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1 Einleitung
1.2 An der Schwelle zur Moderne – Gottfried Benn: „1886“
1.2.1 Vom Lied zum Montagegedicht
ОглавлениеFreie Rhythmen vs. Vers und Reim
Ein erster Anhaltspunkt für seine Einstufung als modern ist zweifellos seine äußere Form, sind die Freien Rhythmen,2 in denen es gestaltet ist, eine Möglichkeit lyrischen Sprechens, die im 20. Jahrhundert zu den bevorzugten Formen der Lyrik gehört. Bei Freien Rhythmen ist die Sprache des Gedichts keiner metrischen Regulierung unterworfen, ist sie weder an eine bestimmte Versform noch an ein bestimmtes Strophen- und Reimschema gebunden, die über den gesamten Text hinweg durchzuhalten wären, so daß ein solches Gedicht nicht viel anders klingt als eine poetische Prosa. Demgemäß ist es hier zunächst nicht mehr als die Zeilenbrechung, was dem Leser anzeigt, daß er ein Gedicht vor sich hat.
Nun hat es Freie Rhythmen auch im 19. Jahrhundert schon gegeben, etwa bei Heinrich Heine (1797–1856) und Friedrich Nietzsche (1844–1900), doch findet man sie hier sehr viel seltener als im 20. Jahrhundert, und sie haben im allgemeinen auch einen anderen Charakter als bei einem modernen Autor wie Benn. Das Gros der Lyrik des 19. Jahrhunderts bewegt sich in liedhaften Formen, zumal in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, und wenn ein Autor dennoch einmal zu Freien Rhythmen greift, so sucht er das, was ihnen äußerlich an Poetizität abgeht, meist durch Pathos zu kompensieren; so haben es jedenfalls Heine und Nietzsche gehalten. Benns Gedicht hingegen macht aus seiner Nähe zur Prosa keinen Hehl, ja es kommt in einer Sprache daher, deren unpathetisch nüchterner, fast schon emotionsloser Ton, deren Lakonismus solche Nähe geradezu demonstrativ hervorkehrt.
Die Geschichte der Freien Rhythmen beginnt im 18. Jahrhundert, bei Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) und dem jungen Goethe (1749–1832), doch bleibt ihre Pflege zunächst Episode. Denn das Ende des Jahrhunderts bringt eine Phase besonders intensiver Auseinandersetzung mit metrischen Fragen, und das Ergebnis ist, daß [<<21] Vers und Reim erneut und mehr denn je als unentbehrlich für alle wahre Dichtung gelten. Für die Dichter der Weimarer Klassik, die Literaturtheoretiker der Jenaer Frühromantik und die Ästhetiker des Idealismus sind sie der ausgezeichnete Ausdruck einer autonomen, nur ihren eigenen Interessen und Gesetzen folgenden Dichtung, und an der Autonomie der Kunst ist nun alles gelegen. Friedrich Schiller (1759–1805) etwa ist der Auffassung, daß allein der Vers jene Distanz der dichterischen Rede gegenüber der Alltagssprache herstellen könne, derer sie bedürfe, um ihre besonderen kommunikativen Möglichkeiten entfalten zu können. Und die Brüder August Wilhelm (1767–1845) und Friedrich Schlegel (1772–1829) feiern den Reim gar als einen besonders prägnanten Ausdruck dessen, wovon die Dichtung ihrer Auffassung nach vor allem Zeugnis abzulegen hat, als Ausdruck der geheimnisvollen Verbundenheit aller Dinge in ein- und demselben Seinsgrund.
Das Lied im 19. Jahrhundert
Die Autoren des 19. Jahrhunderts sind dem im allgemeinen gläubig gefolgt; sie suchten die Autonomie der Kunst zur Geltung zu bringen, indem sie Verse schmiedeten und reimten, was das Zeug hielt. Den äußeren Rahmen gaben dabei vielfach liedhafte Strophen ab, wie sie dank der Auseinandersetzung Johann Gottfried Herders (1744–1803) und des jungen Goethe mit dem Volkslied in das Repertoire der lyrischen Formen eingegangen waren und wie sie von der Hoch- und Spätromantik mit ihrem Faible für die Volksliteratur besonders nachdrücklich propagiert worden waren.
