Читать книгу Führerin - Gregor Eisenhauer - Страница 6
Prolog
ОглавлениеAls wären ihr die Lippen zugenäht worden. So konzentriert saß sie da und zeichnete. Sie zeichnete aus dem Gedächtnis, das konnte sie am besten. Dann verwirrte die Gegenwart sie nicht. Die vielen fremden Eindrücke, die sie beim Alleinsein störten. Sie zeichnete eine schwarze Rose, die in einem labyrinthischen Garten wuchs, ein Irrgarten, in dem sie niemand finden konnte. Nicht einmal ihre Mutter. Sie seufzte entnervt.
Was sie am meisten an ihrer Mutter hasste? Dass sie nie die Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt hatte. Sie tat immer nur so, als wäre das Leben ein Kinderspiel. Aber ihr Leben war kein Kinderspiel. Schon lange nicht mehr. Sie war nicht wie ihre Mutter, die sich die Karten einfach neu legte, wenn sie ihr nicht passten. Sie glaubte an das Schicksal, weil sie wusste, das Schicksal glaubte an sie.
Lotta hatte sich mit ihrem Zeichenblock an einen Nachbartisch gesetzt, mit dem Rücken zu ihrer Mutter, stützte ihr Kinn in die Hand und tat so, als müsste sie sich schrecklich konzentrieren. Sie wollte allein sein. Die beiden redeten einfach zu viel. Nach drei Wochen das erste Mal wieder unter Menschen! Becky benahm sich ganz und gar kindisch, wie immer, wenn sie sich über etwas sehr freute. Martina hingegen wirkte eher noch verschlossener, als würde ihr die neue Umgebung ein wenig Angst machen. Dabei war der Marktplatz am frühen Morgen noch fast menschenleer. Kleine Transporter rollten knatternd über das mittelalterliche Pflaster und brachten frische Panini in alle Häuser. Zumindest stellte sich Lotta das so vor. Pizzabäcker wärmten ihre Öfen. Kellner bügelten die Servietten, die sie sich dann akkurat über den Arm warfen. Es war wie im Film. Einer dieser alten Kitschfilme mit Sophia Loren und Gina Lollobrigida, die Becky sich so gern ansah. Bella Italia! «Wenn nur die Italiener nicht wären», hatte Martina geseufzt, als ihnen ein Mopedfahrer hinterhergehupt hatte, kaum dass sie aus dem Auto gestiegen waren.
«Ach, der meint das doch nur nett», hatte Becky sofort abgewiegelt, um nur kein ungutes Gefühl aufkommen zu lassen. Sie war fest entschlossen, die Zeit in Italien zu genießen. Martina hingegen schien ein wenig Heimweh nach Berlin zu haben. Nicht dass sie darüber gesprochen hätte, aber es war ihr anzusehen. Urlaub war nichts für sie. Schon gar nicht so ein langer Urlaub. Auch wenn sie es Arbeitsurlaub nannte. Aber woran genau sie arbeitete, hatte sie nicht verraten. Dauernd sah sie sich um, als erhoffte sie, ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Lotta mochte die neue Freundin ihrer Mutter, obwohl sie fand, dass sie immer ein wenig zu ernst war und ein wenig zu forschend. «Sie hat viel durchgemacht, wir müssen ganz lieb zu ihr sein», hatte Becky sie gebeten. Komisch war nur, dass all ihre Freundinnen immer viel durchgemacht hatten und sie zu allen ganz lieb sein musste. «Ich muss nicht zu allen lieb sein», hatte sie entgegnet, und es im nächsten Moment schon wieder bereut, weil ihre Mutter prompt so traurig dreinsah. Becky war immer so weich, deswegen war sie auch so dick. Die Diäten, die sie machte, waren albern, weil total sinnlos, und die Diät-Cola auf dem Tisch auch. Sie war nicht dick, weil sie zu viel aß oder trank, sie war zu dick, weil sie zu weich war und zu nachgiebig.
«Schwache Menschen sind immer dick», hatte die Oberin geschrieben. «Sie geben der Seele ein schlechtes Zuhause. Sie sind nur Biomasse in der Welt, reine Biomasse.» So ganz hatte Lotta das mit der Biomasse nicht begriffen, aber dicke Menschen fand sie eklig. Martina war sehr schlank. Sie hatte sehr kurze Haare, was von ihrer Krankheit kam. «Eine ganz schlimme Krankheit», hatte Becky geflüstert. Sie flüsterte immer, wenn sie Geheimnisse verriet, die keine waren. «Sie hatte eine Chemo», präzisierte Lotta. So wie die eine Frau von dem Fußballspieler, die hatte vorher auch Locken und danach einen Kurzhaarschnitt.» – «Ich weiß nicht, wen du meinst, aber du hast recht, wie immer», setzte Becky noch seufzend hinzu. Dann mussten sie beide lachen.
Becky benahm sich immer noch so, als wäre sie ein kleines Kind. ‹Sie mag mich einfach nicht hergeben.› Lotta wusste gar nicht, wann ihr das zum ersten Mal aufgefallen war, aber als sie begriffen hatte, wie sehr ihre Mutter klammert, hatte sie noch mehr auf körperlichen Abstand geachtet.
