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Donnerstag, 8. März, 16 Uhr
Invalidenstraße

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Nun drückte sie doch die Klingel des kleinen Musikladens. Sie wollte Lotta vom Musikunterricht abholen, obwohl ihre Tochter das streng verboten hatte.

«Ich bin fünfzehn!»

Das klang sehr komisch aus dem Mund ihrer Tochter, ihres Kindes, das immer noch so zerbrechlich schien, aber sich sehr energisch jeden Erziehungsversuch verbat.

Lotta! Sie hatte so gar nichts mit dem Namen gemein. Damals hatte Becky gehofft, sie könnte ihrem Kind mit dem Namen die Stärke, die Kraft und die Unbekümmertheit einer Pippi Langstrumpf geben. Aber sie war alles andere als unbekümmert, sie machte sich über alles Gedanken, sie vernarrte sich so in Bücher, wie sie selbst es nie getan hatte. Lotta las nicht. Sie verschlang Bücher. Lebte darin. Die wirkliche Welt existierte gar nicht. Sie selbst schien für sie zuweilen nicht zu existieren. Lotta konnte minutenlang den Blick in die Ferne richten, so in sich konzentriert, dass sie keinen Zuruf wahrnahm, nicht einmal den nassen Waschlappen, den sie ihr aus schierer Verzweiflung einmal in den Nacken gepresst hatte, nur um sie aus dieser Trance zu wecken.

Becky machte das Angst.

«Du musst dir keine Sorgen machen!», ermahnte Lotta sie dann immer. Ihre Tochter war sehr streng mit ihr in letzter Zeit. Körperkontakt war verboten, dazu zählte nicht nur jede Form von Zärtlichkeit, sondern auch unabsichtliches Anfassen. Fleisch war verboten, schon lange, inzwischen auch Fisch, und jegliche Nahrung, die nicht aus ökologisch zertifizierten Ursprungsländern stammte. Schlechte Filme waren verboten, amerikanische Serien, deutsche Quizshows … Die Pubertät war eine schwierige Zeit, aber dass sie in Tyrannei ausarten würde, hätte sie nicht vermutet. Anfangs hatte sie das alles noch von der komischen Seite nehmen können, aber inzwischen machte ihr der heilige Ernst ihrer Tochter Sorgen. Zudem wirkte sie zunehmend blasser und vergeistigter in einer Art, die sie an fanatische Klosterschülerinnen erinnerte.

«Wie steht es mit den Jungs?»

Lotta hatte sie völlig entgeistert angestarrt.

«Mama, was für dumme Fragen stellst du mir immer!»

Sie hatte sich empört abgewendet und war in ihr Zimmer gerauscht. Becky sah ihr nur verdutzt hinterher. Mit fünfzehn hatte sie anderes im Kopf gehabt als Bücher. Ihr erster richtiger Kuss. Zungenkuss! Holger, sie hatte ihn fast zwingen müssen. Was für ein Dummkopf! Schade, dass sie so lange bei ihm geblieben war. Der erste Kuss hätte sie eigentlich eines Besseren belehren müssen. Das erste Mal?! Sie musste laut lachen und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Aber es waren nicht viele Passanten unterwegs. Sie sah zur Tramhaltestelle hinüber. Da saß immer noch dieser dicke Mann, völlig in sich gekehrt, ein Buddha in Jogginghosen, der schon die zweite Straßenbahn hatte passieren lassen. Er schien nicht betrunken zu sein, nur völlig teilnahmslos. Irgendwie kam ihr das Gesicht bekannt vor. Aber dicke beschäftigungslose Männer in Jogginghosen gab es in Berlin jede Menge, sie war schon froh, dass er sich nicht eingepinkelt hatte. Sie schüttelte den Kopf.