Der Mai ist gekommen,
Die Bäume schlagen aus,
Da bleibe, wer Lust hat,
Mit Sorgen zu Haus.3
So eine typische Liedstrophe des 19. Jahrhunderts, hier eine aus der Feder von Emanuel Geibel (1815–1884).
Daß das Lied 4 im 19. Jahrhundert so große Erfolge feiern konnte, lag vor allem daran, daß es als das ideale Medium der individuell-persönlichen, [<<22] subjektiv-erlebnishaften Sicht der Dinge begriffen wurde, der Raum zu geben das wichtigste Ziel des Ringens um eine autonome Kunst war. Wenn Metrum und Vers, Reim und Strophe durch die regelmäßige Wiederholung bestimmter akustischer Charaktere die Sprache zum Klingen bringen, so lassen sie damit eine Art Wortmusik entstehen, und solche Wortmusik galt wie die Musik überhaupt als besonders geeignet, um Gefühlen und Stimmungen Ausdruck zu verleihen, um das zum Vorschein zu bringen, was den innersten Kern der Person ausmacht, was sich namenlos am Grund der Seele regt und eigentlich nicht in Worte zu fassen ist. Besonders gut sollte dies aber eben mit Hilfe liedhafter Strophen gelingen, da sie die „Natürlichkeit“, die Einfachheit und Schlichtheit des Volkslieds mit sich bringen, so daß in ihnen weder das moderne Bildungswissen noch der moderne Kunstverstand dem Stimmungsleben und dem Ausströmen des Gefühls mit ausgeklügelten Kunststücken in die Quere kommen können.
Und noch besser sollte der Erfolg sein, wenn der Autor in der quasi-natürlichen Form des Lieds auch einen natürlichen Inhalt gestaltete, wenn er nämlich das lyrische Ich in der „freien Natur“ zeigte, als einem Raum, in dem es sich so weit wie möglich von dem zu lösen vermag, was die Gesellschaft seinem Selbstsein in den Weg legt, in dem es ganz bei sich selbst ankommen kann. So hatte es der meistbewunderte Klassiker der deutschen Lyrik, hatte es Goethe in seinen Liedern vorgemacht, so hat es die klassische Ästhetik von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) bis Friedrich Theodor Vischer (1807–1887) beschrieben, und so haben es die Lyriker des 19. Jahrhunderts weithin gehalten. Das Motto war: „Ich singe, wie der Vogel singt“, ein Vers von Goethe, den dieser freilich mit Bedacht dem unglücklichsten aller Liedsänger, dem Harfner – einer Figur seines Romans „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ – in den Mund gelegt hatte. Wie der Gesang des Vogels sollte das Gedicht spontan und intuitiv, um nicht zu sagen: instinktiv der bewegten Seele des Dichters entströmen und sich nicht weniger unmittelbar dem Leser mitteilen.
In diesem Glauben hat das 19. Jahrhundert eine ständig wachsende Flut von liedhaften Gedichten hervorgebracht, und viele von ihnen sind mit den Jahren nicht weniger populär geworden als die alten Volkslieder. Die „Gedichte“ des Liedmeisters Geibel aus dem Jahr 1840 erschienen 1903 in der 130. Auflage, und die „Lieder des Mirza [<<23] Schaffy“ (1851) von Friedrich Bodenstedt (1819–1892) brachten es gar auf über 200 Auflagen. Viele von ihnen sind bald auch vertont worden, sind also zu wirklichen Liedern geworden, und manche haben wie Geibels „Der Mai ist gekommen“ in dieser Gestalt in der Tat den Status eines Volkslieds erlangt. Und nicht nur gestandene Dichter, auch eine große Zahl von Laien hat sich in liedhafter Lyrik geübt, suchte mit selbstgemachten Gedichten dem geselligen Leben Glanzlichter aufzustecken. Jede höhere Tochter, die auf sich hielt, hütete in ihrem Salon eine lyrische Voliere, in der gesungen wurde, wie der Vogel singt.5
