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Freitag, 9. März, 8 Uhr
Lottas Schulweg

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Lotta hasste ihre Lehrer. Sie hasste ihre Mitschüler, sie hasste Berlin, sie hasste ihre Mutter, immer dann, wenn sie Fleisch aß. Sie hasste ihre Sportlehrerin, weil sie eine verdammte Sklaventreiberin war und nicht einsah, dass sie keine Lust auf Schwitzen hatte. Das war eklig. Sie hasste ihre Freundin Rena, weil sie immer dicker wurde und nur von Jungs erzählte. Sie hasste Vampire, sie hasste Amy Winehouse, weil sie sich so zugrunde gerichtet hatte. Sie hasste Drogen, Alkohol, Zigaretten, Hundescheiße auf der Straße, Fahrradfahrer auf dem Gehweg, bettelnde Penner und alle Politiker, weil sie nichts unternahmen gegen die Geldgier der Reichen.

Sie hatte sich eine kleine Kladde angelegt, «Mein Hassbuch», in das sie alles eintrug, was sie verabscheute. Das war eine Menge, stellte sie befriedigt fest, nachdem sie über fünfzig Einträge gezählt hatte. «Du kannst stolz sein auf jeden Feind, denn nur die Starken suchen sich Gegner, nur die Schwachen Freunde!»

Sie hatte lange über den Satz nachdenken müssen, und über die Menschen, die sie kannte, die alle viel zu feige waren und keinen einzigen Gegner hatten, nur Freunde.

Ihre Freundin Rena wollte sich überall nur beliebt machen, und genau das Gegenteil war der Fall und aus Kummer wurde sie immer fetter und fetter.

Ihre Mutter war auch nicht sehr stark, obwohl sie immer so tat. Klar, sie wusste, dass sie eine Menge am Hut hatte und dass es nicht einfach war für eine alleinerziehende Mutter, aber es hatte sie ja keiner dazu gezwungen.

«Warum hast du mich denn damals bekommen, obwohl du ihn gar nicht mehr geliebt hast?»

Becky war total baff gewesen, als sie ihr die Frage gestellt hatte. Das hätte sie nicht erwartet, dass ihre Tochter so plötzlich erwachsen wurde. Viel zu schnell erwachsen.

«Was für eine Frage!», wich sie aus.

«Warum denn, warum denn?», blaffte Lotta böse zurück. Sie wusste, sie hatte das Recht auf eine Antwort.

Ohne den Orden hätte sie sich das allerdings nie getraut, ihrer Mutter so zuzusetzen. «I’ve got the power!», summte sie. Ein ziemlich gutes Gefühl, das sie bis dahin nicht gekannt hatte. Als sie das erste Mal in die Community kam, dachte sie, was für ein abgedrehter Film: «New Virgins.»

Den Link hatte ihr eine Veganerin zugeschickt. «Wenn du wirklich ernst machen willst mit dem Kampf gegen die Fleischfresser, Kannibalen und Blutsaufer, geh da mal hin.»

Erst war es gar nicht so leicht, Zutritt zu bekommen. Sie brauchte eine Patin und nachdem die sie empfohlen hatte, musste sie eine lange Liste mit ziemlich direkten Fragen beantworten.

Worüber sie gern nachdachte, was sie gern las, was ihre Eltern gern lasen, wann sie das erste Mal gelacht hatte, wann sie das erste Mal geweint hatte. Da waren schwierige Fragen darunter und ganz einfache und es war total spannend gewesen, darüber nachzudenken. Sie wusste noch genau, wann sie das erste Mal gelacht hatte, aus vollem Hals und so laut, dass ihre Mutter schon Angst bekam, sie würde an dem Lachen ersticken.

Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren war Becky mit einem kleinen süßen Kater angekommen, Karl-Heinz hatte sie ihn getauft, was natürlich total süß war, weil kein Kater hieß Karl-Heinz, der aber schon, denn er sah aus wie Karl-Heinz. Ein rot gestreifter kleiner Tiger, gar nicht so billig eingekauft bei einer ziemlich armen Frau in Hellersdorf, die sich das Katzenfutter nicht mehr leisten konnte.

Sie hatte ihre Mutter damals mitleidig angesehen. Becky fiel immer auf solche Geschichten rein. Sie gab jedem Penner einen Euro, jedem Musikanten zwei und jeder alten Frau, die nach Alkohol stank, einen lieben Blick. Sie war schwach. Sie fand für alles und jeden eine Entschuldigung.

«Entschuldige dich niemals!», war eine Ordensregel, die ihr sofort eingeleuchtet hatte, weil sie an ihre Mutter denken musste. Die entschuldigte sich für alles und jeden.

