Читать книгу Führerin - Gregor Eisenhauer - Страница 19
Freitag, 9. März, 12 Uhr
Hotel Four Seasons, Ayn Goldhouses Appartement
ОглавлениеAyn Goldhouse ging nervös in ihrem Hotelzimmer auf und ab. Sie hasste es, nicht rauchen zu dürfen. Einen Moment überlegte sie, sich im Bad eine Zigarette anzuzünden, heimlich, wie damals bei ihren Zieheltern, aber das erschien ihr schwach und kindlich. Außerdem waren die Feuermelder im Bad vermutlich noch empfindlicher als die im Living Room.
Sie trat ans Fenster und zog den Vorhang beiseite. Sie könnte aus dem Fenster rauchen, aber auch das hieße, vor einem Verbot kuschen. Aber das würde sie nie wieder tun, vor irgendwem, vor irgendetwas kuschen. Sie presste die geballten Fäuste fest auf das Fensterbrett. Vor ihr lag der Gendarmenmarkt, der schönste Platz der Stadt, mit dem Deutschen Dom, dem Französischen Dom, dazwischen das ehemalige Theater, jetzt Konzerthaus. Nicht dass sie etwas für die bürgerliche Kultur übriggehabt hätte, aber die machtvolle Bebauung des Platzes imponierte ihr. Faszinierend, sich vorzustellen, wie die Größen des Dritten Reiches die Stufen des Theaters hochgeschritten waren, in ihrem Schlepptau all die Kriecher und Speichellecker.
Sie hatte das Four Seasons gewählt, weil sie hier einen guten Blick auf das Hotel hatte, in dem Klimt untergebracht war, schräg gegenüber von ihr, ebenfalls fünfte Etage, sie konnte ihm direkt ins Zimmer sehen. Leider öffnete er niemals die Vorhänge.
Er hielt sich ebenfalls gerade in seiner Suite auf, hatte ihre persönliche Assistentin gerade gesimst; sie und eine weitere Mitarbeiterin teilten sich seine Überwachung, rund um die Uhr. Sie war über alles informiert, was er tat.
Seit drei Jahren überwachte sie ihn, seit dem Tag, als sie seinen Tod beschlossen hatte. Sie hatte es ihm damals persönlich mitgeteilt, und seine Gelassenheit war erstaunlich gewesen. Er hatte auf seinen Todesengel schon gewartet. Dass sie es war, schien ihn nicht sonderlich zu entsetzen. Im Gegenteil, sie spürte, dass er sie körperlich anziehend fand. Das war keine Neuigkeit für sie. Alte Männer mochten ihre kindliche Art, denn dafür hielten sie ihre zur Schau gestellte Naivität, für Kindlichkeit. Diese Kindlichkeit war schon immer ihr einziger Schutz gewesen, und ihre beste Waffe. Selbst mit einundfünfzig wirkte sie noch wie eine frühreife Ballerina, die arglos durchs Leben tanzt und ansonsten Schutz und Sicherheit in der Achselhöhle des Maestros sucht. Ihr war noch kein Mann begegnet, der diese Empfindung, sie schützend in die Arme nehmen zu müssen, nicht gehabt hatte. Bei Klimt war sie besonders deutlich zu spüren. Auch das verübelte sie ihm. Sie hätte ihn für klüger gehalten.
Was tat dieser Mann, wenn er allein im Hotelzimmer war? Sie konnte es sich vorstellen, sie konnte es sich nur allzu gut vorstellen. Er übte sich schon einmal im Spiel «Toter Mann». Nein, dazu brauchte sie keine Spitzelberichte, um sich in ihn hineinzudenken. Zuweilen sah sie Bilder, von denen sie überzeugt war, sie nicht zu halluzinieren. Sie richtete einfach ihr inneres Auge wie eine ferngesteuerte Kamera in andere Räume, auf andere Menschen.
Sie sah Klimt, wie er auf dem Bett lag. Er war gerade aus der Dusche gekommen, hatte sich frottiert, bis seine speckige Haut rosa glänzte. Er trug nur ein Unterhemd, eine Unterhose, in Weiß selbstredend, und warme Strümpfe, denn seine Füße waren schlecht durchblutet. Durch die Socken stachen seine Fußnägel, er legte keinen Wert auf Pediküre. Er legte überhaupt keinen Wert mehr auf seinen Körper. Schnaufend ließ er sich aufs Bett fallen, faltete die Hände über seinem Bauch und starrte an die Decke. In seinen Zimmern war es immer überhitzt. Er war zu alt, zu unsportlich, um seinen Körper selbst auf Betriebstemperatur zu bringen. Das mussten andere für ihn tun.
Wie oft hatte sie Männer wie ihn so daliegen sehen?! Es war ihr lieb gewesen, wenn sie das Unterhemd anbehielten, denn sie mochte diese haarigen Brustkörbe nicht, an die sie danach immer gepresst worden war. Dieses Schnaufen, das den Körper hob und senkte, so panisch manchmal, dass sie dachte, diese alten Säcke überlebten es nicht.
Sie hatten es alle überlebt, leider. Keiner war je gestorben, nachdem sie Sex mit ihm gehabt hatte.
