Читать книгу Briefgeschichte(n) Band 2 - Gottfried Senf - Страница 18
14. März 2000
ОглавлениеLieber Gottfried, liebe Karin, gestern war großer Empfangstag: Zum Lunch kam Dein geradezu sagenhaft langer Brief vom 06. März mit Einlage. Nach dem Abendessen brachte uns unsere Tochter den Ausdruck des Anhangs Deiner E-Mail an sie mit dem interessanten Artikel des Herrn Holz aus der Leipziger Volkszeitung. Sehr vielen Dank für diesen Briefsegen. Ich will auch gleich antworten, sonst lassen mir die Vorbereitungen unserer Englandreise (4. April) keine Zeit mehr. Alles, was Du berichtest über Deine Geschichtsforschungen, ist faszinierend und natürlich kommt Dir da Dein Fenster zum Internet zugute. Mit Deinen Interessen lohnt es sich, modern zu sein. Das „Historic Emigration Center“ - toll, dass es so etwas gibt. Da erscheinen wir möglicherweise auch. Inhaltsverzeichnis? Wird das ein Buch, das man kaufen kann? Ein Titel? Es gibt ein schönes Buch von Fontane, „Wanderungen in der Mark“. Wie wäre es mit „Erkundungen im Geithainer Land“?
Kurt Klein: Was hat der wohl unterrichtet an der Paul-Günther-Schule in den 1930er Jahren? Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Aber Rudolf Walter Leonhardt ist mir natürlich durch „Die Zeit“ sehr gut bekannt. Da las ich gerade (in „Die Zeit“) eine Besprechung der Erinnerungen des DDR-Historikers Fritz Klein. Ein Verwandter von Kurt Klein? Es ist toll, dass Leonhardt in Geithain aufgewachsen ist. Die Welt ist klein!
Ich finde, wenn Sachen interessant sind, dann sind sie um ihrer selbst willen wert, erforscht zu werden. Um geldlichen Lohn sorgt man sich da nicht. Durch Guenther bin ich auch meiner Heimatstadt näher gekommen. Das ist ein schönes Ergebnis. Auf das Buch von Kurt Klein freue ich mich.
„Unverbrüchlich“. Da musste ich lachen. Das hat etwas damit zu tun, dass wir (wir Menschen) sentimental und leicht zu Tränen gerührt sind. Ich würde es nicht nur den Deutschen zur Last legen, wenn sie sich von Leuten an der Macht beschwatzen und hereinlegen lassen. Das ist universal. Wie lange ist es her, dass ein amerikanischer Präsident wirkliches Format hatte? Roosevelt, Truman, Eisenhower. Die waren, jeder in seiner Art, von einer gewissen Größe. Kennedy? Da bin ich mir nicht so sicher. Nach ihm? Einige furchtbare Nieten, einige guter Durchschnitt, keiner sehr bedeutend. In derselben Zeit hatte Deutschland keinen richtigen Versager und mehrere Große, was nicht heißt, dass man unbedingt mit ihnen übereinstimmte. Aber Adenauer, Brandt, Schmidt, auch Kohl – trotz seiner Verfehlungen - die waren schon was. Amerika sieht sich gern als das „Land der Freien“. Inwieweit stimmt das? Es stimmt überhaupt nicht. Die Amerikaner sind die Opfer ihrer eigenen Legenden. Sie sitzen sozusagen im Gefängnis ihrer selbst fabrizierten Spinnereien. Irgendwann geht das schief, so wie es in Deutschland schief ging. Hitler hat uns nicht hintergangen. Er hat genau das gesagt, was wir hören wollten und uns mit unseren falschen Ideen von unserer Größe und Einmaligkeit besoffen gemacht. Dass hinterher keiner etwas gewusst haben wollte, war nichts als schlechtes Gewissen. Da wollte man sich vor der Verantwortung drücken. Der Papst? Wie schwer auf ihm die Geschichte der Kirche lastet! Ich beneide ihn nicht. Wenn er die Wahrheit sagen würde, dass das Ergebnis der Verteufelung der Juden als Gottesmörder durch die Kirche schließlich der Versuch der Ausrottung der Juden war, wenn er das zugeben würde, wäre es mit der Kirche aus. Das ist das wirklich Furchtbare an Auschwitz: dieser Ort ist die Grabstätte des Christentums. Was einmal so wunderbar anfing (mit dem Juden Jesus, der Mitleid und Liebe und Toleranz predigte) endete in der totalen Pleite, weil die machthungrigen Beamten der Kirche weder Mitleid noch Toleranz noch Liebe aufbrachten, sondern Verfolgung und Ausrottung Andersdenkender auf ihren Schild schrieben. Die christlichen Kirchen werden natürlich weiter bestehen und Leute werden sonntags zur Andacht gehen, aber als Gewissen der Menschheit hat dieser Verein ausgedient.