Kritik an der liedhaften Lyrik
Und so blieb es, als schon längst Eisenbahnen die Maienlandschaften durchmaßen und Fabrikschlote den Busen der Natur einräucherten. Der Dichter saß, wie Wilhelm Busch (1832–1908) in einer Szene der Bildergeschichte vom verhinderten Dichter Balduin Bählamm (1883) festgehalten hat, im Coupé der Eisenbahn und sang, wie der Vogel singt. Auf die Idee, zu fauchen und zu pfeifen wie die Lokomotive oder Gedichte zu bauen wie eine Bahnhofshalle aus Stahl und Glas, kam zunächst noch niemand. Das änderte sich erst in den neunziger Jahren. Da trat etwa der Naturalist Arno Holz (1863–1929), ein Autor, der sich in den achtziger Jahren noch zur Gemeinde Geibels bekannt und gemeint hatte, mit liedhafter Lyrik in die neue Zeit starten zu können – der Untertitel seiner frühen Gedichtsammlung „Buch der Zeit“ (1886) lautet „Lieder eines Modernen“ – mit einer poetologischen Kampfschrift in den Ring, in der er eine „Revolution der Lyrik“ (1899) ausrief und die Liedstrophe platterdings als „Leierkasten“ verwarf, um es in seinem zweibändigen lyrischen Zyklus „Phantasus“ (1898–1899) erneut mit Freien Rhythmen zu versuchen, ja mit einer noch weniger gebundenen Form, die er „natürlichen Rhythmus“ nannte. Die Kritik an der liedhaften Lyrik wurde allgemein, und es war nicht zuletzt solche Kritik, was eine moderne Lyrik auf den Weg brachte.6
Benns Gedicht auf das Jahr 1886 kommt offensichtlich aus einer Welt, die mit dem Lyrikverständnis des 19. Jahrhunderts gebrochen [<<24] hat. Hier werden keine Verse gedrechselt, wird nicht vor sich hin gereimt und nicht gesungen, wie der Vogel singt. Zwar hat sich Benn wie manch anderer moderne Lyriker durchaus darauf verstanden, die Sirenenklänge einer Wortmusik in Szene zu setzen, wie Vers und Reim überhaupt in der Lyrik der Moderne einen Stellenwert behalten, der nicht zu unterschätzen ist. Aber sie bezeichnen hier nur noch eine Möglichkeit unter anderen. Neben ihnen stehen Formen, deren sachlich nüchterner Sprachgestus, deren „Lakonismus“ dem Gefühls- und Stimmungston der liedhaften Lyrik diametral entgegengesetzt ist, und sie bilden den Hintergrund, vor dem sich Vers und Reim zu bewähren haben. Wenn an Benns Gedicht überhaupt noch ein subjektiv-erlebnishaftes, individuell-persönliches Moment mit beteiligt sein sollte, dann drängt es sich jedenfalls nicht in den Vordergrund, gibt es sich nicht auf den ersten Blick schon zu erkennen.
Rückzug des lyrischen Ichs
So fällt bei der Lektüre von Benns „1886“ denn auch besonders auf, daß in ihm kein einziges Mal „ich“ gesagt wird, und dies obwohl hier ein Autor von seinem Geburtsjahr spricht, von dem Jahr, in dem sein Ich das Licht der Welt erblickte. Die Frage: wo komme ich her? und die stillschweigend mit ihr verbundene zweite Frage: wo bin ich hingeraten? werden nicht von persönlichen Erlebnissen und subjektiven Empfindungen und Stimmungen aus aufgerollt; diese bleiben unausgesprochen und kommen im Text allenfalls indirekt zum Ausdruck. Statt dessen werden allerlei Begebnisse der großen und kleinen Geschichte zusammengetragen, Objektiv-Faktisches aus Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und Verkehrswesen, politischem und kulturellem Leben, einschließlich der zeitgenössischen Literatur. Es geht um Entwicklungen und Begebenheiten, die nichts mit der Person dessen zu tun haben, der da geboren worden ist, jedenfalls nicht mehr als mit der jedes anderen, der seinerzeit das Licht der Welt erblickte.