Es gab immer mehr Verrückte in der Stadt. Auch der Gedanke machte ihr Sorgen. Anfangs hatte sie darüber gelächelt. «Ich werd wohl spießig im Alter», hatte sie sich selbst ermahnt. Aber es fiel ihr immer schwerer, U-Bahn zu fahren oder S-Bahn. Sie mochte die Menschen nicht mehr, sie mochte den Dreck nicht mehr, die Gerüche, die Schmierereien an den Wänden. Am schlimmsten fand sie die falsche Toleranz alldem gegenüber. Sie konnte nicht einsehen, was hip daran war, mit einer Bierflasche durch die Gegend zu laufen und sie irgendwo abzustellen, wo Kinder gut rankamen, oder sie einfach auf den Boden zu werfen. Das war nicht mehr ihre Welt. Anfangs hatte sie noch versucht, den einen oder anderen zur Rede zu stellen. Es waren ja keine Penner. Es waren Jugendliche, chic aussehende, teuer ausgebildete, behütet aufgewachsene Jugendliche, die sie einfach nur auslachten. Sie wollte ihre Tochter hier nicht großwerden sehen. Dabei war das noch der gute Teil der Stadt, die alte Mitte, wo jetzt die jungen Erfolgreichen wohnten, young urban cannibals.

All ihre Freunde schimpften auf die jungen Reichen, die hier ihre Geländewagen auf dem Fußgängerweg parkten, Gourmettüten durch die Gegend wuchteten und spätnachmittags ihre viersprachig parlierenden Kinder von den Privatschulen in die Penthouse-Wohnungen heimführten.

«Eigentlich will ich nur noch weg!»

Es hatte sie verdammt viel Anstrengung gekostet, diesen einfachen Gedanken offen auszusprechen. Zu viel hing daran. Eigentlich ihre ganze Vergangenheit.

«Ich habe nicht versagt!» Das Mantra ihres neuen Selbstvertrauens. «Ich habe nicht versagt!»

So ganz glaubte sie sich noch nicht. Aber sie war auf einem guten Weg. Gut, sie hatte keine Beziehung, sie hatte ein altkluges Kind, das kaum noch Respekt zeigte, sie hasste ihren Job als Altenpflegerin, sie hatte kein Geld für ein neues Leben, den Mut auch nicht, und keinen Mann. Aber anderen ging es verdammt viel schlechter. Ihrer Freundin Inge zum Beispiel, mit dem kranken Vater, oder Heinz, der sich noch einmal zu einem Kind hatte überreden lassen, vermutlich weil er einen altmodischen Namen trug und immer stärker seinem Vater ähnelte.

Sie sah auf die Uhr. Zehn nach vier. Sie hätte längst draußen sein müssen. Lotta war nicht unpünktlich. Lotta war nie unpünktlich. Lotta war so ganggenau wie eine Schweizer Uhr. Morgens stand sie eine halbe Stunde früher auf als nötig, um nochmals ihre Hausaufgaben durchzugehen. Nie hatte sie auch nur eine Schulstunde geschwänzt, noch nicht einmal den Wunsch geäußert. Lotta war ihr unheimlich zuweilen. Sie hatte die Sorge, dass sich das Kind zu viel abverlangte. Vermutlich weil sie sich selbst die Schuld an der Scheidung gab. Das hatte die Analytikerin damals gesagt. Lehrbuchratschläge. Die Kinder geben sich die Schuld an der Trennung! Unsinn. Sie wollte die Trennung und Lotta hätte sie auch gewollt. Weil Thomas ein Idiot war. Weil sie wieder einmal auf einen Dummkopf hereingefallen war, dessen einziges Wollen im Leben sich darauf richtete, immer auf der Sonnenseite zu stehen, egal auf wessen Kosten. «Ichichich», das war die einzige Melodie gewesen, die er pfiff, weil, singen konnte er schon gar nicht. Sex erst recht nicht. Hätte sie damals nur ihr Augenmerk ein wenig mehr auf das gerichtet, was ihr heute als Erstes einfiel, wenn sie an ihn dachte. Seine Eitelkeit, seine penible Ordnungsliebe und – das Schlimmste von allem – sein Geiz.

