Читать книгу Führerin - Gregor Eisenhauer - Страница 14
Freitag, 9. März, 7 Uhr
Claasens Wohnung
ОглавлениеDie Tage begannen immer gleich. Er wachte auf, starrte an die Decke und wünschte sich einen Hund. Einen kleinen, niedrig gewachsenen Collie, der pflegeleicht war und intelligent, und ihm einen Grund gab, aufzustehen und vor die Tür zu gehen.
Es gab keinen. Es gab keinen Hund. Und es gab keinen Grund aufzustehen. Absolut keinen einzigen verdammten Grund.
Seine Hand ging instinktiv zur Seite. Klopfte auf die Bettdecke neben ihm. Er wollte sich vergewissern, dass da niemand lag. Natürlich wusste er absolut sicher, dass da niemand lag. Seit Jahren schon nicht.
An einem Freitag dem Dreizehnten hatten sie sich getrennt. Das waren so die Scherze, die das Schicksal für ihn parat hielt. Heute war Freitag, heute war nicht der Dreizehnte. Aber er fühlte sich so. Folglich hatte er das gute Recht, sich einfach auf die Seite zu drehen und den Tag zu verschlafen. Obwohl er nicht müde war. Im Gegenteil. Er war hellwach. Wie immer, wenn er an Alina dachte. An die sieben guten Jahre, an die sieben schlechten und an die sieben, von denen er nicht mehr allzu viel erinnerte. Er hatte sich wie ein Vollidiot benommen, damals, aber das war nicht das Problem. Das wussten alle und er selbst wusste es am besten. Das war nicht das Problem. Das Problem war, er wusste nicht warum. Kein Therapeut, kein Freund hatte ihm das je erklären können. Alina hatte ihn oft ganz aufrichtig verwirrt angesehen, weil sie einfach nicht damit klarkam, dass er so leicht von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde wechseln konnte, ohne Vorwarnung, einfach so, schnipp.
Das waren die schlimmsten Momente gewesen. Wenn sie ihm ganz still, ohne Vorwurf, in die Augen sah und sich im Geheimen fragte, warum er ihr beider Leben zur Hölle gemacht hatte. Er wusste es nicht.
Hans im Glück. Alles war gut. Never ending success! Er war einer der besten Reporter des Landes, mehrfach ausgezeichnet, Großverdiener, auch dank einiger Bücher, die er so nebenher geschrieben hatte. Er liebte die schönste Frau der Welt, zählte jeden Morgen ihre Sommersprossen und dankte ihr für die kluge Tochter, die sie ihm geschenkt hatte. Zu klug vielleicht, aber in den ersten Jahren gab es nichts Schöneres, als sich seltsame Antworten auf ihre seltsamen Fragen auszudenken.
Sie wohnten in einer wunderschönen Altbauwohnung in Mitte, dritter Stock, Sonnenseite, in einem Haus, in dem sich die Nachbarn noch kannten. Sie hatten Freunde, gute Freunde, sie besaßen ein Haus auf dem Land, ein kleines, sie hatten alles, aber es war nicht genug.
Es war nicht genug gewesen für sie, es war nicht genug gewesen für ihn. Sie schliefen regelmäßig miteinander, es war keine Pflicht, es war Spaß. Den Spaß, den man hatte, wenn man sich «Manche mögen’s heiß» zum zwanzigsten Mal ansah. Dass sie ihn betrog, merkte er erst spät. Zu spät, dachte er immer, aber das war gar nicht das Problem gewesen.
«Mach da kein Drama draus», hatte sie gesagt.
«Mach da kein Drama draus!»
Er hatte sie geliebt vom ersten Moment an. Sie war die Morgensonne auf dem Friedhof seines Herzens, genau so hatte er sich ausgedrückt, als er sie im Brecht-Keller zutextete mit seiner Liebe, die er sich durch Worte begreiflich machen musste. Unzählige Worte. Er hatte es nicht für möglich gehalten, dass so ein Glück auf der Welt für ihn zu finden war. Und so ein Unglück, wie er später lernen musste. Dass sie damals nicht davongerannt war, hatte ihn im Nachhinein ziemlich erstaunt.
«Ich hab mich wahnsinnig amüsiert», entgegnete sie immer, wenn er sie darauf ansprach, «und wahnsinnig geschmeichelt gefühlt. Du warst Mr. Big und ich Mrs. Doolittle, aber die Sprechrollen waren genau andersrum an dem Abend. Ich hätte nie gedacht, dass ein Mann sich schon beim ersten Mal so lächerlich machen kann. Aber ehrlich gesagt, anders hättest du mich auch nie rumgekriegt!»
Er war fünfzehn Jahre älter als sie, zwei Wochen nach seinem einundvierzigsten Geburtstag hatte er sie kennengelernt. Ein Seminar für computergestützte Recherche, wie es damals so schön hieß, einer dieser Nebenbei-Jobs, die er besonders gern mitnahm, weil meist noch eine Bettgeschichte mit raussprang. Sein einundvierzigster Geburtstag und er hatte bis dahin keine Beziehung gehabt, die ein Erinnern wert gewesen wäre. Nicht einmal das Scheitern all der Affären war erinnernswert. Nichts, nada, nothing.