Einzig gegen Ende des Gedichts findet sich ein indirekter Hinweis auf die Person dessen, der da spricht: 1886 ist das „Geburtsjahr gewisser Expressionisten“; das schließt den als Expressionisten bekanntgewordenen Benn mit ein. Aber dessen individuelles Ich tritt auch hier nicht aus der Phalanx derer hervor, die die Erfahrungen seiner Generation teilen, die alle gleichermaßen unter Verhältnissen herangewachsen sind, die den einen zum Vertreter einer inzwischen verbotenen, in der „inneren Emigration“ verschwundenen expressionistischen Literatur [<<25] hat werden lassen, den anderen, Wilhelm Furtwängler, zum Staatsdirigenten des Dritten Reichs, einen dritten, den expressionistischen Maler Oskar Kokoschka, zum Emigranten und einen vierten, den Generalfeldmarschall von W., zu einem großen Kriegsherrn, den freilich bereits der Heldentod ereilt hat.
Und das alles wird in einer Sprache ausgebreitet, die keineswegs auf intuitive, spontane Weise dem Seelenleben des Autors entströmt, die weithin überhaupt nicht dessen individuelles Idiom repräsentiert und die insofern auch nicht unmittelbar von dessen innerer Befindlichkeit Zeugnis ablegen kann. Vielmehr bedient sich Benn der unpersönlichen Sprache, in der seinerzeit in den Zeitungen von alledem berichtet worden ist, in der es sich in die öffentlichen Diskurse hinein objektiviert hat. Daß er in der Tat auf die Zeitungssprache zurückgreift, wird in den Zeilen besonders deutlich, wo er die „Rubrik: der Leser hat das Wort“ ins Spiel bringt. Die Sprache des Gedichts ist weithin vorgeprägte Sprache, Sprache aus zweiter Hand. Das Ich des Autors bringt sich vor allem in der Auswahl und Zusammenstellung der Zeugnisse zur Geltung, in der Art und Weise, wie er – um eine Wendung von Benn selbst aufzunehmen – „zivilisatorische Realitäten“ „auf Spalier zieht“, wie er das zusammengetragene Material „montiert“ (GBE 405).
Das lyrische Ich im 19. Jahrhundert
Solchen Montagegedichten,7 die ohne das Wort „ich“ auskommen, begegnen wir erst in der Moderne; sie sind im 19. Jahrhundert noch völlig undenkbar. Das Gedicht des 19. Jahrhunderts versucht überall und immer, in allen Belangen ich zu sagen.
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.8 [<<26]
Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.9
Das 19. Jahrhundert hat, wie sich bei Heine besonders deutlich zeigt, kein Wort so oft und mit so gläubiger Inbrunst ausgesprochen wie das Wort „ich“; ich sagen zu dürfen, ist seine größte Lust, ich sagen zu müssen, seine größte Last. Darin vor allem dürften die Erfolge gründen, die im 19. Jahrhundert einer Lyrik zuteil werden, die sich als liedhafte Lyrik zum Medium einer subjektiv-erlebnishaften Ich-Aussprache gestaltet hat. Daß das Ich hier so große Bedeutung erlangt, ist Ausdruck der Individualisierung, wie sie untrennbar mit dem Prozeß der Modernisierung verbunden ist, jener Aufwertung alles Individuellen, Persönlichen, Subjektiven, die vor allem von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts vorangetrieben worden ist und der gerade auch die Literatur Raum zu geben sucht, seitdem sie sich als eine autonome Kunst versteht.
