Читать книгу Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems - Страница 17
3 Naturalismus und Symbolismus
3.1 Literatur und Großstadt
3.1.1 Großstadtdichtung bei Baudelaire
ОглавлениеDie Großstadt als Schauplatz einer neuen Schönheit
Das genaue Gegenstück zu dieser Sicht der großen Stadt findet sich ein knappes halbes Jahrhundert später bei Charles Baudelaire,44 dem Vater der modernen Großstadtdichtung. Nicht daß er die Vorstellung von dem ästhetisch und moralisch zweifelhaften Charakter des Großstadtlebens widerrufen würde – im Gegenteil: es ist auch für ihn ein Ort, „wo jede Scheußlichkeit wie eine Blume blüht“ (où toute énormité fleurit comme une fleur). Aber diese „Scheußlichkeiten“ werden für ihn nun eben zu „Blumen“, begründen eine eigene, neue Form von Schönheit, die auch sie zu einer Quelle der Kunst, ja zu dem einzig lohnenden Objekt einer wahrhaft modernen Dichtung macht.
Es ist die Schönheit einer „ungeheuren“, „feilen“ „Dirne“, der „infernalische Charme“ (charme infernal) der Hure Babylon, also eine Schönheit, die nichts mehr mit dem Wahren und Guten zu tun hat, die jenseits der klassischen Begriffe von Kalokagathie, „jenseits von Gut und Böse“ angesiedelt ist. Aber auch so, ja gerade so wird sie für Baudelaire zu einem wahren Lebenselixier und damit zur Quelle einer „Kunst, die Leben hat“ (Georg Büchner), scheint der „infernalische Charme“ der Hure Babylon doch auf nichts anderes zu zielen als darauf, „daß jung ich immer bliebe“. Für Baudelaire ist die große Stadt mithin durchaus nicht mehr das „flimmernd aufgeschmückte große Grab“, von dem Eichendorff gehandelt hat, ist sie keine Ansammlung von „Leichensteinen“ mehr, sondern der Schauplatz eines besonders intensiven, lebendigen Lebens, ein unversieglicher Quell der „Lebenssteigerung“.
Der Epilog der „Blumen des Bösen“
So ist es in einem Gedicht zu lesen, das Baudelaire 1861 als Epilog für eine neue Auflage seines lyrischen Hauptwerks „Les Fleurs du Mal“ (Die Blumen des Bösen, 1857) konzipierte. Wie bei Eichendorff wird der Leser auf einen erhöhten Punkt über der Stadt geführt, von wo aus er sie als Ganze vor sich hat und sich zu ihr als Ganzer ins Verhältnis setzen kann. Das erinnert an jene Szene der Bibel, in der der Teufel Jesus auf einen hohen Berg führt und ihm die „Reiche der Welt und [<<93] ihre Herrlichkeit“ zu Füßen legt (Matth. 3, 8–11). Anders als der biblische Jesus und als Eichendorffs Friedrich widersteht Baudelaires lyrisches Ich nicht der Versuchung, ja gibt es sich ihr in vollen Zügen hin.
Ausklang
Das Herz zufrieden, stieg ich auf des Hügels Schwelle
Von wo im weiten Raum die Stadt man liegen sieht,
Spital, Fegfeuer, Hölle, Zuchthaus und Bordelle,
Wo jede Scheußlichkeit wie eine Blume blüht.
Du weißt, o Satan, Schutzherr meiner Unglückstriebe,
Nicht hab ich eitle Tränen dort des Wegs versprüht.
Doch wie ein alter Lustbock einer alten Liebe,
Wollt ich der ungeheuren Dirne trunken sein,
Die, höllisch-reizend, will, daß jung ich immer bliebe.
