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Die zweite Krise: Verbannung

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§ 33 Weltmann war Seneca inzwischen geworden, wie P. Grimal 42 treffend sagte; er hatte geheiratet, hatte mindestens ein Kind, einen Sohn (Helv. 2,5; Griffin 57–9), hatte Erfolg als Redner, doch dann wandelte sich die Zeit. Gaius war nun Kaiser, Gaius, den man den „Kommißstiefel“ nannte (Caligula). In ep. 49,2 erinnert Seneca sich an diese Zeit so: causas agere coepi, … desii velle agere, … desii posse; er begann als Gerichtsredner, dann hatte er keine Freude mehr daran, am Ende war es ihm verwehrt – wodurch?

Cassius Dio (59,19,7f.) berichtet für das J. 39 von Kaiser Gaius, der sich gern ein großer Redner genannt hörte (59,19,3 Ende), er habe vorgehabt, Seneca zu Tode zu bringen, nur weil dieser in seiner Gegenwart ein Plädoyer gut gehalten habe, und ohne daß Seneca sich irgend etwas sonst habe zuschulden kommen lassen. Der Kaiser habe sich dann aber von einer der Frauen, mit denen er Umgang hatte, erweichen lassen, als sie nämlich sagte, Seneca habe die Schwindsucht und werde ohnehin bald sterben. Eine umstrittene Notiz: Grimal 55ff. hält sie für authentisch, ebenso Abel 667; sehr viel skeptischer Griffin 53f. Es ist wahr, Gaius konnte Senecas Stilart nicht leiden, nannte sie „Sand ohne Bindemittel“ und „bloße Spielereien“43; und es ist auch wahr, daß Seneca nicht ganz gesund, daß er wenigstens lange Zeit krank gewesen war. Auch ist die Geschichte in sich psychologisch nicht schlecht: die Frau machte dem Gewaltherrscher (RE 10,399,55ff.) klar, daß er, der Starke, seine Macht nicht an Schwächlingen zeigen sollte: Schmeichelei und Besänftigung zugleich. Sachlich ist diese Rettung allerdings bedenklich: wie kann der Hinweis auf die tödliche Krankheit bei einem Manne überzeugen, der eben noch eine eindrucksvolle Rede gehalten hatte? Und die Umstände: wir wissen (§ 6,35), daß Seneca den Schwestern des Kaisers irgendwie nähergekommen war; wir wissen auch, daß der Kaiser diese Schwestern sehr schätzte, um nicht zu sagen: liebte, denn er ließ sie an seinen göttlichen Ehrungen teilhaben (RE 10,391,4ff.) – warum wurde er dann auf Seneca so wütend? Aus Eifersucht? Wie, wenn man die Geschichte nun aber ans Ende des Jahres setzte, also in eine Zeit, in der die Verschwörung gegen Gaius aufgedeckt und die Schwestern als involviert verbannt waren (RE 10,402,57ff.; Grimal 61)? Erklärt sich die maßlose Wut dann als Reaktion des Kaisers, der in dem gefeierten Redner neben dem Redner-Rivalen einen Mitwisser der Verschwörung vermutete? Oder war Seneca verdächtig, nicht weil er so gut redete, sondern als Freund der wegen angeblichen Verrats hingerichteten Gaetulicus (Griffin, Nero 71)? Wir wissen wieder einmal nichts Genaues.

§ 34 Sicherheit läßt sich nicht mehr gewinnen; nehmen wir die Geschichte als ein Stimmungsbild, als ein Bild der Lage, die dafür verantwortlich war, daß Seneca „aufhörte, plädieren zu wollen, zu können“ (s. § 33). Man könnte nun meinen, es seien äußerliche Gründe gewesen, die Seneca dem Gericht entfremdeten (Griffin 57); man könnte aber auch daran denken, daß er, der philosophisch Geschulte, in zunehmendem Maße die Karriere mit Distanziertheit betrachtete (§ 32 Ende; Helv. 5,4; 11,5). Und in diese Zeit fällt ja auch die Arbeit an der Trostschrift an Marcia (unten § 66ff.): die Vermutung entbehrt nicht der Wahrscheinlichkeit, daß Äußeres und Inneres zusammentrafen, um dem nun bald Vierzigjährigen das forensische und politische Getümmel suspekt werden zu lassen. Er wurde zwar Quaestor (Helv. 19,2; s. § 32), aber von Ämtern, die er davor44 oder danach bekleidete, hören wir nichts (§ 31, Anm. 40). Und warum er dann doch Quaestor werden wollte, darüber schweigen die Quellen – war er gezwungen oder von jemandem bewogen worden, den Schritt, den so späten Schritt, zu tun? Wir wissen es nicht.