Die Lust und Last des Ich-Sagens erlebt im letzten Drittel des Jahrhunderts bei dem Philosophen, der zum wichtigsten Mentor der frühen Moderne werden sollte, bei Friedrich Nietzsche, einen Höhepunkt, der sich kaum mehr überbieten läßt. Was diesen Denker umtreibt, läßt sich seinen Texten bereits auf den ersten Blick ansehen; offensichtlich kommt es ihm darauf an, möglichst viele Sätze zu bilden, in denen an möglichst vielen Stellen ich gesagt wird. Nietzsches letzte Schrift „Ecce homo“ (1888) dürfte von allen Werken der Weltliteratur dasjenige sein, dessen Text die größte Ich-Dichte aufweist. In allen Belangen soll dem Ich Geltung verschafft werden, nicht nur in der Kunst, die als autonome Kunst dazu prädestiniert ist, sondern gerade auch in den Bereichen, in denen ihm in der Regel eine untergeordnete Rolle zugewiesen wird, und hier wiederum besonders in den Fragen der Erkenntnis und der Moral. Eben darin dürfte einer der Gründe für das ungeheure Echo zu sehen sein, das Nietzsches Schriften an der Schwelle zur Moderne hatten; wer Nietzsche las, der durfte mit ihm endlich einmal hemmungslos ich sagen. [<<27]
Individualisierung und Problematisierung des Ichs
Am Ende des 19. Jahrhunderts konnte das nur als ein Befreiungsschlag erlebt werden, denn es war inzwischen immer schwieriger geworden, unbekümmert ich zu sagen. Nicht als hätte man früher im 19. Jahrhundert nicht auch schon seine Probleme damit gehabt. Das Ich ist sich in eben dem Moment zum Problem geworden, in dem das authentische Selbstsein zum Maß aller Dinge wurde, also bereits tief im 18. Jahrhundert. Schon in den Schriften des Autors, der als der wichtigste Vorkämpfer und Inbegriff des modernen Individualismus gilt, schon bei Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) bringt sich ein Individuum zur Darstellung, das sich als durch und durch problematisch erlebt, das überdies mehr von Erfahrungen der „Entfremdung“ zu berichten hat als von Momenten authentischen Selbstseins. Nicht umsonst sind die Worte, die zur Losung der „Befreiung“ des Individuums geworden sind, ist das „Hast du’s nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?“ aus Goethes „Prometheus“ vom Autor mit einem Fragezeichen versehen.
Dabei ist es im 19. Jahrhundert weithin geblieben. Das Ich, das sich in dessen liedhafter Lyrik zu Wort meldet, ist in der Regel ein angefochtenes Ich, eines, das für sein Selbstsein zu kämpfen hat.10 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nehmen die Probleme mit dem Selbstsein dann allerdings ganz andere Ausmaße an, wachsen sie in eine Dimension hinein, die die Frage aufkommen läßt, ob sie mit den Mitteln einer liedhaften Lyrik überhaupt noch adäquat zu gestalten seien.11 Daß der moderne Individualismus dem Ich ein authentisches Selbstsein verheißt, hat es nach und nach immer sensibler für die Kräfte und Mächte werden lassen, die seiner „freien Selbstbestimmung“ entgegenstehen, die es von innen steuern und von außen begrenzen. Zugleich hat die moderne Wissenschaft ein immer profunderes Wissen um diese Kräfte und Mächte ausgearbeitet, hat sie aufgedeckt, in welchem Maße es von ihnen „determiniert“ ist, auch und gerade dort, wo es sich ihrer gar nicht bewußt wird.
So haben die moderne Biologie, Medizin und Psychologie gezeigt, in welchem Maße das Ich in seinem Denken und Handeln von inneren [<<28] Kräften, von Trieben und Instinkten gelenkt wird. Und so haben die moderne Philosophie, Geschichtswissenschaft und Soziologie ein Bewußtsein davon geschaffen, welche Macht die äußeren Umstände, die geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse über es haben, wie sehr sie es in seiner Entwicklung befördern oder behindern, ja schon in seiner Konstitution als Ich bestimmen. Da wurde es für das Individuum immer schwieriger, an sich selbst und an das zu glauben, was sich in seinem Bewußtseinsleben an Vorstellungen regt, und das konnte natürlich nicht ohne Folgen für eine Literatur bleiben, die sich wesentlich als Sprachrohr des Individuums verstand.
Das Ich zwischen Weltangst und Humor
Das Bewußtsein von der Macht des Unbewußten bereitet sich im 19. Jahrhundert bereits allenthalben vor, aber es hat hier noch keine Konsequenzen für die Form der literarischen Rede, jedenfalls keine von grundstürzender Bedeutung. Das Ich bleibt mit seinen subjektiven Erlebnissen und Vorstellungen, Gefühlen und Stimmungen der Ausgangs- und Zielpunkt aller literarischen Aktivitäten, so daß auch die Probleme mit dem Selbstsein hier noch immer auf subjektiv-erlebnishafte Weise gestaltet werden. Das geschieht vor allem auf zwei verschiedenen Wegen, zum einen indem sich in den Texten ein Ich zu Wort meldet, dessen Lebensgefühl von Weltangst oder „Weltschmerz“ bestimmt ist, und zum andern indem eine Selbstironie und ein Humor kultiviert werden, die es dem Ich erlauben, zu seinen Nöten auf Distanz zu gehen.