Plötzlich stand sie da und er wusste, er wollte ein Kind, ein Zuhause, eine Zukunft. Und als er all das hatte, trat er es mit Füssen. Es war Größenwahn. Er war einfach größenwahnsinnig geworden. Das schöne Gefühl, geliebt zu werden, das ihn anfangs so sacht gewärmt hatte, weil seine Kleingläubigkeit die Flamme nur leicht züngeln ließ, war zum verzehrenden Feuer geworden.
Er wollte ihr die Welt zu Füssen legen, fremde Länder erobern, Ruhm und Reichtum anhäufen, Troja besiegen. Er war durchgeknallt. Die ersten Jahre war das wunderschön. Sie lebten wie im Rausch. Dann war da irgendwann nur noch der Rausch. Sie fand zurück in den Alltag. Er nicht.
Sie bekam ein Kind, ihr Kind, das war von Anfang an klar, es war ihr Kind, nicht ihr gemeinsames, sondern ihr Kind. So empfand er es. Er war plötzlich außen vor. Gerade noch waren sie König und Königin in ihrem ganz eigenen Reich gewesen und plötzlich war da die Prinzessin, die Anspruch auf alles und jeden erhob.
«Was für ein süßes Kind», sagte jeder, «was für eine wunderschöne Mutter», lobten selbst Frauen – und was für ein überflüssiger Vater, dachte er sich, wenn er dem Schauspiel Mutterschaft mal wieder als untätiger Zuschauer beiwohnte.
Er hatte keine Chance. Alinas Verbundenheit mit Martina war Liebe von einer Art, die er nie gekannt hatte, nie kennen würde. Die beiden waren eins. Es war nicht einmal Böswilligkeit, dass er außen vor blieb, es war selbstverständlich. Das sah er genauso.
Er stürzte sich in die Arbeit, schrieb einen Roman, ging auf Lesereise, fing sein altes Leben wieder an, das er so gar nicht vermisst hatte. Er schlief mit Frauen, verabschiedete sie ohne Bedauern, trank gelegentlich zu viel, einfach so aus Spaß, trank täglich zu viel. Niemand sprach ihn darauf an.
«Mach da kein Drama draus», hatte sie gesagt. Es war an einem Dreizehnten gewesen, als sie ihm ihr Geständnis machte, billige Ironie des Schicksals. Ein Arbeitskollege aus ihrer Redaktion, er kannte ihn, ein smarter Vollblutsportler, der jährlich zum Tiroltriathlon antrat und den Rest seiner Freizeit mit seinem I-Pad verbrachte. Einer dieser Idioten, den er ohne Zögern zum Abschuss freigegeben hätte und den er sich jetzt beim Sex mit seiner Frau vorstellen musste. Im Büro, bei ihm zu Hause.
«Auch hier, in unserem Schlafzimmer?»
Ihr Blick verbot ihm, sich weiter in seinem Schmerz zu suhlen. Aber was sonst sollte er tun?
«Er oder ich!» Die Forderung lag ihm damals auf der Zunge, aber er konnte sie nicht ernsthaft stellen. Er hatte Angst. Er oder ich. Das bedeutete: Einer von beiden würde alles verlieren, einer würde alles gewinnen. Der Fifty-fifty-Joker. Die Fratze des Teufels. Er hatte Angst. Er hatte Angst, alles zu verlieren. Martinas Lachen beim Frühstück, wenn er mal wieder eine ihrer Hausaufgaben nicht verstand, Alinas sanftes Streicheln über seinen Hinterkopf, wenn er das Haus verließ, die Wärme des Zusammenseins an Sonntagen, die jeder ganz für sich verbrachte. Er wollte sie nicht verlieren.
«Das war genau das Falsche damals. Dass du so feige warst. Dann dieses Gesaufe, das Rumvögeln. Ich habe mich vor dir geekelt.» Das spürte er selbst, dass er falsch reagiert hatte. Er hätte schreien können, sie vor die Wahl stellen sollen, er hätte ein, zwei Monate das Haus verlassen müssen und dann den Neubeginn wagen können, stattdessen war er geblieben und ihr gemeinsames Leben zerbröselte einfach so.
Martina zuliebe waren sie zusammengeblieben, Gewohnheit war ein Band, Hass, Lust an der Zerstörung. Es war Rosenkrieg. Es war schlimmer als Krieg, denn selbst ein Waffenstillstand war nicht mehr denkbar. Einer von beiden musste dran glauben. So groß die Liebe gewesen war, so groß die Schuld desjenigen, der sie aufs Spiel gesetzt hatte. Das war eindeutig er gewesen. Martina war ganz klar aufseiten Alinas. Seine Freunde waren ganz klar aufseiten Alinas.
Gott und die Welt waren aufseiten Alinas. Nur Jack Daniels war auf seiner Seite. Aber auch nur, solange er genug Kohle hatte.