Ob Schlaf dich wiegt noch in des Morgens Kissen ein,
Schwer, dunkel, frostig, ob du stolz dich in den Fahnen
Des Abends brüstest mit der goldnen Borten Schein,
Ich lieb dich, feile Metropole! Kurtisanen
Und Räuber, oft bereit, mir Freuden zu verleihn,
Die nicht begreifen die gewöhnlichen Profanen.45
Die „Metropole“ ist für Baudelaire geradezu ein Gegenstand der „Liebe“, ein Gegenüber, das seinem „Herzen“ auf die gleiche Weise zu tun gibt wie die Liebe zu einer Frau, die es bald „zufrieden“ sein läßt, ihm bald „Tränen“ abnötigt und bald „Freuden“ bereitet, die sich bis zur „Trunkenheit“ zu steigern vermögen. Sie ist für ihn mithin ein Objekt jener äußersten Form lebendiger Anteilnahme, die eine unabdingbare Voraussetzung für die künstlerische Gestaltung [<<94] von Erleben ist. Und so wird sie für ihn zum idealen Bezugsfeld für eine Dichtung, die, wie er an anderer Stelle erklärt, aus dem „Abscheu vor der Langeweile“ und dem „unsterblichen Verlangen“ erwächst, „sich leben zu fühlen“ (le désir immortel de se sentir vivre).46 Vor diesem „Verlangen“ schwinden alle ästhetischen und moralischen Bedenken dahin: „Was macht es schon, wie die Wirklichkeit außer mir aussieht, wenn sie mir nur geholfen hat zu leben, zu fühlen, daß ich bin und was ich bin“ (si elle m’a aidé à vivre, à sentir que je suis et ce que je suis)47 – ein Gedanke, der recht eigentlich das Herzstück des modernen Vitalismus bezeichnet und der zuvor etwa schon von Heinrich Heine, zum Beispiel in dessen Reisebild „Ideen. Das Buch Le Grand“ (1827) erprobt worden ist.
Dichtung und Flanerie
Baudelaire geht aber noch einen Schritt weiter. Er will in der modernen „Riesenstadt“ nicht nur jene Intensität des Erlebens gefunden haben, deren der Dichter bedarf, um produktiv zu werden – er schreibt ihr auch eine besondere, nur ihr eigene Form des Erlebens zu, durch die dem Geschäft des Dichters immer schon vorgearbeitet wäre und das insofern selbst bereits Poesie wäre: das Erlebnis des Aufgehens in der Menge, wie es einem „Flaneur“, einem Menschen zuteil wird, der sich ziellos durch die Straßen treiben läßt.48 Das Spezifische des „Lebens in den Riesenstädten“ ist für Baudelaire „das Durcheinander ihrer zahllosen Beziehungen“ (le croisement de leurs innombrables rapports).49 Dieses „Durcheinander“ wird für den, der sie in der Haltung des Flaneurs durchmißt, auf eine handgreifliche, sinnliche Weise erfahrbar. Dabei kommt er jeder Form von Menschentum und Menschenschicksal nahe, wird ihm jene empathische „Verbundenheit mit dem Allgemeinen“ (communion universelle) zuteil, die für Baudelaire das letzte Ziel von Dichtung ist. Es ist eine Allverbundenheit, die vor allem auch das mit einbegreift, was die „gewöhnlichen Profanen“ nach Kräften von sich fernhalten: das „Unbekannte“ und „Unverhoffte“. [<<95]
Es ist nicht jedem gegeben, im Meer der großen Masse ein Bad zu nehmen: Sich der Menge genießend zu erfreuen, ist eine Kunst; und der allein kann, auf Kosten der Menschheit, in Lebenskraft schwelgen, dem eine Fee, in seiner Wiege, die Lust zur Verkleidung und zur Maske, den Haß des Zuhause und die Leidenschaft des Reisens eingeblasen hat.
Masse, Einsamkeit: gleichwertige Ausdrücke, die der tätige und fruchtbare Dichter miteinander vertauschen kann. Wer seine Einsamkeit nicht zu bevölkern versteht, versteht auch nicht allein zu sein in einer geschäftigen Menge.
Der Dichter genießt das unvergleichliche Vorrecht, nach seinem Belieben er selbst und ein anderer sein zu können. Wie jene irrenden Seelen, die sich einen Körper suchen, geht er, wenn er nur will, in das Wesen jedes Menschen ein. Ihm allein steht alles offen; und wenn manche Plätze ihm verschlossen zu sein scheinen, so nur deshalb, weil sie ihm einen Besuch nicht zu lohnen scheinen.