Einer Weltangst begegnen wir vor allem in der Literatur der Romantik, etwa bei Ludwig Tieck (1773–1853), E. T. A. Hoffmann (1776–1822) und Joseph von Eichendorff (1788–1857). Da treffen wir immer wieder auf Sprecher, denen ihre Wahrnehmungen und Erlebnisse, ja ihr gesamtes Bewußtseinsleben bis hin zu ihrer Selbstwahrnehmung sonderbar brüchig und fadenscheinig werden, so daß sie nach und nach von einer namenlosen Angst ergriffen werden. Von einem Leben im Zeichen des „Weltschmerz“ handelt die Literatur des Vormärz, handeln zum Beispiel Heinrich Heine und Georg Büchner (1813–1837). Innenwelt und Außenwelt, das Verlangen nach authentischem Selbstsein und das Erfordernis der Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse lassen sich auf keine Weise mehr zusammenbringen, so daß „Zerrissenheit“ und Verzweiflung bis hin zur Todessehnsucht das Schicksal des Individuums scheinen. Demgegenüber weiß es sich allenfalls mit den Mitteln einer Ironie Luft zu verschaffen, die es ebensowohl [<<29] versteht, die Ansprüche der Gesellschaft auf Distanz zu stellen, wie die Fixierung des Ichs auf sich selbst aufzubrechen und zu lösen. Und die Literatur des Realismus setzt bei ihren Versuchen, die Probleme des Selbstseins zu gestalten, vor allem auf den Humor. Er soll es dem Individuum erlauben, sich mit einem Lachen über die „Grenzen der Menschheit“ zu erheben, wie es sie zugleich an sich selbst und an seinen Mitmenschen zur Kenntnis zu nehmen hat. Beispiele dafür finden sich bei Gottfried Keller (1819–1890), Theodor Fontane (1819–1898) und Wilhelm Raabe (1831–1910).
Die Problematisierung des Ichs in der modernen Literatur
In Phänomenen wie Weltangst und „Weltschmerz“, Ironie und Humor bezeugt sich freilich, daß die Auseinandersetzung mit der Problematik des Selbstseins hier noch immer mit literarischen Mitteln geführt wird, die in einem subjektiv-erlebnishaften Zugriff auf die Welt gründen. Das ändert sich erst in den achtziger, neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, an der Schwelle der Moderne; bis dahin hat sich die Vorstellung von der Determiniertheit des Individuums auf eine Weise im Bewußtsein der Menschen breitgemacht und festgesetzt, daß die Frage aufkommt, ob das Ich weiterhin als Dreh- und Angelpunkt der literarischen Rede fungieren könne, ob so noch eine Literatur möglich sei, die den Menschen etwas bedeuten würde.12 Benns Gedicht auf das Jahr 1886 ist ein Beispiel für eine Form des lyrischen Sprechens, die sich, wie sich äußerlich bereits am Fehlen des Worts „ich“ zeigt, entschieden von dem subjektiv-erlebnishaften Ansatz gelöst hat, die mit jenem Zweifel Ernst zu machen versucht, in dem das Bewußtsein von der Determiniertheit des Individuums kulminiert, mit dem Zweifel, „daß ich überhaupt etwas bin“, dem Gefühl, „es geht nur etwas durch mich hindurch“ (GBP 469).
So ist das Gedicht in dem Bewußtsein geschrieben, daß sich das, was durch das Ich „hindurchgeht“, keineswegs über seiner subjektiven Zuwendung in Erlebnisse verwandeln werde, die es sich als seinen ureigensten Besitz zurechnen könnte, die es ihm ermöglichen würden „etwas zu sein“; daß es das „Hindurchgehende“ nur registrieren könne, als etwas, das es wohl betrifft, das ihm aber unverfügbar ist und mehr [<<30] oder weniger äußerlich bleibt. Demgemäß bleibt Benns „lyrischem Ich“ (GBE 522) nichts anderes übrig, als die „zivilisatorischen Realitäten“, die an seiner Wiege standen und die seinen Lebensweg bestimmten, „auf Spalier zu ziehen“. Daß es sich dabei um sehr unterschiedliche Momente handelt, um eine Pluralität von Wirklichkeiten, die sich durchaus nicht zu einem einheitlichen Zusammenhang verbinden wollen, wird nicht verborgen, ja die Form der Montage führt dazu, daß sie in ihrer ganzen Heterogenität vor den Leser gebracht werden.