«Dein verdammtes Selbstmitleid!» Er zog sich die Bettdecke über den Kopf und warf sie dann mit einem Schwung beiseite. Kalte Dusche, bis einundfünfzig zählen, Liegestütze, bis einundfünfzig zählen, Kniebeugen. Er hielt das Sportprogramm aus der Entzugsklinik eisern bei. Er wusste nicht wozu, aber er wusste, er durfte nicht lockerlassen.
Eine Kanne grünen Tee zum Frühstück, dann wahlweise fünf Kilometer im Tiergarten joggen oder eine halbe Stunde Schwimmen. Zeitungslektüre in seinem Stammcafé. Früher wäre das für ihn der ideale Beginn eines Tages gewesen. War es ja auch. Andere beneideten ihn darum. Er beneidete sich auch, für die Zeit damals, die ersten Jahre mit Alina.
Sie verweigerte jeden Kontakt. Das konnte er gut verstehen, aber als er noch soff, hielt er sich natürlich nicht daran. Es fehlte wenig und er hätte vor ihrer Wohnung campiert. Sie lebte allein, das wusste er, sie hatte eine Beziehung, auch das wusste er, nicht den Tiroler Triathleten, das war schon lange aus, nein, irgendeinen Langweiler aus der Rechtsabteilung des Senders, für den sie seit einigen Jahren arbeitete.
Sie war eine gute Redakteurin, sie sah besser aus denn je, sie hatte Erfolg, Freunde, warum sollte sie ihn sehen wollen?
«Warum sollte Mum dich sehen wollen», das hatte Martina auch immer gefragt und natürlich wusste sie, welche Antwort die richtige Antwort gewesen wäre.
«Glaubst du, sie würde dir je glauben, dass du ein anderer geworden bist. Das wird sie dir niemals glauben, Paps. Das wird dir niemand glauben, nie. Ich auch nicht.»
Das meinte sie nicht böse. Das meinte sie einfach nur ehrlich. Martina hatte diesen Willen zur absoluten Ehrlichkeit. Deshalb war sie auch Reporterin geworden, was er ihr immer hatte ausreden wollen.
«Das ist ein Scheißjob, wenn du ihn ernst nimmst, und es ist erst recht ein Scheißjob, wenn du ihn nicht ernst nimmst. Niemand liebt dich dafür, aber alle werden dich hassen!»
Sie hatte nicht auf ihn gehört. Sie hatte es sich geradezu zum Prinzip gemacht, niemals auf ihn zu hören. Sie war eine treue, liebende, perfekte Tochter gewesen in all den Jahren, als er unzurechnungsfähig gewesen war, und auch in der Zeit danach, hatte sie sich regelmäßig um ihn gekümmert. Obwohl kein Anlass mehr zum Mitleid gegeben war. Aus Liebe tat sie es nicht. Sie tat es aus Pflichtgefühl. Sie sah in ihm den Vater, den es zu umsorgen galt, weil er ihr Vater war. Ein Pflicht der Natur, keine Sache des Herzens.
Was seine Arbeit anbelangte – da hielt sie sich ganz und gar fern. «Du machst dein Ding, ich mach meins.»
Immer wieder hatte er ihr vorgeschlagen zusammenzuarbeiten, ein gemeinsames Buch zu schreiben, gemeinsam Reportagen zu recherchieren, was auch immer, Hauptsache gemeinsam. Aber sie wollte es allein schaffen. Zwei Jahre ging sie nach Amerika, dann kam sie zu «Online». Er hatte längst keine Aussicht mehr auf einen neuen Vertrag, aber einfach so ignorieren konnte man seine Empfehlung auch nicht. Es war kein Liebesdienst, sie zu empfehlen, er hätte sie jederzeit angestellt, auch wenn sie die Tochter des Tiroler Triathleten gewesen wäre.
Das sah sein Chef auch so. Kehrtmann war gar nicht so verkehrt. Er hüstelte verlegen über seinen schlechten Kalauer. Jedenfalls hatte er ihrer Einstellung sofort zugestimmt.
Ihre Art zu schreiben war einzigartig. Truman Capote hatte das anfangs gekonnt, als ihn der Suff und der Größenwahn noch nicht in die Knie gezwungen hatten. Fakt und Fiktion verschmelzen. Poesie denken, aber Prosa schreiben. Nüchtern, sachlich näherte sie sich den Themen, aber mit einem so großen Einfühlungsvermögen, dass selbst ein Serienmörder menschliche Züge bekam – wenn sie es nur wollte.
Aber dafür hatte sie einen hohen Preis zahlen müssen. Er war sich sicher, dass ihre Krankheit die Folge ihres Hangs zu kranken Themen war. Bosnische Vergewaltiger, albanische Mädchenhändler, deutsch-italienische Mafiosi, sie ließ ja nichts aus. Kein noch so krankes Thema. Aus Ekel war sie krank geworden. Aber wer wollte ihr das sagen, jetzt, da sie es schon wieder sich und ihm und Gott und der Welt beweisen musste, dass sie die Beste war. Es gab nur eine Chance, sie vor sich selbst zu retten, er musste ihr zuvorkommen. Und diesmal hatte er ein paar mehr Trümpfe in der Hand als gewöhnlich.