§ 35 Am 24.1.41 war der Kaiser besonders guter Laune, er schaute den Ludi Palatini zu, es waren blutige Theaterszenen, an denen er sich weidete (RE 10,415,25ff.), bevor er zum Baden und zum Frühstücken ging. Er schritt durch einen überdachten Gang, und hier machten ihn die Mitglieder einer neuerlichen Verschwörung nieder. Die Mehrheit der Prätorianer rief Claudius zum Kaiser aus. Seneca gehörte nicht zum Verschwörerkreise, was man daraus schließen muß, daß er in ira 1,20,8f. über die Motive nicht genau Bescheid weiß. Die Frau des neuen Kaisers, Messalina, begann sehr bald damit, ihr unliebsame Personen aus dem Wege zu schaffen, und zwar „aus eindeutig rein persönlichen Beweggründen“ (RE 8 A, 249,56f.). So wurde Julia Livilla (s. § 5), inzwischen aus dem Exil (§ 33) wieder zurückgekehrt, noch im J. 41 von Messalina vor Gericht gebracht: sie habe Ehebruch getrieben. Sie war seit 33 mit M. Vinicius verheiratet (RE 9A, 117,15ff.; er starb 46, ein Opfer derselben Messalina); auf Ehebruch stand seit Augustus harte Strafe. Sie habe, so die Anklage, mit Seneca Ehebruch getrieben. Der Senat erkannte gegen ihn auf Todesstrafe, der neue Kaiser milderte zu einer Verbannung auf unbestimmte Zeit – hatte Agrippina, Livillas Schwester, geholfen (Griffin 52, Anm. 4; Nero, 71)? Tacitus (12,8,2) wußte etwas von einer „Wohltat“ Agrippinas aus der Zeit vor Senecas Ministerjahren – war es diese? Ehebruch mit Livilla: daß Seneca Zugang zum Palast gefunden, steht außer Zweifel; aber Ehebruch? Warum eigentlich nicht? Die Zeiten waren danach. Nur wissen wir es nicht. Er selbst nannte sich unschuldig (Helv. Kap. 8f.; Abel, Bauf. 48ff.; Griffin 60f.; Nero, 71: geneigt, ihm zu glauben)45; er wurde von der Anklage überrumpelt (Helv. 15,3), war unvorbereitet und darum wohl auch unschuldig. War Livilla unschuldig? Sie war sehr schön und ließ es Messalina gegenüber an Ehrerbietung mangeln (Cass. Dio 60,8,4ff.) – kein Wunder, sie war die Tochter des Germanicus, stand also der Enkelin der Octavia nicht nach. Doch war sie mit dem Kaiser Claudius oft allein zusammen (Cassius Dio a. O.), dies und ihre Schönheit ließen sie zur Rivalin der Kaiserin werden. So mußte sie fort, sie und der Vertraute. Der war gewiß nicht „einer der Führer der Senatsopposition“, wie Grimal 63 vermutete46; aber er war sicherlich Vertrauter mehr der Livilla als der Agrippina (diese blieb ja auch unbehelligt), die Anklage “may be false, but it was not idle” (Syme, Tacitus 536) – kurzum: aus irgendwelchen Gründen war Seneca ihr im Wege.

Wir kennen diese Gründe, wie gesagt, nicht; aber erneut wird eben hieraus deutlich, wie wenig der alte Seneca Wert darauf gelegt hat, sich später als unschuldig Verurteilten hinzustellen, nachträglich sich reinzuwaschen oder überhaupt sich des längeren mit dieser Zeit zu beschäftigen (vgl. dazu Griffin 54) – in nobler Überlegenheit meidet er kleinliches Nach- und Aufrechnen (s. § 2 Ende; 43).

