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VORURTEILE

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§ 1 Nun hatte der Mächtige sich von der Politik zurückgezogen, war sehr alt geworden und zunehmend krank; der Kaiser hatte ihm eine Art Hausarrest auferlegt, und nun war ihm ganz klar: jetzt mußte er das Meisterwerk schaffen, auf das er sich ein Leben lang vorbereitet hatte, und er schrieb das Werk, das bis heute wirkt: die ›Briefe‹. Und als der Kaiser, den er erzogen und geführt, geschützt und beraten hatte, ihm am Ende den Befehl zusandte, sich zu töten, da sagte er zu den Freunden, die ihn in der letzten Stunde nicht verlassen hatten, er vermache ihnen das „Bild seines Lebens“.1 Muß er es nicht als lauter empfunden haben? In jenem Meisterwerke und auch sonst hatte er gefordert, das Leben des Philosophen müsse mit seinen Worten übereinstimmen (ep. 75,4) – tat es das auch in seinem Falle? Wer solches fordert, muß sich diese Frage stellen lassen.

§ 2 Und hier scheiden sich die Ansichten, sie scheiden sich aufs schärfste. Doch wovon gehen die Ansichten aus? Was weiß man über das Leben dieses Mannes denn überhaupt? Wenig, und dieses wenige hat sehr verschiedene Bewertungen erfahren; wie gesagt, die Ansichten klaffen weit auseinander. Pierre Grimal und diejenigen, die ihm folgen, z.B. auch Prinz Löwenstein,2 sehen in Seneca einen Mann, der alle Strömungen seiner Zeit, einschließlich des Christentums, bewußt oder unbewußt in seinem Werk sich widerspiegeln lasse. Ganz anders Miriam Griffin: die Nachrichten über sein Leben rönnen so spärlich, daß nur wenige Geschehnisse in seinem Leben rekonstruierbar seien; und so verzichtet die englische Gelehrte denn auch in ihrem Buche darauf, eine kontinuierliche Biographie zu schreiben. Dieses Dilemma wird dann zur Konfusion, nimmt man Marc Rozelaars psychologische Betrachtungsweise noch hinzu: ein Krankheits- und Persönlichkeitsbild ist hier entworfen, das noch mehr von dem, was man für gesichert hielt, als zweifelhaft erscheinen läßt, z.B. das gute und liebevolle Verhältnis zu dem Vater.3 Und doch: eben in diesem Dilemma, genau in dieser Konfusion liegt das erste gesicherte Ergebnis, nämlich dies, daß Seneca in seinen Schriften so gut wie nie von sich selber spricht, daß er so gut wie nirgends Angaben über Geschehnisse in seinem Leben macht. Der Mann, der unter Kaiser Tiberius aufwuchs, unter Kaiser Gaius prominent war und dann ins Abseits geriet, der unter Kaiser Claudius verbannt und dann zum Prinzenerzieher bestellt wurde, dieser Mann, der so viel erlebt hatte, er schweigt über sein Leben und Erleben so gut wie ganz. Er hat offenbar seine Vita im Sinne des bloß Biographischen geringgeachtet und für unwert befunden, viel von ihm in sein Werk eingehen zu lassen. Er nahm sich als Individuum nicht wichtig, und so muß jenes „Bild des Lebens“ etwas anderes meinen als die Biographie (s. § 298ff.). Was war es? Das wird sich später sagen lassen; hier genüge die dürre Feststellung, daß jenes Dilemma zwischen den gelehrten Meinungen seinen Grund in dem hat, was wir heute vielleicht die Bescheidenheit Senecas nennen würden (s. § 35 Ende, 43).

§ 3 Aber diese Meinung nimmt man heute nicht ohne Widerspruch hin, sie prallt vielmehr auf ein altes Vorurteil: auf das Vorurteil nämlich, dieser Mann sei ein Heuchler, sehr im Gegensatz zu seinen Worten sei er habgierig, machtversessen, unermeßlich reich und arrogant gewesen. Woher also (s. § 2 Anf.) diese Meinung? Ist sie gesichert? Worauf ist sie gegründet? Wenn wir danach fragen, sind wir schon mitten in der Untersuchung dessen, was andere über ihn gesagt haben, besonders Zeitgenossen oder doch solche, die nicht allzu lange nach seinem Tode lebten.4 Wenn Seneca selber schon so wenig über sich verlauten läßt, liefern dann wenigstens die Zeitgenossen verläßliche Nachrichten über diesen Mann? Sehen wir zu.

1 Tac. 15,62,1. Viele Züge dieses Bildes sind uns nicht bekannt, aber es ist gut, schon hier auf zwei hinzuweisen. Comitas honesta rühmt Tacitus (13,1,2; die Verbindung nur hier) an ihm; das nachgestellte Epitheton sollte auffallen, also: Freundlichkeit, aber sehr wohl innerhalb der Grenzen des Anstandes und fern der Anbiederung (vgl. “union of moral strength with social tact”, Syme, Tacitus [Oxford 1958] 551). Zweitens Plin. n.h. 14,51: minime utique mirator inanium, er war kein Bewunderer unwesentlicher Dinge.

2 H. Prinz zu Löwenstein, Seneca – Kaiser ohne Purpur, 1975. Zu diesem und anderen Büchern über Seneca aus neuerer Zeit Verf., Senecas Leben und Lehre, Jahrb. Braunschw. Wiss. Ges. 1985, 76.

3 Aus einer gewissen Bevorzugung des jüngeren Bruders („Du hattest eine größere Begabung als deine Brüder“, schrieb der Vater contr. 2, praef. 4) schloß Rozelaar 24f., 45ff. auf ein gespanntes Verhältnis Senecas zum Vater („Ambivalenz dem Vater gegenüber“, 48). Wenn seine Auslegung auch einer überscharfen Übersetzung von odisse in ep. 108,22 zum Opfer fiel (odi heißt nicht „hassen“, sondern meint den „inneren Widerwillen“, Heinze zu Hor. ep. 1, 16, 52; Nisbet-Hubbard zu c. 1,38,1), so ist die leise, sehr leise Kritik in Helv. 17,3f. nicht zu überhören.

4 Zu Tacitus’ Haltung Seneca gegenüber Griffin 441ff.: “None the less, for all his sympathy for and curiosity about Seneca the politician and stylist, there is a Seneca in whom Tacitus has no interest: the philosopher Seneca.” Zu Cassius Dio Griffin 428ff.: “The fragments of Dio’s history of the period indicate that it was, on the whole, hostile to Seneca.” Eine abwertende Haltung nimmt, allerdings sehr summarisch und ohne Diskussion, Colish 312 ein. Auch die Charakterisierung auf S. 314 läßt an Dürftigkeit nichts zu wünschen übrig.

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