Der einsame und nachdenkliche Wanderer schöpft einen einzigartigen Rausch aus solcher Verbundenheit mit dem Allgemeinen. Der Mensch, der leicht in der Menge aufgeht, kennt Fieberschauer von Genüssen, um die der selbstsüchtige Ichmensch, verschlossen wie ein Schrein, und der Träge, eingekapselt wie ein Muscheltier, ewig betrogen sind. Er macht sich alle Berufe, als wären es die seinigen, zu eigen, alle Freuden und alles Elend; wie die Umstände es ihm bieten.
Das, was die Menschen Liebe nennen, ist sehr gering, sehr beschränkt und sehr schwach, verglichen mit jenem unsagbaren Rausch, jener heiligen Preisgabe der Seele, die sich ganz und ungeteilt, als Dichtung und barmherzige Liebe, dem Unverhofften, das sich darbietet, dem Unbekannten, das vorübergeht, verschenkt.50
Das sind Passagen aus „Der Spleen von Paris“ (Le Spleen de Paris, 1869), einer Sammlung von Prosagedichten (poèmes en prose), die Baudelaire als sein zweites poetisches Hauptwerk neben den „Blumen des Bösen“ ansah. Das Prosagedicht51 ist eine Form, die er sich, wie er in der [<<96] Widmungsvorrede erklärt, eigens zur „Beschreibung des modernen Lebens“ hat einfallen lassen. In ihm versucht er sich an der Gestaltung einer Prosa, die auch „ohne Rhythmus und ohne Reim“ den „lyrischen Regungen der Seele“ Ausdruck zu verleihen vermöchte.52 Im Grunde handelt es sich dabei um den Versuch, die journalistische Textsorte des Feuilletons poetisch zu adeln, ein Unternehmen, an dem sich vor Baudelaire bereits Heine in den „Reisebildern“ auf seine Weise versucht hat. So sind denn die meisten Prosagedichte des „Spleen von Paris“ auch zunächst in diversen Tageszeitungen erschienen.
Der Dichter als Straßenköter
Das Schlußstück ist ein Prosagedicht, in dem Baudelaire die Dichtung dadurch auf die großstädtische Lebenswelt und das Großstadterlebnis einzuschwören sucht, daß er den Straßenköter, den „chien flâneur“, den Hund, der „einsam in den gewundenen Schluchten der unermeßlichen Städte umherirrt“, zum Modell eines wahrhaft modernen Dichtertums stilisiert; es ist überschrieben „Die braven Hunde“ (Les bons chiens). Der Vergleich mit dem Straßenköter erlaubt es ihm, die Erlebnisform der Flanerie noch etwas grundsätzlicher zu fassen, ihr über die ästhetische Bedeutung hinaus eine existentielle Dimension zu geben.
Daß es sich um einen poetologischen Text handelt, zeigt sich zunächst darin, daß er anders als die übrigen Kapitel des „Spleen von Paris“ mit einer Anrufung der Musen beginnt, genauer gesagt: mit der Absage an die „akademische Muse“ und der Hinwendung zur „alltäglichen, städtischen, lebendigen Muse“ (la muse familière, citadine, vivante). Wie Homer und Vergil die Musen des Götterhimmels der Antike anriefen, damit sie ihnen hälfen, die Geschichten vom Untergang Trojas und von der Gründung Roms zu besingen, so wendet er sich an diese seine Muse, um sich ihres Beistands beim Besingen der Straßenköter zu versichern. Das ist natürlich nur eine poetische façon de parler, ein rhetorischer Kniff; in Wahrheit geht es darum, der „akademischen Muse“ und mit ihr dem „Epigonenschweif der Antike“ den Garaus zu machen und einer am urbanen Leben der Gegenwart orientierten Dichtung zum Durchbruch zu verhelfen. Die poetologische Dimension des Texts gewinnt weiter an Profil, wo der Straßenköter mit „Seiltänzern“ [<<97] (saltimbanques) und fahrenden Komödianten (histrions) verglichen wird, und er wird vollends offenbar, wo es heißt, daß der Dichter den Straßenköter „brüderlichen Auges betrachte“. Ein Dichter, wie Baudelaire ihn versteht, wird sich mit dem „chien flâneur“ identifizieren, wird in ihm sich selbst und sein Schicksal wiedererkennen, und darauf kommt es bei der Schilderung der „braven Hunde“ vor allem an.
