Читать книгу Briefgeschichte(n) Band 2 - Gottfried Senf - Страница 16
06. Februar 2000
ОглавлениеLieber Gottfried, liebe Karin,
vielen Dank für die durch Angelika vermittelten interessanten Nachrichten. Die Buchstaben ä, ö, ü, werden von der Fax- oder E-Mail-Maschine nicht übermittelt. An dieser Stelle setzt die Maschine ein Fragezeichen. Abgesehen von diesen kleinen Schönheitsfehlern haben mich Deine Forschungsergebnisse natürlich gefesselt. Leider sind auch die Photos nicht übermittelt worden. Unsere Tochter hat dafür nicht das richtige Gerät.
Die „Lässigkeit der amerikanischen Soldaten“, wie wir sie 1945 erlebten, war wirklich eine große Überraschung für uns Deutsche! Wir kannten die krachende Zackigkeit des Militärs und der SS. Ich war einmal mit meiner Mutter beim Kommandanten, der ein kleines Büro hatte neben dem Büro des damaligen Bürgermeisters Müller (dem Stiefvater von Frau Thiemann). Das war wohl im Mai 45. Ein Soldat kam ins Büro und setzte sich mit einer Hinterbacke gemütlich auf den Schreibtisch des Kommandanten und unterhielt sich mit ihm. Wir waren natürlich sehr erstaunt. Vor amerikanischen Krankenhäusern und Kasernen standen Schilderhäuschen, aber die Wachhabenden saßen meist daneben auf einem zurück gekippten Stuhl und sahen sich Comicbooks an. Es geht also auch anders. Bei den Russen ging es dann wieder zackig zu. In allen Diktaturen herrscht „Ordnung“, auch besteht in denen ein mächtiges Rangsystem. Es ist doch sehr merkwürdig, dass im Arbeiter- und Bauernstaat DDR, viel mehr aber in der Sowjetarmee, diese erstaunlichen Rangunterschiede bestanden zwischen Offizieren und Mannschaften. Es gibt ja immer noch Leute, die das vergangene Russische System als „links“ bezeichnen. Die Russen unter Stalin (und später) lebten - wie die Deutschen unter Hitler - in einem Staatskapitalismus, waren also „rechts“. Da kamen die zwei schlimmsten Sachen, Diktatur und Kapitalismus, zusammen! Unser Kapitalismus braucht die Demokratie, um halbwegs erträglich zu sein.
Zur Affäre Kohl, die unterdessen auch eine Affäre der CDU geworden ist: „Die Zeit“ vom 27. Januar hat eine hoch interessante Artikelserie darüber: „Parteichef Helmut Kohl“ (Roger de Weck), „Schaden, Freude“ (Christoph Dieckmann), „Was heißt eigentlich Ehre?“ (Marion Gräfin Dönhoff), „Immer noch schlimmer“ (Tobias Dürr), „Alles in bar“ (Jochen Buchsteiner). … Es ist zum Weinen. Andererseits wären diese Machenschaften eines Politikers, der viel zu lange an der Macht war, in einer Diktatur in Geheimarchiven verschwunden. Ich hoffe, dass der jetzt beginnende Reinigungsprozess die zwei Deutschland näher zusammenbringt, zumal wenn Biedenkopf zum Zuge kommen sollte.
Was in Österreich (Jörg Haider) vor sich geht, ist nicht schön, doch ist es ironisch, dass ausgerechnet die Amerikaner so scharf reagieren. Ich denke da an den vom amerikanischen Geheimdienst unterstützten Putsch gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Allende in Chile, der den grässlichen Faschisten Pinochet zur Macht brachte und Tausenden das Leben kostete. Im Garten des Kalten Krieges wuchsen merkwürdige und schrecklich aussehende Blüten!
Zum Antisemitismus: Ich bin immer noch der Meinung, dass ein katholisches Milieu diesen in der Vergangenheit mit verursacht hat. Die Protestanten hatten immerhin eine innerkirchliche Bewegung (die „Bekennende Kirche“), die sich Hitler und seinen Lehren entgegenstemmte. In Rom gab es, abgesehen von einzelnen Priestern und Katholiken hier und da, keinen Widerstand gegen die Nazis. Mit der Lehre, dass Juden den „Heiland“ ermordeten, fängt das Unheil an.
Hoffentlich ist dieser schnell geschriebene Brief leserlich. Im April werden wir wohl für drei Wochen nach England fliegen, Ende August vielleicht nach Deutschland. Doch ist das noch unbestimmt. Alles erdenkliche Gute und Schöne wünschen wir Euch. Mit herzlichen Grüßen von John + Gisela