Den ersten hatte sie mit fünfzehn vor sich liegen sehen, er war Klimt zum Verwechseln ähnlich gewesen, aber das war nicht der Grund, warum sie ihn so hasste. Damals war sie sogar froh gewesen, diesen Fettwanst aufgetan zu haben, denn er war so schüchtern und verklemmt, dass sie ihm nur einen blasen musste, um an das Geld zu kommen. Es hatte kaum fünf Minuten gedauert. Sie zog ihm die Unterhose runter, er roch nach Seife, hatte sich nicht richtig abgetrocknet, sie massierte ihm ein wenig die Eier. Er stöhnte auf. Was für ein Dummkopf, hatte sie damals gedacht. Warum verlangt er nicht mehr für sein Geld. Sie hatte ihm die Eier ein wenig fester zusammengepresst, was ihm gefiel.
«So einfach geht das mit euch.» Den Satz hatte sie in den Minuten danach wie ein Mantra vor sich hingemurmelt, damit der Ekel sie nicht überkam. Sie wollte das alles vom Kopf her begreifen, nicht vom Körper. Es war Kopfsache. Es war eine Machtfrage. Sie nahm seinen kleinen, halb erigierten Schwanz fester in die Hand, beugte sich ganz langsam über ihn, öffnete die Lippen und begann zu saugen. Lutschersaugen nannte sie das. «Ich saug deinen Lutscher!» – «Oh ja!» Mehr kam meist nicht als ein gepresstes: «Oh ja!»
Sie wusste, je langsamer sie saugen würde, desto schneller würde er kommen. Sie lauschte auf sein Schnaufen, das lenkte sie ab, und ließ sie ahnen, wann er kam. Er würde den Unterschied nicht merken, wenn er es ihr in die Hand spritzte. Im Mund wollte sie es nicht haben. In der Hand fühlte es sich an wie eine sehr wässrige Feuchtigkeitscreme, die sie ihm auf den zitternden Schenkeln verrieb.
Es war so einfach gewesen, an Geld zu kommen. Mit der Zeit fiel es ihr so leicht wie das Händewaschen danach. Hatte sie sich damals zumindest eingebildet. Die Drogen hatten damals ihr Hirn im Griff. Jeder Tag ein anderes Feuerwerk, bis nichts mehr zündete. Was blieb, waren die Erinnerungen an all die Kerle, die sie nach und nach auslöschte, Bilddatei für Bilddatei, Erase!
Sie war sich sicher, dass Klimt ab und an davon träumte. Wie sie ihm einen blies. Das hatte sie in seinem Blick gesehen. Dafür hasste sie ihn nicht. Warum nicht, warum sollte sie ihm nicht vor seinem Tod noch einen blasen. Wenn er es so leidenschaftlich wollte. Sie war gern bei der Erfüllung von Wünschen behilflich.
Gier war gut. Gier war ein gutes Gefühl. Gier hatte die Menschheit siegen gelehrt über die Natur. Gier hatte Helden gemacht. Mut zeigte jeder hin und wieder im Leben, aber die Gier, anderen voraus zu sein, die machte Helden. Nein, die Gier nahm sie ihm nicht übel. Seinen Körper nahm sie ihm übel. Sie hasste seine niedrige Statur, die Fettleibigkeit, die von dem lebenslangen Mangel an Bewegung herrührte. Sie hasste es, daran denken zu müssen, wie er aus allen Poren schwitzte, wenn er seine Vorträge hielt. Wie er nach den Lesungen mit schweißiger Hand Autogramme schrieb. Wie er dalag, jetzt auf dem Bett, ein widerliches Stück Fleisch, das sich anmaßte, Gottes Schöpfung zu leugnen, nur weil er sich selbst und Gottes Auftrag vergessen hatte, ein besserer Mensch zu werden, ein schöner Mensch. In die Hölle gehörte er, gar gekocht, in des Teufels Großmutter riesigen Kessel. Sie musste lauthals lachen bei dem Gedanken.
Aber sie würde ihm Gelegenheit geben, sich ihr zu nähern. Das wollte sie auskosten, das Restzittern eines lebendigen Toten. In seinen eigenen Räumen würde sie ihn empfangen zu einem Diner à deux. Von ihr ging die Initiative aus. Das mochte er, dessen war sie sich sicher. Die Einladungskarte hatte sie schon geschickt, morgen acht Uhr würde alles gerichtet sein für das letzte Abendmahl. Sie empfand den Gedanken nicht als Blasphemie. Wenn ihr eins immer zweifelsfrei gewesen war, dann, dass sie die rechtmäßige Nachfolgerin Jesu Christi war. Sie hatte gelitten wie er, sie hatte ein so schweres Kreuz getragen wie er, war dafür verlacht und verhöhnt worden, und viel hatte nicht gefehlt, so wäre sie für immer verstummt. Aber sie hatte über ihre Feinde triumphiert. Sie, Ayn Goldhouse, von den Eltern ausgesetzt, von Pflegeeltern großgezogen, versunken im Sumpf der Drogen und der Prostitution, wiederauferstanden im siebten Jahr, reiner und schöner denn je, und jetzt Herrscherin über den Orden der New Virgins.
Ja, es war Größenwahn, was sie zuweilen umtrieb. Aber sie beherrschte ihn, sie konnte damit umgehen, sie war kein Mann, sie war nicht wie Klimt, der seinen eigenen Allmachtsfantasien erlag. Sie wusste, was es hieß, schwach zu sein, zu schwach für das Leben, zu schwach selbst für den Tod.
Sie würde ihn spüren lassen, was es heißt, wirklich schwach zu sein, mit ansehen zu müssen, wie ein anderer leidet, ein geliebter Mensch. Sie war sich nur noch nicht sicher, ob seine Tochter oder seine Enkelin für seine Sünden büßen musste.