Das Unglück Ostdeutschlands war, wenn ich das richtig sehe, dass sie den eigenen Popanz (Hitler) für einen anderen Popanz eintauschten (Stalin), gezwungenermaßen natürlich. Dadurch bewegten sie sich von einer Illusion zur anderen. Damit kann man nicht so schnell klarkommen, besonders wenn man „geglaubt“ hat. Westdeutschland ist da keine Hilfe. Die haben vergessen, wie schwer sie sich taten mit der „Vergangenheit“. Es ist auf jeden Fall gut und heilsam für die Westdeutschen, dass sich Kohl und die CDU (und FDP) so selbst bekleckert haben und nun erst einmal Jahre der Aufarbeitung brauchen. Das Debakel wird sie bescheidener machen, auch gegen die Verfehlungen anderer.
Fun: Meiner Ansicht nach kommt der „fun“ erst, nachdem man etwas mächtig geübt hat. Schule sollte kurz und schmerzlich sein. Mit 16 alle raus aus der Schule und ins praktische Leben für ein paar Jahre. Danach können dann die, die den Geist dafür haben, „studieren“. Die Universität als Ausbildungsstätte für beinahe jeden ist Blödsinn. In der Fabrik waren die besten Manager die, die einmal selbst gearbeitet hatten. Solche Menschen, die, bis sie fast 30 Jahre alt waren, nur ihr Leben in Schulen und Universitäten verbracht hatten, waren (als Menschen) unansprechbar, hatten Angst vor uns Arbeitern und verschanzten sich hinter angelernten (nicht „erfahrenen“) theoretischen Weisheiten.
Interessiert hat uns Dein Bericht vom Besuch zum Obersalzberg, einstmals ein Schrein der Nation (mit dem „Braunen Haus“ in München und der „Neuen Reichskanzlei“ in Berlin).
Neues in Geithain. Ob wir noch einmal dorthin kommen werden? Und nun der Artikel des Herrn Holz. Wir (meine Mutter und ich) waren nicht lange genug auf der Insel Rügen, um von den Kleinst-Siedlerstellen dort zu erfahren. Drei Transporte vom Lager bei Dresden zur Insel Rügen gab es. Wir waren im ersten Transport mit 547 Vertriebenen, nicht 800, wie ich damals schrieb. Auch bei der Zahl der Waggons hat mich meine Erinnerung völlig fehl geleitet. Herr Holz scheint mir hier die richtige Erinnerung zu haben. Da waren also 55 Personen in jedem Waggon. Schön eng! Nach Herrn Holz waren wir sechs Tage unterwegs. Mir kam es länger vor. Wenn er aber berichtet, dass der Zug über den Rügendamm nach Prora weitergeleitet wurde, dann muss ich dem widersprechen. Wir liefen über den Damm und wurden an der anderen Seite wieder in einen Zug gepfercht, der uns nach Prora brachte. Es stimmt, dass weitere Transporte am 10. November 1945 in Stralsund eintrafen. Mit denen kamen die Hopfgartner Einsiedels, denen wir kurz nach unserer Flucht über den Damm im Hafen begegneten. Herr Holz erwähnt nicht die Plakate, die gegen Ende November in Leipzig die Bevölkerung aufforderten, von Rügen geflohene „Junker“ den Behörden anzuzeigen. Ich habe solche Aufrufe damals in Leipzig gesehen. Wer ist dieser Herr Holz? War er selbst mit bei einem der Transporte oder sind diese Berichte das Ergebnis seiner Nachforschungen? Es kommt also doch mehr und mehr darüber heraus. Das freut mich, denn wenn es sich um einen so kleinen Teil der Bevölkerung handelt, dann vergisst die Geschichtsforschung leicht solche „Lappalien“, die sich natürlich gegen die ganz großen Verbrechen dieser Jahre recht unbedeutend ausnehmen.
Wir wünschen Euch ein frohes Ostern. Nochmals herzlichsten Dank für die vielen Nachrichten. Leider hörten auch wir nichts von den Schulers in Dover, nachdem wir ihnen zur Geburt des Sohnes gratulierten. Ein Besuch im nächsten Jahr wäre großartig. Wir freuen uns schon jetzt. Alles Gute und Schöne wünschen Euch John + Gisela