§ 36 Am 23.2.41 geht Seneca nach Korsika, einer wüsten Insel. Seine Strafe ist vergleichsweise milde: die Relegation erlaubte ihm, Bürgerrecht und Eigentum zu behalten (Meinel 5). Dennoch bedeutete das Leben auf der häßlichen Insel (Helv. 6,5; 7,9; 9,1) den Abbruch eines begonnen Lebens in Ansehen und nicht ohne Erfolge; die Verbannung bedeutete auch den Verlust der Hauptstadt Rom, ohne deren Atmosphäre ein gebildeter, gewandter Mann nur sehr schwer leben konnte. Und daß er kein Liebhaber schöner Landschaft war (was Korsika doch wohl bieten konnte), zeigt sich eben an seinem Klagen über die Häßlichkeit dieser Insel. Seltsam, daß er nie von Freunden spricht – hatte er keine? Jedenfalls war er allein (Meinel 6f.; Griffin 62, Anm. 7). Rom, das große, schöne Rom (Helv. 6,3) – es war auf unbestimmte Zeit dahin.47 Dazu die Diffamierung, die auch heute Emigranten belastet,48 der Spott der bösen Zungen (Helv. 13,4). Wie ertrug er das alles? Nur sehr schwer am Anfang, völlig zerbrochen (perculsus: Helv. 15,2) war er, niedergeschlagen (Helv. 1,1); das war die erste Reaktion, sie war natürlich, immer wieder spricht Seneca von diesem ersten Stich, dem niemand entgehen kann (unten § 64). Dann aber begann die „Trauerarbeit“: er begann, an einer Trostschrift für die Mutter zu arbeiten, dafür Lektüre zu treiben (Meinel 13,25); er leidet lange, das bezeugt die Schrift ›Ad Polybium‹ (etwa aus dem dritten oder vierten Verbannungsjahr (Griffin, Nero 71; vgl. unten § 95,100); man hat ihm vorgeworfen, daß er in dieser Schrift dem Kaiser und seinem mächtigen Freigelassenen Polybius widerlich schmeichle: das Entsetzen über die vernichtete Zukunft ließ ihn in den Chor der Lobredner auf den Kaiser sich einreihen – nicht lauter, nicht serviler als der Ton bei Hofe es gebot. Auch pries er nur, was wirklich lobenswert war49; und an Polybius hebt er auch nur Hervorhebenswertes hervor, auch hier innerhalb des üblichen Vokabulars, das ein so Mächtiger erwarten durfte. Man muß nicht verlangen, daß Seneca ein Heiliger, ein Märtyrer habe sein müssen – er hat unsäglich gelitten. Allmählich fand er sich zurecht, beobachtete, hörte auf die dort gesprochene Sprache (Helv. 7,9), verkehrte wohl auch mit dort ansässigen Römern (ebd.) – wenn das ein Umgang war! Es waren quälende Jahre, ein “ordeal” (Griffin 62), zumal er ja nicht wußte, ob dies nun das Ende sei.

Wir wissen nicht, was er im einzelnen tat; er sprach später in seinen Schriften nicht mehr darüber. Aber als er dann zurückberufen wurde, da war er in der Lage, ohne aufzufallen, ohne viel von sich reden zu machen, mit klarem Denken und ohne gehässige Deklamation über vergangenes Unrecht ein Weltreich mitzulenken. Die acht Jahre der Verbannung, sie waren nicht umsonst gewesen. Wie er in Ägypten anscheinend an sich gearbeitet, sich zu einer Haltung der Distanziertheit dem Welt- und Karrieregetriebe gegenüber durchgearbeitet hatte, so arbeitete er sich jetzt zu einer gefaßten Haltung durch, die es ihm erlaubte, in schwierigster Zeit einen schwierigen Monarchen zu lenken – auch die zweite Lebenskrise muß ihn vieles gelehrt haben.