«Was sollen wir denn mit einer Katze?», hatte sie damals gefragt. «Na, was wohl? Wir wollen sie knuddeln und lieben und in Ehren aufwachsen sehen. Ist er nicht total süß!» Genau in dem Moment, als sie das sagte, hatte sich Karl-Heinz seltsam breitbeinig auf Beckys Lesesessel gesetzt, war einmal mit dem Hintern hin und her geschrubbt und hatte dann gepieselt und gepieselt. Becky war schockstarr und Lotta hatte lauthals lachen müssen, sie konnte gar kein Ende mehr finden. Das war so typisch für ihre Mutter, so was von typisch. Sie hatte einfach immer Pech. Aber das konnte sie keinem anderen ankreiden als sich selbst. Sie war einfach zu schwach. Die Schwester Oberin hatte es ganz einfach und klar formuliert: «Versager versagen nicht weil die anderen es wollen, sondern weil sie es selbst wollen. Sie wollen versagen, sie wollen ihr Versagen eintauschen gegen Mitleid.» So wie ihre Mutter ihren Kummer eintauschen wollte gegen Zärtlichkeiten. Aber Lotta hatte ihr jeden Körperkontakt untersagt. Sie war ansteckend. Die Schwäche ihrer Mutter war ansteckend. Das hatte auch die obere Schwester gesagt und die Schlussfolgerung war ganz klar und einfach: Halte dich fern von denen, die nicht so sind wie du.

Nachdem sie damals den Fragebogen ausgefüllt hatte, dauerte es fast einen ganzen Monat, bis sie Zutritt zum ersten Kreis der Novizen erhielt. Ihr Passwort war «Strength», was sie anfangs ein wenig albern fand, eher etwas für Jungs und «World of Warcraft», und sie hatte schon Angst, dass sie in ein komisches Spiel geraten war, in dem sich Avatare um irgendwelche geheimen Schätze balgten, aber es war ganz ernst. Jeder konnte sich einen Namen geben oder unter seinem eigenen mitarbeiten. Lotta nannte sich Lilith, der Name hatte ihr schon immer gefallen, das wäre ein viel schönerer Name für sie gewesen, irgendwie geheimnisvoller.

Lilith war eine Göttin, die einem Baum entsprungen war, das passte gut zu ihr. Sie kam sich auch vor wie aus einem Baum entsprungen. Sie liebte Bäume und manchmal, wenn kein Mensch in der Nähe war, umarmte sie Bäume. Es war ein gutes Gefühl. Es gab ihr viel mehr Kraft, als wenn sie einen Menschen umarmte.

Das hatte sie noch nie jemand gesagt, aber mit den anderen Novizinnen konnte sie über alles reden. Es ging vielen so wie ihr. Sie liebten die Pflanzen und die Blumen. Sie mochten kein Fleisch. Keine lauten Menschen. Keine Sonne, die zu hell brannte.

Lotta trug immer eine Sonnencreme mit hohem Lichtschutzfaktor. «Ich will nicht schmutzig werden.»

Ihre Mutter hatte das für einen dummen Scherz gehalten. «Du wirst doch nicht schmutzig, wenn du braun wirst. Was ist das denn für ein Unsinn?!»

«Das ist kein Unsinn», hatte sie wütend entgegnet, «sieh dir doch diese braunen Menschen an. Wie schmutzig das aussieht!»

Ihre Haut blieb blass wie Porzellan, das fand sie schön. Ihre Mutter hingegen starrte sie zuweilen an, als fürchtete sie um ihre Gesundheit und ihren Verstand.

Aber das ist normal, hatte die Schwester Oberin geschrieben, die anderen verstehen das nicht. «Sie verstehen dich nicht! Rede mit ihnen wie mit Kindern, denn sie verstehen es nicht und werden es nie verstehen, was gelebte Reinheit ist!»

Gelebte Reinheit, das war das Wort, auf das sie gewartet hatte, gelebte Reinheit, das hatte sie immer gewollt, auch als sie es noch nicht so hatte sagen können.

«Danke, obere Schwester», hatte sie damals nur geschrieben, «danke.» In der Woche darauf war sie in den nächsten Kreis aufgenommen worden, den Kreis der tätigen Engel, und als Zeichen ihres Fortschritts war ihr ein Brief zugestellt worden, mit einem Rosentattoo, das sich sanft auftragen ließ und zur Not auch wieder abbürsten, aber sie wollte es nie mehr abbürsten, sie wollte es für immer tragen. Denn von nun an war sie nie mehr allein, ganz gleich, was ihre Mutter darüber denken mochte. Die war ihr egal. Und vielleicht, vielleicht konnte sie ja bald ohne sie leben! Die Schwester Oberin hatte so etwas angedeutet. Dann könnte sie endlich zu Heloise ziehen!

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