Sie beugte sich wieder über ihren Zeichenblock. Sie malte die Rose, so wie sie auf der Homepage des Ordens zu sehen war, tiefschwarz und sehr stachelig.
Darunter schrieb sie ihren neuen Namen, den die Oberin ihr beim Eintritt in den höheren Kreis gegeben hatte: Ninja, die Verborgene. So hießen die tapfersten Kämpfer im alten Japan.
Sie hatte ihr noch eine Losung dazugegeben, einen Bannspruch gegen alles Böse; «aber die Worte darfst du nie laut aussprechen», hatte die Oberin sie ermahnt. Auf der nächsten Stufe würde sie ein Bild der Oberin selbst sehen und nicht mehr nur einen Schattenriss, und vielleicht, in nicht allzu langer Zeit, würde sie sie selbst treffen. Vielleicht noch hier in Italien!
«Denk immer daran: Du bist zur Führerin geboren. Und denk immer daran: Du bist nicht auf dich allein gestellt! Unsere Guardian Angels bewachen dich, du musst dir keine Sorgen machen … Wo auch immer du bist, einer von uns ist ganz in deiner Nähe.»
Lotta sah sich um. War er vielleicht einer von ihren Schutzengeln? Sie musste kichern, was den jungen Mann am Nachbartisch gar nicht freute, denn er bezog es zu Recht auf sich. Er wirkte ein wenig linkisch, wie ein junger Lehrer, der zum ersten Mal vor seiner neuen Klasse stand. Irgendetwas in seiner Art kam ihr sehr vertraut vor, aber vielleicht war es nur diese Schüchternheit, unter der sie selbst so lange gelitten hatte, bevor sie in den Orden eingetreten war.
Sie konzentrierte sich wieder ganz auf ihre Zeichnung.
Sie mochte es hier in Italien, sie war neugierig auf ihre Schule, die sie morgen zum ersten Mal besuchen sollte. Sie mochte das kleine Haus in den Weinbergen und die anderen Häuser drum herum. Es war wie ein kleines Dorf, jeder kannte jeden, jeder grüßte jeden. Es war ganz anders als in Berlin, sie fühlte sich auf einmal gar nicht mehr einsam.
«Sehr hübsch. »Der junge Mann hatte sich herübergebeugt, argwöhnisch beäugt von Martina und Becky. Aber Lotta hatte keine Angst. Vor niemandem. Sie besaß den Zauber, das schien er zu spüren, denn er kam nicht näher als bis zu der unsichtbaren Grenze, die sie um sich gezogen hatte. Sein Kopf reckte sich ein klein wenig vor, als er ihre Zeichnung musterte. Seine Haut war schrecklich verpickelt. Er musste sehr darunter leiden. Und sehr gierig nach Schönheit sein. Sein Blick war voll ehrlicher Bewunderung, aber Lotta war sich nicht sicher, ob dieser Blick ihrer Zeichnung oder ihr selbst galt. Das war ihr unangenehm. Denn sie war nicht eitel. Sie hasste alle Äußerungen, die sich auf ihre Schönheit bezogen. «Schönheit ist ein Makel des Geistes», hatte die Oberin gesagt. «Eine Freude nur für Schwache.»
«Ein sehr schönes Bild.» Der junge Mann nickte, als wäre damit alles gesagt.
«Ein Labyrinth», erklärte Lotta.
«Ein Labyrinth lässt sich denken als die Summe sehr vieler Swastiken», dozierte er. «Du weißt, was das Symbol bedeutet?»
«Die Swastika? Natürlich!» Lotta sah ihn erbost an. Sie hasste es, wenn man sie für dumm hielt, nur weil sie ein Mädchen war.
«Das altindische Symbol für ewiges Leben. Manche verwechseln es mit dem Hakenkreuz, aber das ist Unfug», fügte sie altklug hinzu, «die Swastika ist schon sehr viel älter.»
«Das stimmt», pflichtete ihr der junge Mann bei. «Es gibt sehr viele dumme Menschen, die hinter dem Guten immer das Böse vermuten.»
Er wischte sich über den Ärmel seines Jacketts, als hätte ein Vogel ihn beschmutzt. Streng sah er in den Himmel, als könnte er da oben irgendwo den Übeltäter entdecken.
‹Komisch, dass er an einem so warmen Tag ein Jackett trägt›, dachte Lotta. Er wirkte überhaupt viel zu fein für diese kleine Stadt. Und ein wenig traurig. Wie ein Bräutigam, dem die Frau weggelaufen war. Fast empfand sie so etwas wie Mitleid. Sie spürte, dass er kein rechtes Wort des Abschieds fand. Erwachsenen musste man immer beistehen.
«Ich muss weitermalen!» Sie war sich ihres kindlichen Tonfalls bewusst.
«Je kindlicher du dich gibst», hatte die Oberin sie ermahnt, «desto leichter wirst du unterschätzt und desto größer wird deine Macht über sie sein.»
«Wir sehen uns bald wieder», flüsterte er ihr zu.
‹Er hinkt ein wenig›, dachte sie, als er langsam davonging. Komisch, irgendetwas an ihm war komisch, ohne dass man darüber lachen konnte. Die Welt da draußen war voller Wahnsinniger.