Читать книгу Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems - Страница 10

2 Aufbruch in die Moderne
2.1 Programmatischer Modernismus
2.1.1 Der Begriff „modern“

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Grüß Gott und Willkommen! Das Herz zum Gruße

Tut weit euch auf die Sommermuse;

Ja, seht mich nur an, gelehrte Herrn!

Ihr möchtet wohl was Klassisches gern,

Allein, vom Scheitel bis zum Fuße

Bin ich modern, modern, modern!

Ohne Kothurn und Tunika,

Steh ich, ein Mädel von heute, da

Und laß mir mein Heute, mein Heute nicht nehmen,

Will mich in gar nichts Vergang’nes bequemen.

Heut leb ich und lieb ich und heut bin ich jung,

Dem Heute entatm’ ich Begeisterung.

Und ist auch ein Schimpfen

Und Naserümpfen:

Wo ist denn die große

Hellenische Pose,

Das Majestätische,

Donnerpathetische,

Und was man noch sonsten das Klassische nennt:

Das herzheiße Heute ist mein Element.

Drum, was auch die Alten in Ehren gesungen,

Ich liebe die wagemutigen Jungen,

Die durch das bunte Heute schweifen,

Des Lebens lachende Blumen greifen

Und aus des Heute drohenden Schlünden

Sich Stufen zu neuer Helle gründen. [<<39]

Sie lieb ich ganz und bin ihnen hold,

Zeig ihnen im Heute poetisches Gold:

In den Düsternissen

Sozialer Not,

Wo die Liebe zerrissen

Der Schrei nach Brot,

Wo ein Kämpfen und Kriegen ohn Unterlaß,

Wo die Menschen spaltet ein grimmiger Haß,

Wo allem Herzlichen, allem Schönen

Verzweifelt entgegengellt spöttisches Höhnen:

Da will ich dem Schönen das Wahre versöhnen.

Im Wahren die Schönheit! so finden wir sie:

Die uralt neue, die Poesie.

Mit hellen Augen

Die Schönheit saugen,

An der keine Lüge und Schminke klebt,

All-alles, was lebt,

Mit Herzblut tränken

Und aus in goldenen Schalen schenken.

Das ist es, wonach das Junge strebt,

Das sich enthoben den wurmigen Bänken

Der Formelnschule und Konvention,

Die aller Ehrlichkeit, allem Mute,

Die allem liebsehnsüchtigen Blute

Am Ende geworden papierener Hohn.

Natur! Natur! Dich wollen sie singen,

Tief ein in deine Klarheit dringen,

Durch Wolkengrauen

Und Nebelbrauen

Das warme Herz der Wahrheit schauen

Und wiedergebären in neuem Sange,

Was unter Phrasenhülsen versteckt,

Im Dornröschenschlafe, dornenumheckt

Verborgen gelegen allzulange; –

Zu neuem Lenze sei es erweckt! –

Es muß gelingen! Ich habe gelauscht

Wie’s auferstehungsgewaltig rauscht [<<40]

In tausend jungen Herzen;

Es drängt heraus, es braust ans Licht,

Es achtet aller Feinde nicht

Und lacht in Werdeschmerzen.

Und wirft’s auch Blasen wirr und wild:

Es klärt, es hellt sich doch das Bild,

Die Farben leuchten und glühen.

Was jetzt noch im Keimen und Schwellen ist,

Aufbrechen wird’s in kurzer Frist,

Zu weitem, buntem Blühen! (MM 134–137)

Das Wort „modern“ als Schlagwort

Mit diesen Versen wird am 13. Juli 1891 in München das Sommerfest einer Vereinigung von Künstlern und Literaten eröffnet, die sich soeben unter dem Namen „Gesellschaft für modernes Leben“ in das Vereinsregister der Stadt hat eintragen lassen. Der Verfasser ist Otto Julius Bierbaum (1865–1910), ein umtriebiger junger Autor, der ständig zwischen den Zentren der Moderne im deutschen Sprachraum, zwischen München, Berlin und Wien unterwegs ist. Er hat gerade eine neue Zeitschrift gegründet, der er den Namen „Modernes Leben“ gegeben hat, und er wird seinen Festprolog in einer Anthologie veröffentlichen, die den Titel „Moderner Musenalmanach“ trägt. Auch die „Gesellschaft für modernes Leben“ hat schon eine eigene Zeitschrift; sie heißt „Moderne Blätter“.

