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Freitag, 9. März, 12 Uhr
von Hausens Villa im Grunewald
ОглавлениеEr hasste seinen Vater. Er hasste seinen Vater auf eine so leidenschaftliche Weise, dass er manchmal selbst davor erschrak. Wenn er zurückdachte, war da nie ein anderes Gefühl gewesen. Seine früheste Erinnerung war, wie sein Vater ihm das Gesicht mit Schnee wusch. Er hatte geweint, weil ihm so kalt auf dem Schlitten war. Jahr für Jahr fuhren sie im Winter in den Schwarzwald. Sie wohnten in einem muffigen Holzhaus in einem finsteren Tal mit endlosen Tannenwäldern, durch die sie stundenlang wandern mussten. Sein Vater zog den Schlitten und abwechselnd durften sich er, seine Schwester oder sein Bruder darauf setzen. Das tat er allerdings nicht ihnen zuliebe. Das tat er der Kräftigung seines Organismus wegen. So drückte er sich aus. Kräftigung des Organismus. Stärkung des Lebenswillens. Unangreifbarkeit der Psyche. Hörte man ihm zu, befand man sich automatisch im Kriegszustand mit Gott und der Welt. Wobei, Gott gab es im Universum seines Vaters nicht, wie er schon bald herausfand. Er wäre nämlich gern in den Religionsunterricht gegangen. Aber er war nicht getauft.
«Warum bin ich nicht getauft?», hatte er seine Mutter gefragt.
«Wende dich an deinen Vater!», hatte sie nur entgegnet.
«Wende dich an deinen Vater», hatte er höhnisch ihre Worte wiederholt, wieder und wieder, «wende dich an deinen Vater!»
Er hatte tatsächlich all seinen Mut zusammengenommen, war – nachdem er pflichtschuldigst angeklopft hatte – ins Arbeitszimmer seines Vaters getreten und hatte ihn gefragt: «Warum bin ich nicht getauft?»
Sein Vater thronte hinter dem Schreibtisch und musterte ihn kalt. Er trug einen dunklen Anzug, wie immer, eine dunkle Krawatte und schnippte sich eine imaginäre Fluse vom Jackettärmel.
Im Laufe der Jahre verstand Helmar, was diese Geste wirklich bedeutete. Dieser Reinigungsimpuls galt ihm. Wann immer sein Vater ihn sah, wischte er irgendeinen unsichtbaren Partikel von seinem Anzug. Als wollte er ihn zum Verschwinden bringen.
Anfangs war er über die Frage fast verzweifelt, was genau sein Vater nicht an ihm mochte. Er tat alles, was ein kleiner Junge tun konnte, um seinem Vater zu imponieren.
Er trug eine ernste Miene zur Schau, benahm sich schon im Kindergarten wie ein Erwachsener, lachte so gut wie nie, redete altklug daher, erwog ein Jurastudium – und hörte doch nie ein gutes Wort. Seine Mutter war ihm gleichgültig. Sie war einfach eine Unperson. Vielleicht äffte er auch da schon seit Kindheitstagen seinen Vater nach. Bewusst war es ihm nicht. Seine Mutter zu verachten, schien ihm ein so natürliches, ein so zwingendes Gefühl, dass er nicht weiter darüber nachdachte.
Als er dann mitbekam, wie absichtsvoll und publikumsgeil sie seinen Vater betrog, war sie vollends für ihn gestorben. Seinen Geschwistern erging es ähnlich. Es war verrückt. Anstatt auf sie als Beistand zu hoffen, verfluchten sie gemeinsam ihre Anwesenheit in diesem Haus. Obwohl sie immer gut zu ihnen gewesen war. Sie umsorgt hatte. Sich um ihre Liebe bemühte. Die sie nie bekam. Weil sie ihr alle diesen Vater verübelten.
Was für ein Elternhaus! Außenstehende konnten nicht ahnen, welche Hölle ihr Leben war. Eine kalte Hölle.
Er hatte angefangen, täglich in der Bibel zu lesen. Das einzige Buch, in dem er eine Antwort finden konnte. Er wusste nicht, warum er sich da so sicher war. Vielleicht weil er jede Nacht gebetet hatte, dass da einer sein möge, der mächtiger war als sein Vater. Mächtiger und ein wenig gütiger.
«Gott ist gütig», hatte ihm ein Zeuge Jehovas vor dem Bahnhof Zoo anvertraut, «Gott ist gütig.»
Er hielt diese Broschüre wie eine Mahntafel weit von sich gestreckt und murmelte immer nur den gleichen Satz: «Gott ist gütig.» Helmar hatte lachen müssen über diesen seltsamen Mann mit seiner schlichten Botschaft, aber die Botschaft blieb in seinem Hirn, mehr noch, es war die einzige Botschaft, die je bis zu seinem Herzen vorgedrungen war.
«Gott ist gütig!»
Mit fünfzehn Jahren hatte er die Bibel von der ersten bis zur letzten Zeile durchgelesen. Er verstand nicht alles, aber er war sich sicher, es irgendwann verstehen zu können.
Was er sehr genau verstand war, dass sein Vater ins Alte Testament gehörte. Für ihn war Jesus nicht gestorben. Für ihn war er nicht geboren worden.
«Warum bin ich nicht getauft worden?»
Es war selten, dass sein Vater Erstaunen zeigte. Als er ihm damals diese Frage gestellt hatte, war mehr als Erstaunen in seinem Gesicht zu lesen gewesen, es war Erstaunen gepaart mit einer abgrundtiefen Verachtung.