Wie viele unglaublich peinliche Situationen hatte sie mit ihm durchleben müssen! Wenn er keine zehn Cent Trinkgeld gab, wenn er mit ihr im Restaurant darüber stritt, wer die gemeinsame Flasche Mineralwasser zahlen sollte, wenn er am Kindergeld so lange herumrechnete, bis er drei Euro einsparen konnte. Diesen Mann hatte sie geliebt. Vermutlich weil sie gehofft hatte, dass er verlässlich wäre. Verlässlicher als ihr eigener Vater, der sich erst gekümmert hatte, als das Enkelkind da war.

«Wie dumm bin ich eigentlich?» Sosehr sie über sich selbst lachen konnte – bei dieser Frage blieb ihr manchmal das Lachen im Halse stecken.

Ich klingele jetzt! Sie ermahnte sich noch einmal zur Zurückhaltung. Bis siebzehn zählen. Fünf Passanten freundlich zunicken. Drei Fahrradfahrern auf dem Gehweg streng hinterhersehen. Sie wurde ihrer Mutter immer ähnlicher. Anfangs hatte sie dieser Gedanke noch erschreckt. Das war es genau, was sie immer gehasst hatte, diese selbstgerechte Art. Anderen Fehler vorzuwerfen und die eigenen partout nicht sehen zu wollen. Aber verdammt, so viele Fehler machte sie auch wieder nicht. Zumindest fuhr sie nicht auf dem Gehweg und nervte harmlose Fußgänger. Sie zahlte Steuern, obwohl sie kaum etwas verdiente. Versuchte ihr Kind gut zu erziehen, obwohl es störrischer war als ein alter Esel, und sie mühte sich, auch sonst ein guter Mensch zu sein. Auch wenn es schwerfiel. Gerade wenn sie an ihren Vater dachte. Da war noch dieser Brief, der seit Tagen auf ihrem Schreibtisch lag, und den sie nicht öffnen wollte, weil sie genau wusste, von wem er kam. Sie kannte diese herrischen Schriftzüge nur allzu gut, Hunderte Briefe hatte sie von ihm bekommen, ein Dutzend hatte sie gelesen, dann war sie es leid geworden, seine Vorwürfe und Versprechungen, die sich so durchschaubar abwechselten, nein, sie konnte es nicht mehr ertragen. Sie mochte nicht einmal daran denken.

‹Warum geht diese verdammte Tür nicht auf?!› Sie klingelte.

Wo blieb Lotta?

Sie klingelte und klingelte.

Nichts tat sich. Sie ließ den Daumen auf der Klingel. Hörte das helle Bim-Bim-Bim im hinteren Raum. Endlich Schritte.

Der Gitarrenlehrer trat an die Tür. Ein junger Mann von so schlaksiger Art, dass man wirklich Angst hatte, er könnte jeden Moment zusammenknicken und in seine Einzelteile zerfallen.

«Frau Blumich! Hallo!»

Er war immer so freundlich und fröhlich. Ohne Drogen eigentlich nicht machbar.

«Hi, Sven!» Sie duzte ihn konsequent. Beim Siezen hätte sie lachen müssen.

«Ich wollte eigentlich Lotta abholen!»

«Die ist doch schon seit zehn Minuten weg! Die Stunde geht doch nur bis vier!»

Er sah sie sehr altklug an. Als ob schon der Verdacht auf Alzheimer bestünde.

«Das weiß ich, Sven!» Sie wusste auch, dass Lotta zuweilen den Hinterausgang benutzte, nur hatte sie diesmal nicht daran gedacht. «Lotta ist …» Sie nickte in Richtung Hof.

«Yoh! Sie wollte noch ’ne Kleinigkeit einkaufen und dann direkt nach Hause. Da ist sie jetzt auch bestimmt, im Supermarkt!» Dieser kleine Kifferaffe dachte tatsächlich, er könnte sie beruhigen. Eine wahnsinnige Wut stieg plötzlich in ihr auf, und irgendwie spürte er das, denn er trat einen Schritt zurück.