Wie die „großstädtische Muse“ der „akademischen Muse“ gegenübergestellt wird, so der Straßenköter dem Salon- und Schoßhund, der „chien flâneur“ dem „chien bellâtre“: hier der Dichter als armer Hund, und dort der Dichter als Schoßhund der Gesellschaft. In den Salons der Gesellschaft ist der Dichter zwar frei von „Not“, ist er vor Schmutz und Elend sicher, doch nur um den Preis einer Existenz, die irgendwo zwischen denen des „Kinds“, des „galanten Dämchens“ und des „Dienstboten“ angesiedelt ist, um den Preis einer Abhängigkeit, die er nur auf sich nehmen wird, wenn die Eitelkeit in ihm stärker ist als jede andere Regung, und die ihn letztlich ebensowohl seinen „Instinkt“, seine empathischen Talente, wie seinen „Verstand“ kostet, die beiden Vermögen, ohne die man eigentlich nicht Dichter sein kann.
Dem stellt Baudelaire nun eben den Straßenköter als Gegenmodell gegenüber. Es ist das Modell einer Existenz, in der die Mobilität der Moderne geradezu die Form der „Unbehaustheit“ angenommen hat, einer vollkommen ungesicherten Existenz, so wie man es auch beim fahrenden Volk, bei Pennern und „Zigeunern“, Schaustellern, Straßenmusikanten und anderem Jahrmarktsgelichter antreffen mag. Die Schule des Straßenköters ist nicht die „Akademie“ mit ihren nach allen Regeln der Kunst durchgekauten Bildungsschätzen, sondern die Straße, und damit das Leben selbst, ist die Notdurft (nécessité), der Kampf ums Dasein, und eine bessere Schule kann es für die beiden Grundtugenden des Dichters, für „Instinkt“ oder „Witterung“ und „Verstand“ nicht geben.
Weg mit der akademischen Muse! Mit dieser alten Betschwester habe ich nichts zu tun. Ich rufe die alltägliche, die städtische, die lebendige Muse an, damit sie mir helfe(,) die braven Hunde, die armen Hunde, die mit Kot bespritzten Hunde zu besingen, die Hunde, die jeder von sich fern hält, weil sie verpestet und verlaust sind, nur nicht der Arme, dessen Genossen sie sind, und der Dichter, der sie brüderlichen Auges betrachtet. [<<98]
Pfui über den geleckten Hund, diesen vierfüßigen Gecken, Dänen, King Charles, Mops oder Wachtelhund, so entzückt von sich selbst, daß er höchst zudringlich zwischen die Beine oder auf die Knie des Besuchers springt, wie wenn er sicher wäre(,) ihm Freude zu machen; ausgelassen wie ein Kind, einfältig wie ein galantes Dämchen, manchmal mürrisch und unverschämt wie ein Dienstbote! Pfui über diese vierpfotigen Schlangen, fröstelnd und faul, die man Windhunde nennt und die in ihren spitzen Schnauzen nicht einmal genug Witterung haben, um der Spur eines Freundes zu folgen, noch in ihrem platten Kopf genug Verstand, um Domino zu spielen.
In die Hütte mit all diesen lästigen Schmarotzern! Zurück mit ihnen in ihr seidengefütterte(s) (Körbchen)! Ich singe den kotbespritzten Hund, den armen Hund, den Hund ohne Behausung, den streunenden Hund, den Seiltänzerhund, den Hund, dessen Instinkt, wie der des Armen, des Zigeuners und des Komödianten wunderbar geschärft ist durch die Not, die so gute Mutter, die wahre Schutzgöttin der gescheiten Leute! Ich singe die armseligen Hunde, die einsam in den gewundenen Schluchten der unermeßlichen Städte umherirren, und sie, die dem verlassenen Menschen mit geistvoll blinzelnden Augen sagten: „Nimm mich zu dir, und aus dem Elend von uns beiden machen wir dann vielleicht so etwas wie Glück!“53