Um eine solche Sicht der Dinge gegen die übermächtige Tradition der subjektiv-erlebnishaften Dichtung durchzusetzen, hat einer der wichtigsten Wegbereiter der ästhetischen Moderne, Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944), der führende Kopf der italienischen Avantgarde-Bewegung des Futurismus, die Parole ausgegeben: „il faut détruire le je dans la littérature“ – man muß das Ich in der Literatur zerstören (F 285), eine Forderung, die auch in Deutschland Gehör fand, vor allem in den Kreisen der Expressionisten und Dadaisten, und hier wiederum besonders bei Benn. Das aber bedeutet, daß die Vorstellung, ein Gedicht entstehe gemäß der Maxime „ich singe, wie der Vogel singt“, für ihn keine Geltung mehr hat: „Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht“ (GBE 505–506).
Ähnlich hat sich Benns Antipode Bertolt Brecht (1898–1956) geäußert: „Ich schaue allerlei Leute krumm an, von denen mir bekannt ist, (…) daß sie singen, wie der Vogel singt, oder wie man sich vorstellt, daß der Vogel singt. (…) Davon, daß sie herumgehen und die Augen offenhalten, werden sie kaum genug in Erfahrung bringen“ (BS 987). Es bedarf weniger der subjektiv-erlebnishaften Zuwendung eines Ichs als vielmehr des Rückgriffs auf das Wissen, das die großen Kollektive der Gesellschaft zusammengetragen haben, das insbesondere die Wissenschaft erarbeitet hat, wenn der Literatur „ein tieferes Eindringen in die Dinge“ gelingen soll. Und bei Benn heißt es: „Der Lyriker kann gar nicht genug wissen, er kann gar nicht genug arbeiten, (…) er muß sich orientieren“ (GBE 528), eine Forderung, der er selbst zum Beispiel dadurch nachkommt, daß er historische Quellen wie die Zeitungen seines Geburtsjahrs befragt.
Die „Frage nach dem Ich“
Man darf sich freilich nicht täuschen; auch wo sich das Ich nicht mehr in der Weise des „Ausdrucks“, der subjektiv-erlebnishaften Ich-Aussprache zu Wort meldet, hört es keineswegs auf, die Literatur zu [<<31] beschäftigen. Zumindest als „der einmalige, ganz besondere, in jedem Fall wichtige und merkwürdige Punkt, wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen, nur einmal so und nie wieder“13 – so Hermann Hesse (1877–1962) – als Ort eines „Hindurchgehens“, als Umschlagplatz von Welt ist es weiterhin der unentbehrliche Ausgangs- und Zielpunkt der literarischen Rede. „Ein Gedicht ist immer die Frage nach dem Ich“ (GBE 511) – dies sagt der gleiche Benn, der sich an anderer Stelle zu dem Zweifel bekennt, „daß ich überhaupt etwas bin“.
Das Gedicht auf das Jahr 1886 ist dafür ein gutes Beispiel, nimmt es sich damit doch das Geburtsjahr des Autors Benn vor. Es sind die Verhältnisse, unter denen dessen „einmaliges, ganz besonderes, in jedem Fall wichtiges und merkwürdiges“ Ich das Licht der Welt erblickte, was es zu fassen sucht, sind die Determinanten, unter denen dieses Ich zu einem „einmaligen, ganz besonderen Punkt“ wurde, „wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen“. In diesem Sinne ist es überall in Benns Gedicht präsent, obwohl es sich nicht mit dem Pronomen „ich“ zu Wort meldet, behält es weiterhin zentrale Bedeutung für die literarische Rede, wie sehr sich das Individuum auch immer seiner Determiniertheit bewußt werden mag. Und wie sollte es anders sein! Der Prozeß der Individualisierung ist ja mit dem Anbruch des 20. Jahrhundert keineswegs beendet; er setzt sich fort, und er nimmt dabei Formen an, durch die die Literatur vor immer neue Herausforderungen gestellt wird und der sie mit immer anderen formalen Lösungen zu entsprechen sucht.