«Na, dann bis zum nächsten Mal», presste sie mühsam hervor und drehte ihm den Rücken zu. Die Tür fiel verdammt schnell ins Schloss.

‹Du leidest schon unter Verfolgungswahn›, flüsterte sie sich zu. ‹Ruhig jetzt und schimpf sie nicht aus, da gibt es keinen Grund zu.› Sie überlegte noch kurz in den Supermarkt zu gehen, um Kleinigkeiten für das Abendessen zu kaufen, aber sie traute Sven nicht so ganz. Sie wollte sicher sein, dass ihre Tochter zu Hause war. Jetzt, sofort. Lotta würde nie ohne sie in den Supermarkt gehen. Warum auch?

Beim Überqueren der Straße fiel ihr auf, dass der dicke Mann gar nicht mehr im Wartehäuschen saß. Seltsam, dachte sie, er wirkte so, als gehörte er da für immer hin.

Solche Menschen musste es auch geben, die immer wissen, wo sie hingehören.

‹Mensch, Mensch›, dachte sie, ‹Mensch, Mensch, du grübelst zu viel, das führt zu nix Gutem! Selbstgespräche auch nicht!›

«Hallo, Süße!»

Lotta saß am Tisch und studierte ihren Stundenplan.

«Morgen hab ich fünf Stunden und Sport. Sport nervt. Frau Rüdiger nervt. Ich versteh nicht, warum sie mich immer anmeckert. Das ist so ungerecht. Ich will da nicht mehr hin. In der Zeit könnte ich genauso gut was anderes machen. Mathe, oder Ethik, oder Physik.»

«Hallo!»

Jetzt endlich hob Lotta den Kopf und sah ihre Mutter einen Moment verdutzt an, weil sie das zweite Hallo für nicht sehr logisch hielt. «Ich hab doch schon Hallo gesagt!»

«Aber hast du mich dabei auch angesehen?»

«Muss ich das? Gibt’s was Neues zu sehen?»

«Werd nicht frech, Süße!»

Lotta hatte schon wieder abgeschaltet und den Kopf über ihren Stundenplan gebeugt, als gäbe es nicht Wichtigeres auf der Welt. Becky sah auf den dünnen Nacken ihrer Tochter und eine Welle mütterlicher Fürsorge durchflutete ihren Körper. Sie schien manchmal so zerbrechlich, so blass, so ganz aus Porzellan. Dann wieder dieser Sturkopf. Diese Art, sich ganz und gar einzumauern und keinen an sich heranzulassen.

Keine Ahnung, wie das weitergehen sollte.

«Hast du schon gegessen?»

Keine Regung. Sie schien die Frage einfach nicht gehört zu haben.

«Süße, hast du schon gegessen?!»

«Mannoh, jetzt nerv doch nicht dauernd!»

Lotta blickte entrüstet auf. Ihr schmales Gesicht hatte sich zu einer wütenden Grimasse verzogen. Das konnte sie gut. In null Sekunden auf hundertachtzig. Genau wie ihr Vater. ‹Was hat meine kleine süße Tochter eigentlich von mir geerbt›, fragte Becky sich, als sie in die kindliche Fratze vor ihr sah. In diesen Momenten war ihr ihre eigene Tochter fremder als jedes andere Kind auf dieser Welt. ‹Irgendwas muss sie doch von mir haben!›

«Essen! Es geht nur ums Essen. Und dass du groß und stark wirst. Also: Tofu oder Fisch?»

Lotta sah schon wieder auf ihren Stundenplan. Die Arme hatte sie weit abgewinkelt, als könnte sie so die Woche in die Länge ziehen. ‹Was für dünne Arme!›, dachte Becky und stutzte plötzlich. Sie trat näher an den Tisch und fasste die rechte Hand ihrer Tochter. Lotta sah erbost auf und versuchte sich aus dem Griff ihrer Mutter zu lösen.

«Lass meine Hand los!»

Becky hielt die Hand ihrer Tochter fest. Zog sie ein wenig näher an sich heran.

«Seit wann hast du ein Tattoo?»

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