23 H. J. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum (11948; dtv 1977) 506, 510ff. Zur Deklamation (§ 20) S. Bonner, Education in Ancient Rome, 1977, 48ff., 58.

24 F. Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft (engl. 1946), 1961, 140; Marrou 531.

25 Zu bedenken ist, daß im 1. Jh. n. Chr. der Streit darüber, ob Redekunst oder Philosophie wichtiger sei, ja ob Philosophie überhaupt nötig sei – ein Streit, den schon Cicero kannte und zu schlichten versuchte: de inv. 1,1 (zitiert noch von Wilhelm v. Conches, Philosophia 1, § 1 meiner Ausg., Pretoria 1980, S. 17) – heftig war (E. Norden, Antike Kunstprosa 1, 71974, 250, Anm. 2).

26 Sen. ep. 98,13; Verf., Geschichte der röm. Philosophie § 105ff.

27 Die Begründung für den Vegetarianismus war nach Sextius, daß die Lust an „zerfetztem Fleisch“ grausam, Fleisch keineswegs nur gesund sei; Sotion verwies zusätzlich auf die Seelenwanderung: in einem geschlachteten Tiere könnte eine Seele gewesen sein, die nach einem höheren Seinsgrad strebte (ep. 108,17).

28 Wenn Grimal 176 sagt, Attalus habe seinen Gedanken über die Freundschaft im Gegensatz zu strengeren Lehren der Stoa eine „Gefühlskomponente“ beigegeben, Seneca dagegen habe dieses „Zugeständnis an das Gefühlsleben“ nicht gutgeheißen, so trifft das nicht zu: Seneca sagt lediglich, er empfinde beim Gedanken an verstorbene Freunde anders (ep. 63,7), nämlich ausschließlich Angenehmes: auch ihm war die Gefühlskomponente wichtig (s. auch ep. 9). Attalus’ Worte wird man so verstehen, daß er den Hörern klarmachte, eine wie große Freude das Sich-Näherkommen zusammen mit der wachsenden Bewußtwerdung auch seiner selbst bereite.

29 Auch hier kündigt sich eine barocke Ausdrucksweise an, vgl. den Stil Gallios bei Sen. pat. contr. 2,5,6; oben § 21.

30 Grimal referiert S. 176 die Ep. 72,8f. so, als gehöre hoc sapienti non evenit usw. noch zum Attalus-Zitat, was keineswegs sicher ist. Auch daß diese Worte auf eine „Entdeckung des Augenblicks“ hinausliefen, ist nicht gewiß: Seneca spricht von der ungerührten Serenität, nicht vom Carpe Diem (vgl. ep. 12,9).

31 Gegenstand dieser Worte ist keineswegs das „fleischliche Begehren“ (Grimal 176), sondern die Gier nach Geld und Reichtum (divitiae; S. 469, 15 Reyn., pecunia ebd. Z. 25).

32 Wenn Seneca seinen Attalus sagen läßt (ep. 110,19), „den Hunger beende der Hunger“, dann meinte er vielleicht, der Hunger höre oft von selber auf. Die Alternative wäre, daß er auf die Selbsttötung durch Speiseenthaltung angespielt habe als auf die letzte Stufe der Freiheit, die über das eigene Leben. Daß allerdings ein solcher Gedanke des Attalus „Eigentum“ sei, kann man angesichts der Parallelen (ep. 24,24; 26,8ff.) nicht gut behaupten.

33 Gemeint ist wohl die etruskische Blitzauslegung (n. q. 2, 50,1; zu ihr A. Pfiffig, Religio Etrusca, 1975, 36ff.). Ob Attalus sie mit der Auffassung des Posidonius (Reinhardt, RE 22,800, 16ff.) habe ausgleichen wollen (Grimal 175f.), ist zweifelhaft; nicht nur ist unser Wissen über Posidonius’ Mantik-Auffassung spärlich (die Fragmente bei Theiler Bd. 2, 1982,290/2), möglich ist auch, daß Attalus lediglich eine systematische Ordnung in die verwirrende Vielfalt etruskischer Kasuistik brachte.