Es ist unschwer zu sehen: das Wort „modern“ hat um 1890 Konjunktur. Offenbar ist es in den kulturellen Debatten der Zeit zu einem allgewaltigen Schlag- und Machtwort geworden, hat es sich ein solches Renommee erworben, daß man für seine Projekte nichts Besseres tun kann, als sie unter seiner Flagge in See stechen zu lassen. Auch Bierbaums „Sommermuse“ kann es gar nicht oft genug aussprechen: „Vom Scheitel bis zum Fuße bin ich modern, modern, modern“. Schon 1886 hat Arno Holz in seinem „Buch der Zeit“ die Parole ausgegeben: „Modern sei der Poet, modern vom Scheitel bis zur Sohle“. Modern zu sein ist die Losung all derer, die seinerzeit auf die Bühne des literarischen Lebens drängen. Mit dem Alten, mit den Traditionen und Konventionen der Kunst soll gebrochen werden, auch und gerade mit denen, die unter dem Vorzeichen des „Klassischen“ auf die Gegenwart gekommen sind; etwas Neues soll [<<41] auf den Weg gebracht werden, das sich auf nichts anderes als das „Heute“ gründet und das der Kunst einen neuen Frühling, eine neue Blüte bringen wird.

Die Forderung nach einem Neubeginn in der Kunst

In diesem Sinne steht der Wille zum Modernsein, steht ein programmatischer Modernismus am Beginn der modernen Literatur in Deutschland. Er weiß sich bereits mit großer Bestimmtheit zu bekunden, noch bevor eine Literatur Gestalt angenommen hat, die den Namen modern wirklich verdient, die mit neuen Themen und Formen aufwarten kann. Auch Bierbaums Verse klingen ja noch recht konventionell; es sind Verse, wie man sie aus der liedhaften Lyrik kennt, wenn sie sich auch bereits der Liedstrophe entledigt haben. Und überhaupt: wer seine Worte noch einer Muse in den Mund legt, der hat sich vom „Klassischen“ noch nicht allzu weit entfernt. Was dem programmatischen Modernismus seine Selbstsicherheit verleiht, sind zunächst noch keine eigenen Leistungen, ist nicht mehr als die Überzeugung, daß die alte Kunst und Literatur abgewirtschaftet habe, daß mit ihr in der „neuen Zeit“ nicht mehr viel anzufangen sei und daß deshalb mit ihr gebrochen werden müsse.

Dieses Pathos des Neuanfangs ist nun in der Tat etwas Neues, und zwar etwas völlig Neues, etwas, das es so in der Geschichte der Kunst noch nicht gegeben hat. Natürlich hat es der Kunst auch in früherer Zeit nicht an Innovationen gefehlt, doch sind diese in der Regel aus dem Studium älterer Kunst erwachsen, als Versuche, das von den Vorgängern Geschaffene weiterzuentwickeln, es zu überbieten, mit anderem zu verbinden oder in eine Richtung zu treiben, an die noch niemand gedacht hat. Nun will man ganz und gar mit der Überlieferung brechen, will man eine „Stunde Null“ herbeiführen, die alle ältere Kunst aus dem Blick entfernt und einen völligen Neubeginn möglich macht.

Zur Geschichte des Begriffs „modern“

Der Begriff, um den sich das Streben nach dem voraussetzungslos Neuen kristallisiert, der der Modernität, ist selbst freilich alles andere als neu; immerhin erfährt er nun eine Um- und Neudeutung, die durchaus aufschlußreich für die Veränderungen an der Schwelle zur Moderne ist. Das Wort „modern“ ist eine Schöpfung bereits des Mittelalters, ein Kunstwort mittelalterlicher Theoriebildung, abgeleitet vom lateinischen „modo“, zu deutsch „eben, gerade, vor kurzem“, [<<42] und eingeführt als Gegenbegriff zu lateinisch „antiquus“, deutsch „einstig, früher, alt, altertümlich“. Dementsprechend begegnet es durch die gesamte Neuzeit hindurch und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein fast ausschließlich als Teil der Dichotomie antik – modern, wie sie vor allem dazu diente, die Kultur des neuzeitlichen Europa mit der der alten Griechen und Römer zu vergleichen. Seit der Renaissance, seit den Zeiten des frühneuzeitlichen Humanismus hat dieses Europa seine eigenen Möglichkeiten ja in einer permanenten Auseinandersetzung mit der Hinterlassenschaft der Antike entwickelt, in allen Bereichen der Kultur, ganz besonders aber in Kunst und Literatur.