«Warum du nicht getauft worden bist?» Sein Vater musste die Frage offensichtlich wiederholen, um sich ihren Sinn verständlich zu machen.
Helmar stand und wartete. Es war klar, dass sein Vater ihm keinen Stuhl anbot. Die beiden Stühle, die da vor dem Schreibtisch standen, waren nur für Klienten. Es war auch absehbar, dass er ihn wie einen rückfälligen Straftäter einige Minuten stumm vor dem Schreibtisch stehen lassen wollte, damit er sich seiner Schuld bewusst wurde.
Der Schuld, seinen Vater gestört zu haben, der Schuld, sich eine unaussprechlich dumme Frage ausgedacht zu haben, der niemals zu tilgenden Schuld, diese Frage auch noch laut gestellt zu haben. Vor allem aber: der Schuld der Anwesenheit.
Er blickte sich Hilfe suchend im Zimmer um, während sein Vater ihn kalt fixierte. Er war selten in diesem Raum. Sein Vater schloss ihn nie ab, aber es verstand sich von selbst, dass die Kinder darin nichts verloren hatten.
Es war ein gewaltiger Schreibtisch, hinter dem er thronte, ein Erbstück des Großvaters, von dem Helmar nur wusste, dass er ein Nazi gewesen war. Geredet wurde nie darüber, aber es gab diesen kurzen Artikel in Wikipedia, der wenig mehr als seinen damaligen Rang mitteilte. Auf dem Schreibtisch standen eine massive gusseiserne Lampe und ein Briefbeschwerer aus Marmor, wohl auch ein Erbstück, denn er wirkte sehr klobig und sehr bedrohlich. Helmar mochte diesen Briefbeschwerer aus einem ganz einfachen Grund, er hatte sich schon oft vorgestellt, seinem Vater damit den Schädel einzuschlagen, und es war jedes Mal ein gutes Gefühl gewesen, dass es da etwas Härteres gab als den Dickkopf seines Vaters.
Sein Vater klappte den Laptop zu, er hatte immer das neueste Modell, immer einen Toshiba, die Marke der Samurais!, und dennoch hatte man das Gefühl, dass er sich bei jedem Auf- und Zuklappen darüber ärgerte, dass es keinen deutschen Computerhersteller gab.
Von sich aus wäre Helmar nie auf die Idee gekommen, heimlich in dieses Arbeitszimmer einzutreten, obwohl es der einzige Raum im Haus war, in dem Bücher standen. Seine Schwester las nicht, sein Bruder blickte nie von seinem Laptop hoch, so kam es ihm zumindest vor. Und er selbst las nur in der Bibel, die er in seinem Sportrucksack verbarg. Aber er wollte wissen, was sein Vater las, was er dachte, was er fühlte. «Unser Vater?» – sein Bruder hatte ihn bei der Frage angesehen, als wäre er irrsinnig. «Was unser Vater denkt oder fühlt oder macht oder kackt, ist mir scheißegal. Wenn du es unbedingt wissen willst, dann würde ich nicht auf seine Bücherwand starren, sondern seinen Laptop klauen!»
Als sein Vater auf einer seiner Auslandsreisen war, hatte er systematisch das Arbeitszimmer untersucht. Er wusste, es gab einen Safe hinter dem absurd kitschigen Heidebild links an der Wand, aber da war kein Rankommen. Er nahm alle Bände der Bücherwand rechts einzeln aus dem Regal, aber da war nichts, kein Kuvert, keine versteckten Zeitungsausschnitte, keine heimlichen Andenken. Nichts. Sauber aufgereiht standen die deutschen Klassiker in einer edlen blauen Leinenausgabe, unberührt. Er hätte schwören können, dass sein Vater nie einen Band davon in der Hand gehabt hatte. Das Gleiche galt für die Lexika. Ein deutsches, ein englisches und ein französisches. Wunderbar schwere Bände, nie angefasst. Dann hatte er sich den Schreibtisch vorgenommen. Sein Vater hatte nichts abgeschlossen. Er war sich wohl sicher, dass seine Kinder es nie wagen würden, seine privaten Sachen zu durchstöbern. Als Helmar alles durchgesehen hatte, war er sich auch klar darüber, warum sein Vater sich so sicher sein konnte. Es gab nichts Privates. Kein Bild, kein privater Brief, keine Pistole, nichts. In der einen Schublade Briefumschläge, in der anderen diverse Schreibutensilien, mehr nicht. Dieser Mann legte es darauf an, keine Spuren zu hinterlassen, aber warum hatte er dann Kinder gezeugt?
«Gott ist eine Ausrede. Eine Ausrede der Schwachen für ihre Schwäche.»
Sie hatten sich eine Weile unverwandt angestarrt. Sein Vater mit der gelangweilten Gelassenheit eines Richters, der sein Urteil längst gefällt hatte, weil er den Delinquenten in- und auswendig kannte. Er selbst mit dem ängstlichen Willen, ihm einmal, nur ein einziges Mal standhalten zu können.
Er hatte den Blick senken müssen. Als er nach einer Weile wieder aufsah, mühsam die Tränen unterdrückend, sah er den höhnischen Gesichtsausdruck seines Vaters. ‹Schwächling!› Dieser Gesichtsausdruck war nicht schwer zu übersetzen. «Mein Sohn ist ein pickliger Schwächling!»
In diesem Moment schwor sich Helmar, seinem Vater zu schaden, wo und wann immer er konnte.