34 Offenbar gibt Grimal (S. 2 m. Anm. 6; 178 Mitte) Z. 9f. auf S. 451 Reyn. dem Attalus (gegen Summers, Préchac, Reynolds), wohl irrtümlich.

35 Man wird den Einfluß Sotions auf Seneca (ep. 49,2) als geringer veranschlagen als den der Sextier und des Attalus (zu Sotion Griffin 37ff.). Er verfaßte eine Schrift über den Zorn (Stenzel, RE 3A, 1238, 52ff.; P. Rabbow, Antike Schriften zur Seelenheilung und Seelenleitung, 1914, 82ff.) – dachte Seneca an sie, als er ›De ira‹ verfaßte?

36 RE 2 A,2041, 7ff.; J. André, Pline l’Ancien, L. XX, 1965, 169 zu § 129,2.

37 Pohlenz, Stoa l,117f.; bei Seneca z.B. prov. 5,4 und 8.

38 Seltsam ist, wenn es denn richtig überliefert ist (Claud. Mamert. 2,8), daß Sextius in unstoischer Weise die Unkörperlichkeit der Seele lehrte. Das würde nicht nur die Unabhängigkeit von Schulmeinungen zeigen (Sen. ep. 64, 2), sondern wohl auch ein Gespür für die Schwierigkeiten der normal-stoischen Auffassung. Und natürlich kann dann die kosmische Ratio nicht körperlich sein, wenn es die menschliche nicht ist – näherte sich Sextius dem Platonismus?

39 E. Drewermann, Psychoanalyse und Moraltheologie, Bd.3, Mainz 1984, 43.

40 Hierzu Tac. 3,29,1; RE 24,809,1ff. und bes. H. Schaefer, RE 8A, 2581,1ff. Innerhalb dieser Gruppierung war das Amt der Tresviri Monetales das wichtigste (Schaefer 2583, 21ff.). Griffin 46 macht jedoch darauf aufmerksam, daß der Prinzeps die Senatszugehörigkeit verleihen konnte, ohne daß der Kandidat vorher alle nötigen Ämter bekleidet hätte; vgl. Ov. trist 4,10,29f.

41 Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Seneca „offensichtlich“ (Grimal 45) die „Gedenkstätten besucht und den Erzählungen der Priester gelauscht“ habe auf (nur angenommenen) Reisen durch Ägypten. Daß er später durch Chairemon, der sich in der Umgebung Neros aufhielt, Genaueres gehört haben mochte, sei nicht bestritten; doch in welcher Funktion Chairemon (kundig in Astrologie und ägyptischer Götterlehre: RE 3, 2026, 50ff.) bei Hofe weilte, ist unklar – als „Lehrer“ Neros nach Grimal; als ergötzender Disputant nach Griffin 64, die auf Neros Neigung zu philosophischen Schuldisputationen bei Tisch verweist (Tac. 14,16,2); aber daß ein hoher Priester (daß er mit „Charmander“ aus Sen. n. q. 7,5,3 identisch sei, ist eine der vielen Mutmaßungen Grimals, S. 45) Spaßmacher gewesen sein soll, scheint weniger wahrscheinlich, als daß man ihn berufen hätte, damit im Umgang mit dem nicht leicht zu handhabenden Ägypten ein Berater zur Verfügung stünde. – Daß Seneca in Alexandria Philo getroffen habe, leitet Grimal aus einer von ihm gespürten Gleichheit einer Stelle in einem senecanischen Brief und einer Passage bei Philo ab (Sen. ep. 94,2 und Philo, Vit. Mos. 2,51; 4,211 Cohn-Wendl., „beinahe in denselben Worten gefaßt“, S. 49 bei Grimal), doch sind die Stellen gar nicht zu vergleichen. Und die Sabbatregeln aus ep. 95,47 brauchen nicht „Jugenderinnerungen“, also Erinnerungen an Philo zu sein: derlei konnte man in Rom auch auf anderem Wege gehört haben. Aber Grimal glaubte, eine allgemeine Übereinstimmung zwischen Seneca und Philo „in wesentlichen Punkten“ ihres Philosophie-Begriffes zu erkennen (49): auch für Seneca sei die Philosophie „ein allumgreifendes Gedankensystem, dessen Quell- und Zielpunkt Gott ist“. Als Beleg für diese Auffassung wird ep. 95,10 in Anm. 106 zitiert; dort heißt es, Philosophie sei contemplativa et activa, sie betreibe nicht nur Irdisches, sondern altius spirat (zur Ausdrucksweise s. Enk zu Prop. 2,15,53; Verg. Aen. 7,510). Hieraus abzuleiten, für Seneca sei Gott „Quell- und Zielpunkt“ des Philosophierens, überfordert die Stelle, zumal Grimals einziger Beleg für eine persönliche Gottesauffassung Senecas prov. 2,9 ist, eine Stelle, an der man mit mehr Recht von einer bloß bildhaften Ausdrucksweise sprechen könnte. Diese Bemerkungen dienen nicht der Polemik um der Polemik willen, sondern dem Nachweis, wie oft Grimals überaus geist- und kenntnisreiche Mutmaßungen der philologisch sicherbaren Grundlage entbehren.