So bildet das Begriffspaar antik – modern etwa das Rückgrat jener europaweiten Debatte, die von 1670 bis 1830, von der französischen Klassik bis zur deutschen Klassik und Romantik, alles Nachdenken über Literatur bestimmte, der „Querelle des Anciens et des Modernes“, des Streits zwischen denen, die die Kunst und Kultur der Antike für unübertrefflich hielten, und denen, die den Werken der Neuzeit eigentümliche, besondere Qualitäten zusprachen, von denen die Antike noch nichts gewußt habe. Beide Parteien zielten mit ihren Überlegungen freilich gleichermaßen auf eine Literatur, die sich an antiken Vorbildern schulte; auch die „Modernes“ konnten und wollten sich eine Literatur noch nicht vorstellen, die gar nichts von den Alten hätte, die nichts als modern und dennoch große Kunst und schön wäre.

Das ändert sich erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, und zwar zunächst in Frankreich, im Kreis um Charles Baudelaire (1821–1867), wovon gerade dessen Umgang mit dem Begriff „modern“ Zeugnis ablegt. Baudelaire gilt weithin als der erste moderne Dichter, wohl zu Recht, jedenfalls soweit sich eine historische Entwicklung wie der Übergang zur Moderne an einer einzelnen Person festmachen läßt. Bei ihm beginnt der Aufstand gegen den Historismus und den Kult der Klassik, der seinerzeit wie in Deutschland, so in den meisten Ländern Europas die Szene beherrschte, beginnt die Abkehr von dem, was er „Eklektizismus“ nennt. In diesem Zusammenhang macht er von dem Begriff des Modernen auf eine Weise Gebrauch, über der er sich mehr und mehr von seinem altgedienten Pendant „antik“ löst und eine von diesem unabhängige, eigenständige Bedeutung annimmt – ein [<<43] markantes Indiz dafür, daß die Literatur allmählich aufhört, sich über den Bezug zum Erbe der Antike zu definieren.15

„Il faut être absolument moderne“,16 heißt es bald schon bei Arthur Rimbaud (1854–1891), einem Autor aus der Schule von Baudelaire. Der Künstler der Gegenwart soll absolut modern sein, nicht nur relativ modern, nicht nur modern im Vergleich mit dem Erbe der Antike und den Begriffen von Kunst und Schönheit, die in ihm beschlossen sind. Die Literatur soll sich ohne Wenn und Aber auf den Boden der modernen Welt stellen, soll ihre Themen und Formen ausschließlich im Blick auf die Gegenwart entwickeln und aufhören, nach der Kunst der Vergangenheit zu schielen, sich an deren Vorstellungen von Kunst und Schönheit zu messen. In eben diesem Sinne heißt es dann auch bei Bierbaum:

Will mich in gar nichts Vergangnes bequemen,

Heut leb ich und lieb ich und heut bin ich jung,

Dem Heute entatm’ ich Begeisterung.

Von Renaissancen zu Avantgarden

Uns sind diese Vorstellungen inzwischen bestens vertraut, ja sie sind bis heute so selbstverständlich geworden, daß wir zu der Annahme neigen, alle Kunst sei seit jeher darauf ausgegangen, mit Traditionen und Konventionen zu brechen, die Macht der Gewohnheit auszuhebeln und die überkommenen Formen zu sprengen. Doch das ist keineswegs der Fall; der Ruf der ersten Modernen nach einem radikalen Neuanfang ist seinerzeit etwas durchaus Neues gewesen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, bis zur Klassik und zu deren Epigonen sind es vor allem Renaissancen, die den Entwicklungsgang von Kunst und Literatur bestimmen, ist es wesentlich eine immer wieder neu und [<<44] anders in Angriff genommene Auseinandersetzung mit dem Erbe der Antike, wodurch Neues in die Welt kommt, und seit der Präromantik des 18. Jahrhunderts dann zusätzlich auch noch die Auseinandersetzung mit dem Erbe des Mittelalters. Nun beginnen Avantgarden die entscheidenden Impulse zu setzen, Bewegungen, deren Protagonisten gerade nicht mehr zurückschauen und das Gespräch mit den Größen der Vergangenheit suchen, die vielmehr „absolut modern“ sein wollen, die mit der Vergangenheit brechen und einzig von den Gegebenheiten der modernen Welt aus Neues schaffen wollen. In der Moderne sind es nicht mehr Renaissancen, sondern Avantgarden, die den Gang der Dinge bestimmen.


Geschichte der deutschen Literatur. Band 5

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