Flughafen, der Neuen Messe, an Straßen- und Eisenbahnbauten entstanden ist und laufend entsteht, ist beeindruckend nur einmal. Den Umbau des Hauptbahnhofes hast Du ja letztens mitbekommen. Aber auch in Geithain tut sich Vieles. Das Bürgerhaus, die frühere Filmbühne aus den 1950er Jahren, ist fertig. Gleiches gilt für eine ganz tolle, moderne Turnhalle in Geithain-West. Am Alten Rathaus wird tüchtig gearbeitet und sicher wird es nach Fertigstellung ein Schmuckstück für Geithain. Die Baracken gegenüber der Paul-Guenther-Schule sind längst verschwunden und auf dem Gelände sind fünf tadellose Häuser für Betreutes Wohnen entstanden. Elektro-Löffler in der Chemnitzer Straße hat sich gewaltig vergrößert: Kauf des Bauerngutes an der Ecke Bruchheimer/Dresdener Straße und Umbau zu Lager- und Produktionsräumen, Kauf der ehemaligen Fleischerei Irmscher mit dem Gelände bis hinunter zur Stadtmauer. In dem Gebäude ist ein großer Laden für Elektrobedarf und Haushaltsgeräte (vom Fön bis zu den größten Gefrierschränken und Waschautomaten in einer Riesenauswahl) entstanden. Überall wird gebaut, andererseits sind arbeitslose Bauarbeiter mit einem großen Prozentsatz vertreten und Meldungen über Konkurse von Baubetrieben findet man immer wieder in der Zeitung. Es ist mitunter irgendwie verwirrend. Alles schimpft - in letzter Zeit besonders die Bauern, die wegen Europa Einbußen erwarten - aber andererseits hat man den Eindruck, dass es vielen Leuten wirklich immer besser geht. Die Reiseagenturen verbuchten in der Wintersaison Maximalumsätze. Meine zwei jungen Physikkollegen an der Schule (26 und 32 Jahre alt) werden in diesem Jahr mit ihrem Hausbau fertig, eine andere junge Kollegin erzählt begeistert von ihrem Besuch der Internationalen Immobilienmesse in Chemnitz. Sie liebäugeln in der Tat mit einem "Haus in der Provence". ---- Das alles 10 Jahre nach dem Fall der Mauer!! --- Und dann noch so eine Seltsamkeit: Keiner will ernstlich wieder DDR-Verhältnisse, aber die PDS hat Zulauf! Ich bin mir zur Zeit wirklich nicht darüber klar, wer im gegenwärtigen SPD-Streit recht hat: Die einen wollen sie ausgrenzen und lehnen jegliche Koalitionen mit der PDS ab, die anderen erhoffen durch eine Regierungsbeteiligung (wie in Mecklenburg-Vorpommern) eine Zügelung der PDS, ein Nachlassen ihrer Anziehungskraft, wenn sie erst einmal in der Verantwortung steht.
Noch einmal zurück zu den alten Briefen Deines Bruders und meines Schwiegervaters. Vieles ist für uns heute nur schwer nachvollziehbar. Es ist schließlich alles vor über 50 Jahren geschehen. Für uns liegt die DDR- Zeit gerade mal 10 Jahre hinter uns. Ich frage mich heute auch manchmal, wieso man die geistige Einengung und die räumliche Einmauerung damals nicht stärker empfunden hat. Es will einem nicht mehr in den Kopf, dass beispielsweise ein Kontakt über Telefon, Post oder E-mail schon mit Menschen oder Institutionen in Westdeutschland schwer, mit Europa oder Amerika gänzlich ausgeschlossen war. An das Reisen dorthin gar nicht zu denken. Die Irlandtouren sind für mich immer wieder das Musterbeispiel. E-mail an Irish Cycling Safari in Dublin, Bezahlung über Credit-Card, Flugticket telefonisch reservieren, ein Reisebüro ist schon gar nicht mehr nötig. Oder unsere Reise mit dem Auto im Sommer nach Südfrankreich: Kenntnisnahme der vielen Anzeigen im Reiseteil der "Zeit", Anruf bei den französischen Adressen, Prospekte schicken lassen, auswählen - fertig. Oder der Umgang mit den Presseerzeugnissen, die Kunst des Auswählens, Herausfinden der für sich richtigen Zeitung, das Kennenlernen verschiedener Meinungen zu einer Sache - Du hast mich damals mit der "Zeit" sehr gut beraten! Ich möchte sie keinesfalls mehr missen und komme jetzt auch ganz gut mit ihrem Umfang zurecht. Inzwischen ist es dagegen in Kanada schwieriger geworden, "Die Zeit" zu erhalten, wie Du letztens schriebst?
Damit soll es aber für heute genug sein. Herzliche Grüße von Geithain nach Kanada! Eure Geithainer Karin und Gottfried