42 Wir wissen, daß der Präfekt von Ägypten, C. Galerius, bis 31 (allenfalls 32: RE 7,598,40) sein Amt ausübte. Wenn er Senecas Onkel war (RE a. O. 33, heute allgemein akzeptiert), dann war es dieser Mann, der auf der Überfahrt von Ägypten starb, dessen Leiche seine Frau, die Stiefschwester von Senecas Mutter, in einem Sturm mutig davor bewahrte, über Bord gespült zu werden. Und wenn dieser Bericht der eines Augenzeugen ist, dann kehrte Seneca 31 oder 32 (Griffin 43: eindeutig 31) nach Rom zurück. – Sejan fiel 31 n. Chr.; wenn Seneca erst kurz vor 41 Quaestor war (Griffin 253, Anm. 18), muß bei diesem Abwarten noch ein anderer Grund mitgespielt haben als nur das Abwarten, bis die Nachgewitter nach dem Sturz Sejans vorüber waren (dies die Erklärung von Griffin a.a.O.), wie ich vermute: persönliche.

43 Hierzu H. Mac L. Currie in Seneca als Philosoph, WdF 414, 215ff.; A. M. Bolkestein, Lampas 19, 1986, 299–308. Zum Ausdruck commissio Sen. ep. 84, 10.

44 Siehe Anm. 40. Grimal 54 nimmt an, Seneca habe nach der Quästur noch das Ädilenamt bekleidet – wir wissen nichts darüber. Daß er später im Range eines Prätors sein Amt als Prinzenerzieher antrat, muß nicht unausweichlich auf Ableistung der Ädilität verweisen: RE 22, 1601.

45 Pol. 13,3 (gegen Abels Ansicht in Bauf. 70ff., Kap. 13,4 enthalte ein Geständnis, zu Recht Griffin 61, Anm. 1; Atkinson, ANRW 32,2; 865).

46 Daß Seneca unvorbereitet von der Anklage getroffen wurde, wird man als Hinweis der „Unschuld“ betrachten, so Meinel 1.

47 Helv. 6,3 maxima et pulcherrima urbs; vgl. ep. 66,6 und Cic. post red. 2ff.; Ovid empfand ähnlich (O. Seel, Römertum und Latinität, 1964, 73).

48 E. Stern, Die Emigration als psychologisches Problem, Boulogne-sur-Seine im Selbstverlag 1937,15; S. 79 zu den „Typen“ von Emigranten: „Der wertvollste Typus ist sicher der, der an seinem Schicksal wächst und der zu einer wesentlich verinnerlichten Haltung kommt“, das tapfere Wort eines selber Betroffenen.

49 H. Dahlmann, Gnomon 13, 1937, 371. Ein kluges Wort über die „detractores Senecae“ bei Grimal 70: „Eine derartige Empörung beweist in erster Linie das Unvermögen, die wirklichen Bedingungen zu begreifen, unter denen die Darsteller im Drama der Weltgeschichte handeln.“

Seneca

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